E-Book, Deutsch, Band 01, 176 Seiten
Reihe: Schwabe reflexe
Essays zur Wissenschaftskultur
E-Book, Deutsch, Band 01, 176 Seiten
Reihe: Schwabe reflexe
ISBN: 978-3-7965-2647-3
Verlag: Schwabe Basel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Popularisierung von Expertenwissen – dieses altehrwürdige aufklärerische Anliegen hat sich unter den aktuellen wirtschaftlichen, medialen und kulturellen Bedingungen grundlegend gewandelt. Auf der einen Seite machen die (Natur-)Wissenschaften, beflügelt von ihren Erfolgen, der Religion deren traditionelles Hoheitsgebiet von Welterklärung und Sinnstiftung streitig, auf der anderen Seite siedeln sie sich aber auch immer mehr im Bereich der Unterhaltungsindustrie an und werden zusehends zu einer Art 'Pop Science'. Wissen allein genügt heute nicht mehr, man muss damit vor allem Aufsehen erregen, es publikumswirksam in Szene setzen. Aufmerksamkeit ist das kapitale Gut, die gefragte Ware, die universelle Währung. Im alltäglichen Kampf um Aufmerksamkeit kann auch die Forschung nicht darauf verzichten, ihre Ansprüche vermehrt mediengerecht hochzuschrauben. Die hier versammelten Texte lassen sich durchaus selbst als Stücke der Pop Science lesen, insofern auch sie sich auf der Spielwiese zwischen Wissenschaft und Alltag tummeln. Aber sie sind gleichsam Pop Science mit Spassverderbercharakter. Sie kühlen die Exaltationen des gegenwärtigen Wissenschafts- und Technikbetriebes auf Normaltemperatur, das heisst auf ein menschliches Mass, herunter. Es geht in den vorliegenden Essays also wörtlich um Versuche, dieses Mass in all den menschenflüchtigen Horizonten aufzuspüren, die sich heute in Technik, Wissenschaft, Medizin und Wirtschaft aufspannen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften
- Geisteswissenschaften Philosophie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsphilosophie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Wissenschaften: Theorie, Epistemologie, Methodik
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
Weitere Infos & Material
Prolog: Little Science, Big Science, Pop Science Quizmaster: «Warum sind die Tage im Sommer länger als im Winter?» Kandidat: «Hitze dehnt aus, Kälte zieht zusammen.» Der amerikanische Atomphysiker Alvin Weinberg prägte 1961 den Begriff der Big Science, der Großforschung.1 Er wies damit auf eine neue, industrialisierte Form der Wissensproduktion hin, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – seit der Entwicklung der Atombombe im Manhattan-Projekt – Bahn gebrochen hat. Das Wort weckt Assoziationen mit Großkonzernen – Big Business –, und in der Tat kann man in ihm eine durchaus treffende Charakterisierung des heutigen wissenschaftlichen Unternehmertums sehen, das alles bisherige Forschen in den Schatten eines gewandelten Selbstbildes des Wissenschaftlers stellt. Die schieren Zahlenverhältnisse sprechen für sich. Der Großforschungscharakter zeigt sich allein schon an der Massierung der Wissenschaftler in der Gegenwart. Wie der Historiker Derek John de Solla Price 1963 in seinem schmalen, aber einflussreichen Bändchen mit dem Titel Little Science, Big Science schrieb, «leben 80–90% aller Wissenschaftler, die je gelebt haben, heute […]. Jeder junge Wissenschaftler, der heute beginnt und am Ende seiner Laufbahn auf eine normale Lebensphase zurückblicken kann, wird sehen, dass von allen bis dahin geleisteten Arbeiten 80–95% vor seinen eigenen Augen durchgeführt wurden.»2 Little Science – das war die Ära der in Gelehrtenstuben, Werkstätten oder Kellergewölben laborierenden faustischen Einzelgänger. Ein dunkel-romantischer Hauch umgibt sie bis heute, auch wenn die Big Science längst dem rationalen Regime