Kappacher | Silberpfeile | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Kappacher Silberpfeile

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-552-06314-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-552-06314-3
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein junger Journalist für Motorsport entdeckt während einer Italienreise ein Museum über den Rennfahrer Tazzio Nuvolari und beschließt, ein Buch über die deutschen Silberpfeile der dreißiger Jahre zu schreiben. Auf den Fotos taucht immer wieder der Name eines österreichischen Ingenieurs auf: Paul Windisch. Seine Recherchen führen den Ich-Erzähler in ein Seniorenheim in Salzburg, wo der fünfundachtzigjährige Paul Windisch seit einigen Monaten lebt. Dieser wünscht sich, noch einmal in seinem eigenen Haus einen richtigen Kaffee zu trinken. Dort erinnert sich der Chefingenieur an seine Arbeit bei der Auto-Union, die Weltrekordversuche und die letzte Fahrt von Bernd Rosemeyer, einem der berühmtesten Rennfahrer der Vorkriegsjahre.
Schließlich erzählt Windisch, wie er von der Automobilindustrie in das kriegsentscheidende Werk Schlier geriet, das neben einem Konzentrationslager in der Nachbarschaft der Brauerei Zipf lag. In unterirdischen Stollen wurden V2-Raketen entwickelt, bis eine Explosion 1944 die Versuchsreihen stoppte...
Während seiner unsentimental und unbeteiligt geschilderten Reise in die Vergangenheit wird klar, daß der Konstrukteur seine Rolle in der Kriegsindustrie ebenso zu verdrängen versucht wie die Bewohner des Orts. Doch auch für den Journalisten bleibt dieser Ausflug nicht ohne Folgen...

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    Samstag, 31. Mai   Verweht die Glockenschläge der Eggelsberger Kirche. Auch heute hat Mitsuko nicht angerufen. Ich war am Schreibtisch – dem kleinen alten Küchentisch aus dem Haus meiner Eltern – eingeschlafen. Große und kleine Notizblöcke, darauf Fragen notiert, die ich dem Ingenieur stellen wollte, und Notizen zu notwendigen Recherchen für das geplante Buchprojekt über die Silberpfeile. An den Rand geschoben Car Graphic, eine japanische Zeitschrift, auf dem Umschlag ein roter Sportwagen, über dessen Motorhaube sich eine junge Frau in einem schwarzen Lederbikini beugt, sich mit beiden Armen abstützend. Daneben die Anleitung für die Waschmaschine, die ich demnächst in Betrieb nehmen muß. Zwei Wochen hat Mitsuko – Mitsi, wie ich sie manchmal nenne – wegbleiben wollen. Seit sie vor beinahe vier Wochen nach Portland, ihre Heimat, abgereist ist, habe ich hier im Haus nicht mehr saubergemacht. Überall auf den Holzböden die Staubflocken. Dazu fällt mir immer wieder ein, wie sie einige Tage vor ihrem Abflug in die Vereinigten Staaten mit umgebundenem Mund- und Nasenschutz Staub gesaugt hatte. Im Radio war verlautbart worden, so solle man es machen, es war die Zeit nach dem Reaktor-Störfall von Tschernobyl. Seit ein paar Tagen ziehe ich die Schuhe nicht mehr aus, wenn ich das Haus betrete. Wie sie sich hatte aufregen können, als ich in den ersten Tagen, nachdem ich hier eingezogen war, vergessen hatte, sie auf der schmalen Veranda, die rund ums Haus führt, stehenzulassen, oder wenn ich während ihrer Abwesenheit eine Zigarette rauchte. Ihr zuliebe – ihrer empfindlichen Nase – hatte ich mir schließlich das Rauchen ganz abgewöhnt; gestern jedoch, als ich abends auf der Veranda stand, hätte ich geraucht, wenn Zigaretten im Haus gewesen wären Die Euphorie über den – wenn auch nicht gerade erfolgreichen – Besuch beim Ingenieur Windisch am Nachmittag in dem Seniorenheim am Stadtrand von Salzburg hat sich in den letzten Stunden, seit ich wieder zu Hause in Eggelsberg bin, nach und nach verflüchtigt. Morgen ist ein wichtiger Tag, dachte ich, Zeit, mich ins Bett zu legen, ich muß ausgeschlafen sein.   »Eines Tages«, hatte Windisch im Café des Seniorenheimes gesagt, das war jetzt schon wieder acht Stunden her, »werden Sie vielleicht in der Zeitung lesen, daß der in den dreißiger Jahren bekannt gewesene Renningenieur der Auto Union, Paul Windisch, gestorben ist. Dann werden Sie sich an mich erinnern. Vielleicht schreibt die eine oder andere Zeitung etwas über meine Patente, zum Beispiel jenes für einen Vier-Ventil-Zylinderkopf (er hatte wieder in seine Serviette gehustet) mit kreuzweise gegenüberliegenden Ventilen. Ich weiß allerdings nicht, ob der Verwalter hier die Daten, die ich auf einem Blatt notiert, in einen Umschlag gesteckt und mit einem entsprechenden Hinweis versehen habe, weitergeben wird. Manchmal habe ich den Eindruck, ich gelte als Querulant, weil ich nicht wie die meisten Insassen den Mund halte, die Mängel in der Pflegeabteilung, den manchmal rüden Ton der Schwestern und Pfleger nicht als etwas Unabänderliches hinnehme …« Auf der Heimfahrt, während ich in dem sich immer wieder stauenden Verkehr die Innenstadt durchquerte, hörte ich aus dem Radio ein Concerto von Händel; mit der rechten Hand trommelte ich den Takt aufs Lenkrad. Schon lange war ich nicht mehr so vergnügt gewesen, obwohl es mich immer noch ekelte, wenn ich an die Pflegeabteilung des Heims dachte. Zu Hause hatte ich mir als erstes die Hände gründlich gewaschen. Es war in den zweieinhalb Stunden in dem Café des Heimes, später auf einer Bank in der Parkanlage, zu keinem Interview mit Windisch gekommen, aber morgen werde ich ihn abholen zu einem Ausflug. Gleich nachdem ich heimkam, läutete das Telefon. Endlich, dachte ich, Mitsi! Aber noch bevor ich die Kommode im Vorzimmer erreichte und den Hörer abnahm, wurde mir klar, es war jetzt drei Uhr früh in Oregon (langsam rechnete ich automatisch die Zeit um, so wie auf meinen Grand-Prix-Reisen die verschiedenen Valuten). Es war mein Freund Max Viehböck, der Herausgeber der Rennsport-Woche. Ich hatte ihm noch nicht erzählt, was los war mit Mitsuko, insgeheim fürchtete ich, in ihm unangenehme Erinnerungen an seine Hochzeitsreise nach Apulien zu wecken, auf der seine Frau Silvia sich in der zweiten Woche mit einem Kellner einließ, aus dem Hotel auszog und erst vier Wochen später wieder heimkam. Ich traute mich nicht, Max nach dem letzten Stand der Angelegenheit zu fragen. Mitsuko schrieb nicht, rief nicht an, und vor zehn Tagen ungefähr begann ich zu zweifeln, ob sie überhaupt wieder nach Österreich zurückkehren würde. »Wie war es?« fragte Max. »In welchem Zustand befindet sich der Alte? Hat es sich gelohnt?« »Eiskalt war seine Hand«, sagte ich, »wie wenn du eine Bierflasche aus dem Kühlschrank angreifst.« Irgendwo zwischen Oberndorf und Lamprechtshausen war mir auf der Rückfahrt klargeworden, daß ich nichts heimbrachte, keine brauchbaren Notizen, kein Tonband. »Egal, dann laß es, mach wieder Grand-Prix-Reportagen«, meinte Max, »vom Novak werden wir uns trennen, es geht nicht mit ihm, die Leute beschweren sich in Leserbriefen. Was ist mit den Nachrufen?« Ich gebe nicht auf, dachte ich, als das Gespräch beendet war, ich werde die Redaktion bitten, den Termin für die erste Lieferung der Nachrufe über noch lebende berühmte Rennfahrer zu verschieben, ich brauche dazu mehr Zeit. Ohne Mitsukos Klagen, ich sei immer unterwegs, vor allem an den Wochenenden, hätte ich vorläufig nicht daran gedacht, mit den Reportagen aufzuhören. Die Notizen zu den Nachrufen lagen auf dem Schreibtisch. Anhand der Bände von Motorsportjahr 1984 und 1985 hatte ich mir eine Liste mit allen Rennfahrern angelegt. Max hatte vorgeschlagen, einmal mit fünf Fahrern zu beginnen; den Niki Lauda wolle er sich vorbehalten. Ich müßte auch jene Rennfahrer berücksichtigen, die bereits abgetreten seien, sie könnten, wie Mike Hawthorn bei einem Auto- oder (wer war das bloß, Carlos Pace?) bei einem Flugzeugunfall ums Leben kommen.   