E-Book, Deutsch, Band 2768, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-64677-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Das Buch behandelt einen vernachlässigten Aspekt der Geschichte Osteuropas und erinnert an archaische Lebensformen und proto-demokratische Herrschaftsweisen, die im modernen Europa keinen Platz mehr hatten.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Historische & Regionale Volkskunde
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Geschichte: Sachbuch
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch
;2
4;Über den Autor
;2
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;1. Wilde Räuber – Freiheitskämpfer? Klischees und Geschichtsbilder;7
8;2. Die Entstehung des Kosakentums;11
8.1;Der Lebensraum: Die Flüsse an der Steppengrenze;12
8.2;Die ersten Gemeinschaften freier Kosaken;14
8.3;Auseinandersetzungen mit Tataren und Osmanen;19
8.4;Dienst- und Registerkosaken;21
8.5;Ermak und die Eroberung Sibiriens;24
9;3. Das Goldene Zeitalter der Dnjeprkosaken;27
9.1;Der Volksaufstand unter Führung von Bohdan Chmel'nyc'kyj;28
9.2;Das Hetmanat der Dnjeprkosaken;32
9.3;Hetman Mazepa und Zar Peter;35
9.4;Eingliederung des Hetmanats in das Russländische Imperium;36
10;4. Die Donkosaken und die Volksaufstände im 17. und 18. Jahrhundert;40
10.1;Freiräume der Donkosaken im 17. Jahrhundert;40
10.2;Der «edle Räuber» Stenka Razin;41
10.3;Der Bulavin-Aufstand und die Integration der Donkosaken;44
10.4;Die Terek- und Jaikkosaken;46
10.5;Die letzte Rebellion: Der Volksaufstand unter Führung von Emeljan Pugacev;48
10.6;Das Ende der freien Kosaken;51
11;5. Loyale Diener der Zaren: Die Kosakenheere des 19. und frühen 20. Jahrhunderts;53
11.1;Elf Kosakenheere vom Don bis an den Ussuri;55
11.2;Eingliederung in das imperiale Russland;57
11.3;Wirtschaftliche Probleme;61
11.4;In den Kriegen Russlands;62
11.5;Schergen der Autokratie: Die Kosaken als Polizeitruppe;63
11.6;In der Revolution von 1917;64
12;6. Akteure und Opfer: Die Kosaken in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts;67
12.1;Wiederbelebung kosakischer Symbole in der Ukraine in den Jahren 1917–1920;68
12.2;Die Kosaken im russischen Bürgerkrieg;71
12.3;«Entkosakisierung»: Der sowjetische Massenterror;78
12.4;Kosaken in der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg;82
13;7. Renaissance des Kosakentums nach dem Ende der Sowjetunion?;87
14;8. Übergreifende Fragen;91
14.1;Kosakenfrauen;91
14.2;Eine kosakische Nation?;95
14.3;Fakten und Mythen;98
14.4;Grenzergemeinschaften im Vergleich;107
14.5;Nachwort;112
14.6;Zeittafel;117
14.7;Literaturhinweise;119
14.8;Karten und Abbildungen;120
14.9;Register;121
2. Die Entstehung des Kosakentums
Die Kosakentum entstand im 15. und 16. Jahrhundert im Süden der heutigen Staaten Russland und Ukraine, in der Grenzzone zwischen den von Ostslawen besiedelten Ackerbaugebieten und der Grassteppe im Norden des Schwarzen und Kaspischen Meeres. Der sich von Innerasien bis zur Donaumündung erstreckende Steppengürtel war seit der Antike der Weg, auf dem innerasiatische Reiternomaden, von den Hunnen bis zu den Mongolen, nach Europa wanderten. Sie blieben bis zum 18. Jahrhundert die Herren der Steppe, denen die sesshaften Mächte militärisch nicht gewachsen waren. Seit die Goldene Horde, ein Teilreich des mongolischen Imperiums, unter dessen Herrschaft das heutige europäische Russland seit dem Jahr 1237 stand, im 15. Jahrhundert zerfiel, kontrollierte eines ihrer Nachfolgereiche, das Chanat der Krimtataren, die nordpontische Steppe. An der unteren Wolga wurden die Nogai-Tataren zur bestimmenden Kraft. Die turksprachigen muslimischen Krimtataren wurden zu Vasallen des Osmanischen Reiches, das seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Küsten des Schwarzen Meers kontrollierte. Seit dem späten 15. Jahrhundert waren auch das Moskauer Reich und das Königreich