des Forschungsmanagements, der Organisationsstrukturen, der international vernetzten Projekte und betriebsökonomischen Kalküle zu gehorchen begonnen hat. Der moderne Großkomplex Forschung ist nun seinerseits seit einiger Zeit in eine andere Ära eingetreten und hat darin Züge angenommen, die meiner Meinung nach ein neues Epitheton rechtfertigen. Ich nenne sie die Ära der Pop Science.3 Von der Popularisierung zum Pop Pop Science ist nicht Populärwissenschaft, obwohl sie natürlich deren Tradition entstammt. Und man kann in ihr durchaus Elemente finden, die die populärwissenschaftliche Literatur immer schon ausgezeichnet haben: Belehrung, Bildung, Unterhaltung. Bereits Galileis in der «Vulgärsprache» Italienisch geschriebenen Dialoge sind eine Mischung aus diesen Bestandteilen. Bernard de Fontenelle publizierte 1686 mit den Entretiens sur la pluralité des mondes den ersten Bestseller des neuen Wissens. Im 18. Jahrhundert popularisierte der «Damenphilosoph» Francesco Algarotti Newtons Mechanik und Optik, ebenfalls in Form von Dialogen. Il Newtonianismo per le dame hieß sein Buch, das den Salons der europäischen Damenwelt die Geheimnisse der neuen Naturphilosophie nahezubringen suchte. Es wurde berühmt und vielfach übersetzt. Populärwissenschaft hat in den westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung mit ihrer Idee der Selbstbestimmung des Menschen, der Emanzipation des Bürgertums und der Demokratisierung des Wissens ihre hohe zivilisatorische Stellung als Bildungswert erhalten und auch behalten. Das Genre der populärwissenschaftlichen Literatur entwickelte sich im 19. Jahrhundert, angefangen etwa mit Alexander von Humboldts Kosmos-Bänden, berühmt geworden durch Jules Vernes Romane, den europäischen Markt geradezu explosionsartig erobernd seit der Londoner Weltausstellung 1851 mit ihrem «Fest des Fortschritts». Pop Science ist eine Mixtur aus solch «volkspädagogischer» Tradition und moderner Popkultur, wie wir sie von Kunst und Musik her kennen. Von «Edutainment» oder gar «Sciencetainment» ist jetzt die Rede. Und in solchen Wortschöpfungen deutet sich auch schon das an, was ich als zeittypisch an der Pop Science betrachte: eine Gewichtsverschiebung von der Aufklärung zur Unterhaltung. Nicht dass die beiden sich notwendig ausschlössen. Im Gegenteil: Lernen und Lachen sind eine wunderbare Kombination! Wer erinnert sich nicht an das fröhliche Gelächter über diesen oder jenen gelungenen Witz oder misslungenen Versuch des Chemielehrers. Oder man denke an die legendären Vorlesungen Richard Feynmans, dieses genialen Physikkaspers, bei dem sich Didaktik stets mit Komik paarte. Ohnehin wird vornehmlich im angelsächsischen Sprachraum ein «Ethos der Verständlichkeit» gepflegt, das keine Berührungsängste mit Showelementen kennt. Es nimmt den Wissenschaftler geradezu in die Stilpflicht, die eigene Arbeit klar und unterhaltend einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Ein Organ wie Scientific American legt ein hervorragendes Zeugnis diese Kunst ab. Das eigentlich Neuartige sind die gewandelten kulturell-ökonomisch-technischen Bedingungen, die die herkömmlichen Elemente der Popularisierung auf die Spitze treiben. Die Forschung eilt voraus ins Unbekannte, und wir Laien können – selbst wenn wir uns bemühen – kaum Schritt halten. «Wir sind auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft», sagte Reinhard Breuer, Chefredaktor von Spektrum der Wissenschaft, schon vor einiger Zeit in einem Interview, «und wir haben nicht die Mittel, dieses Wissen in die Gesellschaft zu integrieren. Daher entwickeln sich Alltags- und Wissenschaftswelt zunehmend auseinander. Es entsteht eine wachsende