E-Book, Deutsch, Band 2, 384 Seiten
Reihe: Digital School
ISBN: 978-3-8387-2514-7
Verlag: Baumhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
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Kapitel Eins
Clare und ich waren gerade dabei, uns im WG-Apartment von Pat und Noah umzuziehen, das mitten in Hollywood lag. Clare war übers Wochenende zu Besuch gekommen, und wir wollten unser Wiedersehen feiern, indem wir uns schick machten und in der Stadt zum Tanzen gingen. Zum Umziehen nutzten wir Noahs Übungsraum, der bis zur Decke mit Gitarrenverstärkern, Lautsprechern und Instrumenten vollgestopft war. Ich zwängte mich in ein knallrotes Kleid, das Clare mir geliehen hatte. Es war so eng und kurz geschnitten, dass mein Vater mir vermutlich Hausarrest verpasst hätte, wenn er hier gewesen wäre. Ein Grund mehr, mein Outfit zu genießen. Ich schob den Arm unter den schmalen Seidenträger und schaute zu, wie der tätowierte Vogel auf meinem Handgelenk fröhlich hindurchsegelte. Clare trug ein trägerloses schwarzes Kleid, das vor Pailletten nur so funkelte. Wir stöckelten durch den Flur wie über einen Catwalk. Als wir ins Wohnzimmer einbogen, stellten wir fest, dass Pat und Noah noch genauso aussahen wie vor einer Stunde. In Jeans und T-Shirts lümmelten sie sich auf der Couch und bauten auf total männliche Art Testosteron ab, indem sie sich auf einem Bildschirm beim Fußball verdroschen. Vermutlich ist das der Grund, warum Jungs ständig Computer spielen: um sinnlos die Zeit totzuschlagen, in der wir Mädels uns schick machen. Das Apartment von Pat und Noah sah aus wie das Klischee einer Junggesellen-Wohnung. Jedes Stück Wand war mit Großbildschirmen bedeckt und jedes Sitzmöbel bestand aus schwarzem Leder mit Massagefunktionen, Fußstützen, Getränkehaltern und Fernbedienungsknöpfen. Das Unterteil eines Sessels war hochgeklappt, sodass die Minibar darunter zum Vorschein kam. (Offenbar wäre es zu anstrengend gewesen, vier Schritte in die Küche zu gehen.) Clare räusperte sich und Pat richtete den Blick auf uns. Er unterbrach das Spiel und starrte uns ein paar Sekunden lang verwirrt an, als hätte er uns noch nie zuvor gesehen und wir wären ohne Anzuklopfen in seine Wohnung spaziert. »Wow«, sagte Noah. »Ihr seht umwerfend aus.« »Was ist denn der Anlass?«, fragte Pat. Clare hob tänzerisch die Arme in die Luft. »Ist doch klar, wir gehen auf eine Party!« »Ja schon«, sagte Noah. »Aber nur ins Nino.« Clares Schultern sackten herab und sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Was ist denn das Nino?«, fragte ich. Noah blinzelte überrascht zu mir hoch. »Ich dachte, davon hätte jeder gehört. Das Nino ist ein Club für Virtual Dancing. Und heute ist dort Partynacht.« Meine Mundwinkel sackten nach unten. »Du meinst, das Ganze findet nur online statt? Wenn man schon ausgeht, sollte man auch Leute treffen. Das ist doch der Sinn der Sache. Bestimmt gibt es hier in L.A. echte Clubs.« »Keine Sorge, im Nino gibt es genug Leute«, sagte Noah. »Und der Club macht es Losertypen wie Pat leichter, weil sie sich ihre Körbe nur virtuell einfangen.« »Sehr witzig«, sagte Pat grinsend. »Vielleicht wäre es für dein Ego auch nicht schlecht, ein paar Körbe zu bekommen«, sagte Clare zu ihrem Bruder. Seine Band The Managers war landesweit bekannt geworden, nachdem sie ihr neuestes Album in L.A. aufgenommen hatten. Clare sorgte bei jeder Gelegenheit dafür, dass er sich auf seinen Starstatus nichts einbildete. »Wie viele Frauen versuchen, an einem durchschnittlichen Tag mit dir anzubändeln?« Noah strich sich die schwarze Haarmähne aus dem Gesicht. »Was definierst du als ›anbändeln‹? Chatten, mailen, voicen oder skypen?« Clare stöhnte und vergrub die Finger in ihren eigenen kurzen braunen Haaren. »Das ist der Teil unseres gemeinsamen Lebens, den ich echt nicht vermisse.« In diesem Moment piepte das Phone von Pat, und ich sah, wie er beim Anblick der Nummer die Augenbrauen hob. Er begann eine Nachricht zu tippen. »Wen hast du da?«, fragte ich. »Vermutlich wieder eine Sexbombe, die sich an Noah ranschmeißen will«, kommentierte Clare. »So solltest du aber nicht über deine Mutter reden«, gab Pat zurück. Bevor Clare und Noah auf das Gestichel eingehen konnten, nahm ich meine Freundin bei der Hand und zog sie zur Tür. »Ich will endlich los!«, sagte ich. »Das Nino klingt … interessant.« »Sollte es auch. Der Eintritt kostet hundert Dollar«, bemerkte Pat, ohne mit dem Tippen aufzuhören. »Hundert Dollar?«, echoten Clare und ich gleichzeitig. »Für den angesagtesten Club in L.A. ist das noch billig«, behauptete Noah. »Keine Sorge, ich bezahle. Schließlich war es meine Idee.