Polen-Litauen regionale Großmächte. Die Steppengrenze wurde zum Raum, an dem sich Russland, Polen-Litauen und das Osmanische Reich begegneten. Die Krim- und Nogaitataren unternahmen regelmäßig Raubzüge in die steppennahen Gebiete des Moskauer Staates und der zu Polen-Litauen gehörenden Ukraine, raubten Vieh und Pferde, verwüsteten Siedlungen, trieben Teile der Bevölkerung weg und verkauften sie den Osmanen und Persern als Sklaven. Der Schutz der Südgrenzen, der Ukraïna, und der hinter ihnen siedelnden Ackerbauern und Viehzüchter war eine der Hauptaufgaben des Moskauer und des polnisch-litauischen Staates im 15. bis 18. Jahrhundert. Gleichzeitig war die Steppengrenze Schauplatz friedlicher kommerzieller und kultureller Interaktionen zwischen Sesshaften und Nomaden. Der Lebensraum: Die Flüsse an der Steppengrenze
Die Kosaken waren von ihrem Lebensraum an der Steppengrenze geprägt. Die ersten Kosaken ließen sich in den Flusswäldern an den Unterläufen von Dnjepr (ukr. Dnipro), Don, Wolga und Jaik (heute Ural), die Schutz vor den tatarischen Reitern boten, nieder. Die Terekkosaken und die benachbarten Greben-Kosaken (die ich im Folgenden vereinfachend gemeinsam als Terekkosaken bezeichne), lebten dagegen auf dem der Steppe zugewandten Ufer des Flusses und standen den Tschetschenen jenseits des Flusses gegenüber. Die frühen Kosaken betrieben Fisch- und Biberfang, Jagd und Bienenzucht, erst später auch Viehwirtschaft. Eine wichtige Einnahmequelle war die Beute aus Raub- und Kriegszügen. Ihr wichtigstes Fortbewegungsmittel war zunächst nicht das Pferd – zu Pferd waren die tatarischen Reiter weit überlegen –, sondern das Boot. Ihr primärer Lebensbereich war also nicht die Steppe, das unwegsame «wilde Feld», sondern der Fluss. Die Furten, an denen die Tataren mit ihren Pferden die Flüsse überqueren mussten, boten den Kosaken gute Gelegenheiten für räuberische Überfälle. Sie waren geschickte Bootsfahrer nicht nur auf den Flüssen, sondern bald auch auf dem Schwarzen und Kaspischen Meer. Nicht umsonst sind alle traditionellen Gruppen von Kosaken nach Flüssen benannt: Dnjepr-Kosaken (oder nach den Dnjepr-Stromschnellen: Zaporožer Kosaken), Don-Kosaken, Wolga-Kosaken, Jaik-Kosaken, Terek-Kosaken. Der Begriff ‹Kosak› (qazaq) ist turksprachigen Ursprungs und bezeichnete ursprünglich einen freien Krieger, dann spezieller einen Abenteurer, Plünderer oder Wächter. Auf dieselbe Wurzel geht übrigens auch der Volksname der Kasachen zurück. Die ersten Kosaken, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in genuesischen, russischen und polnischen Quellen erwähnt werden, waren denn auch Tataren, die uns als militärische Dienstleute und als Steppenfreibeuter entgegentreten. Kleinere Gruppen muslimischer Kosaken, die sich aus ihren tatarischen Stammesverbänden gelöst hatten, wurden im Moskauer Staat als Grenzwächter, Hilfstruppen und diplomatische Kuriere eingesetzt. Die ersten ostslawischen Kosaken sind seit Ende des 15. Jahrhunderts in den Quellen bezeugt. Spekulative Theorien über ältere autochthone Wurzeln des Kosakentums lasse ich außer Acht. Schon bald überwogen unter den Kosaken orthodoxe Russen und Ukrainer. Dabei handelte es sich nur zu einem kleinen Teil um assimilierte Tataren, die Mehrzahl waren ehemalige Bauern, die sich dem zunehmenden Druck vonseiten des Adels und des Staates durch die Flucht an die Steppengrenze entzogen. Der Begriff Kosaken bezog sich in erster Linie auf eine Lebensweise und auf spezifische Funktionen und nicht auf eine sprachliche oder religiöse Gruppe. Er wurde zusammen mit äußeren Kennzeichen und Begriffen wie Ataman (für den Anführer), Jesaul (für einen Offzier), kuren’ (befestigtes Lager, später Hof), bulava (Amtsstab) und buncuk (Banner) von den Tataren oder anderen orientalischen Völkern auf die Ostslawen übertragen. Obwohl fortan die weit überwiegende Mehrheit der Kosaken