Schräg von vorne der Blick auf die vier weißglänzenden, in einer Reihe aufgestellten Rennwagen (zwei von Mercedes-Benz, zwei von der Auto Union). Weiß die Rennmonturen der vier neben ihren Wagen stehenden Rennfahrer. Das obere Drittel des Bildes wird eingenommen vom Erdgeschoß einer Gebäudefassade, an der sich ein schmaler Gehsteig hinzieht. Mehrere geschlossene Fenster, schwarze Rechtecke, oben abgeschnitten vom Bildrand, zwischen diesen Fenstern eine dunkel und düster wirkende Türöffnung, in der sich mehrere Männer, darunter Polizisten, drängen, als suchten sie Schutz vor dem Regen. Tatsächlich scheint die Asphaltdecke des Hofes regennaß zu glänzen, die Frontpartien der hinteren Wagen (jene der Auto Union) spiegeln sich hell auf dem dunklen Asphalt oder Beton. Grau scheinen die Monturen der neben den rechten Hinterrädern stehenden Mechaniker (Chefmonteure, sagte Windisch), grau die Fassade des Gebäudes im Hintergrund. (Es ist der Eröffnungstag der Automobil-Ausstellung, Februar 1937.) Schwarz die Helme der SS-Männer am unteren Bildrand, schwarz ihre Uniformen; man sieht nur die Helme, auf denen sich schwaches Licht spiegelt, und die Schultern, von oben aufgenommen, vielleicht von der Ladefläche eines Lastwagens oder vom Dach einer Grünen Minna. In der Bildmitte – dem Bildbetrachter die Rücken zugewandt – eine Gruppe von mehreren Polizisten, dunkle Mäntel, Schulterriemen, schwarze Stiefel. An vorderster Position steht der Führer, der sich mit einem Mann in dunklem Mantel unterhält. Die letzten beiden Polizisten bewegen sich noch auf ihn zu (sie wirken, als schritten sie zu einer Verhaftung). Hitler scheint auch mit dem Fahrer des Rennwagens (Rudolf Caracciola) zu sprechen, der neben dem rechten Vorderrad postiert ist. Am Wagen Caracciolas ist die seitlich neben dem Fahrersitz aufgemalte Startnummer eins zu sehen, während der vorderste Wagen, im Bild links unten (als Fahrer ist Manfred von Brauchitsch zu erkennen), die Nummer zwei trägt. Brauchitsch steht in Habtachtstellung, der Mechaniker hinter ihm ebenfalls. Der Mechaniker Caracciolas hat, wie die Mechaniker am Heck der Auto-Union-Rennwagen, wie die beiden Rennfahrer (zu erkennen sind Bernd Rosemeyer und, ganz rechts im Hintergrund, Hans Stuck), den rechten Arm zum deutschen Gruß ausgestreckt, wobei auffällt, daß Rosemeyer den Arm bloß halbhoch und etwas angewinkelt hält; beinahe sieht es aus, als trage er den Arm in einer Schlinge. Caracciola hat als einziger Rennfahrer den Arm bereits sinken lassen, sein Blick ist dem Führer zugewandt. Alle Rennfahrer und Mechaniker blicken gebannt zu der Gruppe um Hitler. Das Foto aus dem Katalog des Tazio-Nuvolari-Museums in Mantua hat etwas, das mich immer wieder beschäftigt. Ich kannte es bereits aus einem Buch aus dem Bücherschrank meines Vaters; er hat die Biografie Bernd Rosemeyers von seinem Vater geerbt. Wärst du hier, Mitsuko, dachte ich, könnten wir diesen Katalog noch einmal miteinander anschauen. Ich habe immer bewundert, was du alles herausgelesen hast bei Fotografien, Gemälden oder einer Werbegrafik in einem Magazin. Von Joshi, deinem jüngeren Lieblingsbruder, der Fotograf bei einer Presseagentur in Seattle ist, kannst du das nicht gelernt haben, du bist mit siebzehn oder achtzehn Jahren nach Europa gekommen. Meistens hast du, wenn du eine Fotografie betrachtet hast, auch etwas über denjenigen zu sagen gewußt, der auf keinem Foto (außer einem Spiegelbild) zu sehen ist, den Fotografen. Aber dieser Katalog des Rennfahrer-Museums hat dich nicht interessiert, fällt mir ein, vielleicht wolltest du dich nicht...


Kappacher, Walter
Walter Kappacher, geboren 1938 in Salzburg, verließ mit 15 Jahren die Schule und war in verschiedenen Berufen tätig, 1964 Beginn der literarischen Tätigkeit, seit 1967 Veröffentlichungen, seit 1978 freiberuflicher Schriftsteller. Lebt in Obertrum bei Salzburg. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, Hermann-Lenz-Preis 2004, Georg-Büchner-Preis 2009. Bei Deuticke erschienen zuletzt Selina (2005), Der lange Brief (überarbeitete Neuauflage 2007) und Rosina (Erzählung, Neuauflage 2010).



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