E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Juster Die Abenteuer von Milo, Tack und Kackerlack
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-03792-158-6
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-03792-158-6
Verlag: Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Norton Juster arbeitete als Architekt, bevor ihm mit seinem ersten Roman ?Die Abenteuer von Milo, Tack und Kackerlack? der Durchbruch als Autor gelang.Noch heute gilt er als einer der beliebtesten und bekanntesten Kinderbuchautoren Amerikas.
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2. JENSEITS … ALLER VORSTELLUNGEN
Ehe er sich’s versah, sauste Milo eine Landstraße entlang, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er blickte zurück, doch vom Mauthäuschen und seinem Zimmer war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal sein Wohnhaus konnte er noch entdecken. Was sich eben noch in seinen Gedanken abgespielt hatte – war jetzt Wirklichkeit.
, dachte er (so wie ihr jetzt sicher auch).
Und tatsächlich: Das war im Moment das Einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte. Die Sonne glitzerte, am Himmel ließ sich kein Wölkchen blicken, und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so satte und leuchtende Farben gesehen zu haben. Die Blumen strahlten, als hätte man sie gerade erst geputzt und aufpoliert, und die Bäume, die links und rechts der Straße in den Himmel ragten, schimmerten in silbrigem Grün.
WILLKOMMEN IN FORT STELLUNGEN
stand mit sorgfältig gemalten Buchstaben auf einem Schild an einem kleinen Haus am Straßenrand.
FÜR INFORMATIONEN, VORHERSAGEN UND RATSCHLÄGE ALLER ART STEHEN WIR IHNEN GERN ZUR VERFÜGUNG.
HIER ANHALTEN UND HUPEN.
Gleich beim ersten Hupen kam ein kleiner Mann in langem Mantel aus dem Haus geschossen. Er sprach unvorstellbar schnell und wiederholte sich ständig:
»Oi, oi, oi, oi, oi, willkommen, willkommen, willkommen, willkommen in Fort Stellungen, in Fort Stellungen, in Fort Stellungen. In letzter Zeit haben wir kaum noch Besucher, kaum noch Besucher. Nun. Was kann ich für dich tun? Ich bin der Ob-Mann, der alles weiß und alles kann.«
»Ist dies der richtige Weg nach Wortopolis?«, fragte Milo, dem die überschwängliche Begrüßung fast die Sprache verschlug.
» dies der richtige, dies der richtige Weg, dies der richtige Weg nach Wortopolis ist«, begann der kleine Mann aufs Neue. »Ich weiß von keinem falschen Weg nach Wortopolis. Wenn dieser Weg also überhaupt nach Wortopolis führt, muss es wohl der richtige sein. Und wenn nicht, dann muss es der richtige Weg irgendwo anders hin sein, denn es gibt keinen falschen Weg irgendwohin. es wohl regnen wird?«
»Ich dachte, Sie sind der Obmann, der alles weiß und alles kann«, sagte Milo ziemlich irritiert.
»Aber nicht doch«, meinte der kleine Mann. »Ich bin der Ob-Mann, nicht der Obmann. Denn viel wichtiger, als zu erfahren, das Wetter wird, ist es, herauszufinden, es das Wetter überhaupt noch geben wird.« Und damit ließ er ein Dutzend Luftballons in den Himmel steigen. »Wolln doch mal sehen, von wo der Wind weht«, kicherte er, als die Ballons in alle Richtungen davonflogen.
»Was hat es mit Fort Stellungen eigentlich auf sich?«, fragte Milo, dem das Ganze mittlerweile mehr als spanisch vorkam und der sich langsam fragte, ob der kleine Mann noch alle beisammenhatte.
»Gute Frage, gute Frage«, rief dieser begeistert. »Ohne macht man sich nie dorthin auf, wo man hinwill. Andererseits: Obwohl keiner, der irgendwo hinwill, an konkreten vorbeikommt, kommt jeder, der irgendwo hinwill, an vorbei. Es gibt natürlich auch Leute, die nie über ihre hinauskommen, aber mein Job ist es, ihnen Beine zu machen, ihnen das nun passt oder nicht. ich wohl sonst noch was für dich tun kann?«
Bevor Milo noch etwas darauf antworten konnte, verschwand der Ob-Mann im Haus, bloß um Sekunden später wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, mit neuem Mantel und einem Schirm.
»Danke, ich finde meinen Weg schon alleine«, sagte Milo, obwohl er sich da ganz und gar nicht sicher war. Aber weil er keinen blassen Schimmer hatte, wovon der kleine Mann eigentlich die ganze Zeit redete, hielt er es für vernünftiger, einfach weiterzufahren – wenigstens so lange, bis er auf jemanden traf, dessen Sätze nicht so klangen, als ergäben sie von vorn gelesen genauso wenig Sinn wie von hinten.