« »Für den Preis erwarte ich mindestens ein paar Supermodels als Begleitung«, sagte ich. Pat stellte den Bildschirm aus und schnappte sich seine Jacke. »Da wirst du bestimmt nicht enttäuscht«, versprach er mir. Wir bestiegen zu viert eine ZipLimousine und ließen uns in die Stadt zum La Cienega Boulevard fahren. Noah behauptete, in L.A. könne man jederzeit eine Starbehandlung bekommen, wenn man nur stilvoll genug bei der Location ankam. Es gab nur eine begrenzte Menge ZipLimousinen, aber Pat kannte einen PR-Manager, der eine für uns reserviert hatte. Wir scannten unsere Fingerabdrücke ein und sausten los. Mein Vater hatte ein falsches PersoProfil für mich angelegt, sodass die Polizei meine Bewegungen nicht verfolgen konnte. Nur er selbst wusste jederzeit, wo ich mich aufhielt. Er hielt mich immer noch an der kurzen Leine. Clare strich mit den Fingern über die Ledersitze. Die blaue Innenbeleuchtung hüllte alles in einen kalten Neonschimmer. Ich lehnte mich zurück und genoss die reibungslose Beschleunigung. Inzwischen wusste ich, wie sehr ich Geschwindigkeit in meinem Leben brauchte. Ich war regelrecht süchtig danach, als würde die äußere Bewegung mich auch innerlich antreiben und mich daran erinnern, dass ich kein statisches Objekt war. Menschen besaßen nicht ohne Grund ein Paar Beine mit Füßen. Wir waren nicht dazu geschaffen, mit unseren Sesseln zu verschmelzen. Pat saß so eng neben mir, dass sein Jackenärmel meinen nackten Arm streifte. Ich rutschte ein wenig von ihm weg. Dabei wusste ich selbst nicht genau, ob aus Höflichkeit oder weil ich einen Sicherheitsabstand brauchte. In den vier Wochen, die ich nun in L.A. war, hatte ich die meiste Zeit mit Pat verbracht. Er war einer meiner wenigen Freunde in der Stadt. Zwar hatte ich noch meinen Bruder, aber Joe lebte völlig digitalisiert: Arbeit, Sport, Freundschaften und Flirts, alles geschah bei ihm online. Ich hatte ihn bisher höchstens ein paar Stunden gesehen, obwohl ich bei ihm wohnte. Das Leben war so computerisiert, dass wir uns kaum persönlich begegneten. Zwischen uns befand sich nichts als eine dünne Zimmerwand, trotzdem lebten wir in getrennten Welten, die nur im Ausnahmefall zusammenstießen … und dann meist mit einem heftigen Knall. Wir passten ungefähr so gut zusammen wie Purpur und Pink. »Du solltest einfach in L.A. bleiben«, schlug ich Clare wieder einmal vor. Ich vermisste ihre Energie. Mit ihr befreundet zu sein fühlte sich an wie eine belebende Dosis Koffein. »Sorry, ich muss in ein paar Tagen zurück. Bin zu einem Date verabredet«, sagte sie mit einem so gelangweilten Gesichtsausdruck, als wäre selbst Staubsaugen aufregender. »Keine Ahnung, warum ich mir die Mühe mache.« »Welche Site benutzt du?«, fragte Noah. »Ich ziehe die masochistische Form des Datings vor«, erklärte Clare. »Du weißt schon, ein persönliches Treffen. Ich habe den Typ in einem Café kennengelernt und wir haben uns verabredet.« Noah pfiff durch die Zähne. »Wow, ich bin beeindruckt.« Clare zuckte mit den Schultern. »Immer noch besser als diese peinlichen Online-Interviews mit vorgegebenen Fragen«, sagte sie. Wir alle erschauerten sichtlich. Meine Eltern hatten mir nie erlaubt, solche Sites zu besuchen, aber ich wusste, dass es Hunderte davon gab. Gewöhnlich behaupteten sie, in höchstens einem Monat deine große Liebe finden zu können und bei Misserfolg das Geld zurückzuzahlen. In der Suche nach Seelenverwandtschaft gingen sie manchmal sogar so weit, genetische Profile zu vergleichen und das Aussehen künftiger Kinder zu berechnen. Unsere Gesellschaft wollte Liebe im Schnelltempo. Dating im Fastfood-Stil. Tja, und genau das bekamen wir auch. »Ich weigere mich absolut, solche Sites zu benutzen«, verkündete Clare. »Jetzt soll uns die Technologie schon die Liebe bescheren? Für sechshundert Dollar?« »Ich habe viele Freunde, die Online-Dating mögen«, sagte Pat. »Ja, weil solche Sites aufgebaut sind wie ein Computerspiel«, sagte Clare. »Man muss erst Level 10 erreichen, bevor man sich das erste Mal virtuell sehen kann. Und man muss Bonuspunkte sammeln, wenn man zur nächsten Datingphase vorstoßen will.« Pat grinste. »Genau. Wie bei einem Fußballmatch. Nur dass ich bei einem Mädchen punkten will, statt Tore zu schießen.« »Sehr romantisch«, sagte ich. »Keine Sorge, Clare. Eines Tages trifft es auch dich.« »Wenn mich was trifft, dann eher ein entgleister Schnellzug als Mr Perfect«, sagte sie mit einem Schulterzucken, als habe sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden. »Von dir haben wir übrigens schon eine Weile nichts gehört«, wandte sie sich an Pat und wechselte das Thema. Ich wusste, was sie meinte. Seit er nach L.A. gezogen war, um Noahs Band zu managen, hatte er den Kontakt zu seinen früheren Freunden in Oregon abgebrochen. Pat zuckte mit den Schultern. »Ich gönne mir eine Auszeit«, sagte er. »Du...