orthodoxe Ostslawen waren, blieb die ethnische und soziale Zusammensetzung der Kosakenverbände heterogen und ihre Kultur hybrid: Neben Russen und Ukrainern gab es Tataren, Polen, Rumänen, Serben, Kaukasier und sogar einzelne Deutsche und Juden. Unter den Kosaken waren Kenntnisse des Tatarischen oder anderer Turksprachen verbreitet. Besonders bunt war die Zusammensetzung der Terekkosaken, unter denen Tschetschenen, Tscherkessen, Osseten und andere nordkaukasische Ethnien, dazu Georgier und Armenier vertreten waren. Neben entlaufenen Bauern stießen Stadtbewohner, Soldaten, Kriminelle und Abenteurer unterschiedlicher Herkunft zu den Kosaken, bei den Dnjeprkosaken auch Stadtbewohner und Adlige. Im Unterschied zu den Donkosaken blieben viele Dnjeprkosaken in ständiger Verbindung mit den Städten und Dörfern nördlich der Steppengrenze. Diese dienten manchen Kosaken, die sich nur im Sommer ihren Gewerben am Steppenrand widmeten, als Winterquartiere. Der Übergang von den südlichen Grenzregionen Polen-Litauens zu den von Kosaken kontrollierten Gebieten blieb auch später fließend. Die ersten Gemeinschaften freier Kosaken
In den Uferwäldern oder auf Inseln der Flüsse Dnjepr, Don und Wolga, seit dem späten 16. Jahrhundert auch an Terek und Jaik, errichteten freie Kosaken befestigte Lager. Zunächst bildeten sie kleine Personenverbände, die Jagd, Fallenstellen, Fischfang, Grenzdienst und Raubzüge organisierten; man kann sie als Bruderschaften charakterisieren. Manche errichteten nur Sommerlager und zogen sich im Winter flussaufwärts zurück. Seit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Massenflucht an die Steppengrenze einsetzte, schlossen sich Kosaken zu größeren Verbänden, zu Kosakenheeren zusammen. Schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts gab der ostslawische Fürst Dmytro Vyšnevec’kyj, der abwechselnd in polnisch-litauischen und Moskauer Diensten stand, bevor er in osmanischer Gefangenschaft starb, den Dnjeprkosaken vorübergehend eine festere Organisation mit einem Zentrum auf der Dnjepr-Insel Chortycja. Dieser Stützpunkt (Sic), der bald von den Tataren zerstört und später auf unterschiedlichen Inseln neu errichtet wurde, lag unterhalb (hinter) der Dnjepr-Stromschnellen (ukr. porohy, russ. porogi, za bedeutet ‹hinter›). Davon kommt die Bezeichnung der ukrainischen Kosaken als Zaporožer Kosaken; ihr Zentrum hieß dementsprechend Zaporožer Sic. Gleichzeitig formierte sich am unteren Don, nahe seiner Mündung in das Azovsche Meer, das «All-Große Don-Heer» mit dem ebenfalls auf einer Insel gelegenen Cerkassk als Zentrum. Die militärischen Grenzergemeinschaften der Kosaken, die zunächst nur aus Männern bestanden, gaben sich eine spezifische egalitäre Ordnung. Oberstes Entscheidungsgremium war die Versammlung aller Kosaken, der Ring (kolo, krug) oder Rat (rada), der die Offiziere und den obersten Anführer des Kosakenheeres, den Hetman oder Ataman, wählte, Gericht hielt und andere wichtige Entscheidungen traf. Der gewählte Führer erhielt weitgehende Kompetenzen, ihm schuldeten alle Kosaken Gehorsam, doch konnte er abgewählt werden. Für Feldzüge wurden eigene Atamane gewählt, die nach ihrer Rückkehr zurücktreten mussten. Die politische Organisation der Kosaken zeigt eine eigentümliche Mischung aus militärischer Disziplin, egalitärer Verfassung und anarchischen Elementen. Die frühen Kosaken nannten sich «freie Leute» (vol’nye ljudi), und die Freiheit blieb für das Selbstverständnis und die Fremdwahrnehmung der Kosaken zentral. Im russischen und ukrainischen Begriff volja ist die für die Kosaken kennzeichnende Ambivalenz von Freiheit und Ungebundenheit auf der einen und Zügellosigkeit und Anarchie auf der anderen Seite enthalten. Abb. 3 Ring der Kosaken in der Zaporožer Sic (nach einer Zeichnung des 18. Jahrhunderts) Wir sind über die frühen Dnjeprkosaken besser informiert als über die...