Kommunikationskluft, die nur mit allergrößter Mühe zu überbrücken sein wird.» Aber auch wenn sie nicht zu überbrücken ist, so nistet sich in dieser Kluft heute ein Markt ein, der mit dem Anschein einer beliebigen Herstellbarkeit von Verständnis Handel treibt. Zwischen Alltagswelt und Wissenschaftswelt entstehen Umschlagplätze von Science in Pop, wo wir so tun, als ob wir Wissenschaft verstünden. Und wie es bekanntlich die Extreme sind, die am deutlichsten gewisse Entwicklungen zum Vorschein bringen können, markiert auch die Pop Science sozusagen die Extremform des wissenschaftlichen Werks im Zeitalter seiner medialen Reproduzierbarkeit. Vier Aspekte möchte ich hier kurz beleuchten: den Wissensbasar, die Personalisierung, die Überspanntheit der Ansprüche und die Eventkultur. Der Wissensbasar Pop Science bezeichnet zunächst ein Phänomen, das erst in den marktbestimmten Lebensformen von heute so richtig ins Kraut schießt. Der österreichische Ökonom und Architekt Georg Franck nennt es die «Ökonomie der Aufmerksamkeit» im «mentalen Kapitalismus».4 Wissen allein genügt nicht mehr. Man muss mit Wissen Aufsehen erregen. Aufmerksamkeit ist das kapitale Gut, die gefragte Ware, die universelle Währung. Science sells – populärwissenschaftliche Literatur füllt regalmeterweise Bibliotheken und Buchläden. Keine Qualitätszeitung ohne Wissenschaftsseite, auf der aus allen Bereichen der Forschung berichtet wird. Kein Fernsehsender ohne Wissenschaftsmagazin oder Wissenschaftsquiz. Das Medium Fernsehen betont vor allem die Gaudi des Wissens: «Wissenschaftscomedy» nennt sich zum Beispiel eine Sendung. Meist zeigt ein aufgedreht-lustiger Moderator allerlei Spektakuläres und Effektvolles aus dem Reich der Natur und der Technik: Farbspraydosen, die einen Mikrowellenofen zum Explodieren bringen; heißes Wasser, das, im kalten sibirischen Winter hochgeworfen, augenblicklich als Eisregen niederfällt; einen Haarschopf, der ein Auto trägt. Mitunter erklärt uns auch ein Fernsehwissenschaftler diese Phänomene, obwohl seine erhellenden Kommentare in der Regel kaum mehr als einen schwachen Schein von Plausibilität zu erzeugen vermögen. Realistischerweise akzeptieren wir den Gemischtwarenladen des Wissens als die schlichte Tatsache, dass das Fernsehen ein Medium ist, das alles, was darin vorkommt, in ein eigenes telegenes Format transformiert. Auch Wissenschaft. Umso mehr aber wird dann – zumindest für den, der eine gewisse Sensibilität bewahrt hat – der Kontrast zum eigentlichen Verstehen deutlich, zu dem also, was jeder Naturwissenschaftslehrer weiß: Verstehen heißt, dass der Schüler das Elementare an den Phänomenen und Effekten erkennt, damit er sich dann selbst einen Reim auf ähnliche Erscheinungen machen kann. Sich das Wissen zu eigen machen, es in sich sedimentieren lassen, ist das A und O aller Didaktik. Ein solcher Wahrnehmungstransfer setzt aber eine recht widersprüchliche Mischung voraus: Muße und Mühe. Beides gibt es unter dem Diktat von Sendezeit und Leichtbekömmlichkeit nicht. Deshalb entsteht das Paradox, dass wir heute zwar dank alter und neuer Medien wie nie zuvor mühelosen Zugang zum Wissen haben, dass aber gerade diese Leichtigkeit im Grunde das Verstehen hintertreibt. Der Wissensbasar ist nichts als ein Ausdruck für den Mythos der Wissensgesellschaft, Wissen ließe sich in Magazinbeständen auslagern und beliebig herbeigoogeln. Der Forscher als Marke Im Einstein-Jahr 2005 war noch in der hintersten Provinzzeitung vom «Popstar» der Physik die Rede. Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der Pop Science: die Ikonisierung. Einstein war schon zu Lebzeiten in den USA die Ikone des Wissenschaftlers, und er wusste dies auch...