»Prachtvoll, prachtvoll, prachtvoll«, rief der Ob-Mann. » du Weg nun findest oder nicht – Weg wirst du auf jeden Fall finden. Und solltest du zufällig Weg finden, bring ihn bitte zurück. Er ist mir nämlich schon vor Jahren verloren gegangen. Ist mittlerweile wahrscheinlich längst verrostet. Du meinst also, es würde regnen, ja?« Und damit spannte er seinen Schirm auf und begleitete Milo zu dessen Auto.
»Bin froh, dass du deine Entscheidung allein getroffen hast. Ich hasse es nämlich, mir ständig den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, etwas gut ist oder schlecht, oben oder unten, drinnen oder draußen, regnet oder die Sonne scheint. Am besten, man rechnet mit allem, sag ich immer, dann kann einem nichts zustoßen, mit dem man nicht gerechnet hätte. Bitte, fahr vorsichtig; ich halt solang die Stellung, und tschüss, und tschüss, und tschüss, und …« Sein letztes »Tschüss« ging in einem enormen Donner unter, und als Milo Fort Stellungen bei strahlender Sonne hinter sich ließ, konnte er sehen, dass der Ob-Mann inmitten eines heftigen Wolkenbruchs stand, der sich ausschließlich über ihn zu ergießen schien.
Die Straße senkte sich in ein breites grünes Tal und erstreckte sich bis zum Horizont. Das kleine Auto flog nur so dahin. Milo konnte fahren, so schnell er wollte, und musste dazu nicht mal richtig Gas geben. Er war froh, wieder unterwegs zu sein.
, , dachte er, ohne zu ahnen, auf wie viel mehr seltsame Gestalten er schon bald treffen würde.
Während er Kilometer für Kilometer der sich friedlich vor ihm hinziehenden Landstraße hinter sich ließ, verlor Milo sich zunehmend in Tagträumen und achtete immer weniger darauf, wohin er eigentlich fuhr. Über kurz oder lang schenkte er seinem Weg überhaupt keine Beachtung mehr, und so war es eigentlich kein Wunder, dass er an einer Gabelung, bei der er nach links hätte fahren sollen, den rechten Weg einschlug, einen Weg, der ihm schon wenig später recht falsch vorkam.
Kaum hatte er nämlich die Landstraße verlassen, schon fing alles an, sich zu verändern. Während der Himmel langsam ergraute, schien auch die Landschaft um ihn herum ihre Farbigkeit zu verlieren und einen einzigen schmutzigen Farbton anzunehmen. Über allem lastete eine dumpfe Stille. Selbst das Gezwitscher der Vögel machte grauen Gesängen Platz, und das ständige Hin und Her der leicht ansteigenden Straße bildete ein Band nicht enden wollender Kurven.
Er fuhr
Kilometer
um Kilometer
um Kilometer
um Kilometer, und dabei bewegte sich das Auto immer langsamer und langsamer, bis es kaum noch vorankam.
»Sieht ganz so aus, als käme ich nirgendwohin«, gähnte Milo und wurde ganz matt und schläfrig. »Hoffentlich hab ich nicht den falschen Weg genommen.«
Kilometer
um Kilometer
um Kilometer
um Kilometer wurde alles immer grauer und eintöniger. Schließlich kam das Auto gänzlich zum Stehen. Sosehr Milo sich auch bemühte, es bewegte sich keinen Zentimeter mehr vom Fleck.
»Möcht bloß wissen, wo ich bin«, sagte Milo ziemlich beunruhigt.
»Du bist … in … Pa…ra…ly…si…en«, jammerte eine Stimme wie von ferne.
Mit einem Ruck schaute er sich um, denn er wollte herauskriegen, wer da gesprochen hatte. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen, und es war so ruhig und still wie nur möglich.
»Ja …, Pa…ra…ly…si…en«, gähnte eine andere Stimme, doch entdecken konnte Milo immer noch niemanden.
»WAS IST PARALYSIEN?«, rief er laut und blickte angestrengt in die Gegend, um sehen zu können, wer ihm darauf antworten würde.
»Paralysien, mein junger Freund, ist, wo nichts jemals passiert und sich niemals etwas ändert.«
Diesmal kam die Stimme von so nah, dass Milo vor Verwunderung in die Höhe fuhr, denn auf seiner rechten Schulter hatte es sich ein kleiner Kerl bequem gemacht. Er hatte genau die gleiche Farbe wie das Hemd, auf dem er saß, und war so leicht, dass Milo ihn kaum spürte.
»Darf ich uns vorstellen«, fuhr der Kleine fort, »wir sind die Lethargianer, stets zu Diensten.«
Milo schaute sich um, und erst jetzt bemerkte er, dass die Kerle ihn zu Dutzenden umringten – sie lagen auf seinem Auto, standen auf der Straße und lungerten auf Büschen und auf Bäumen. Sie waren nur sehr schwer zu erkennen, denn vor oder auf was auch immer sie saßen, es hatte genau die gleiche Farbe wie sie selbst. Sie glichen einander wie ein Ei dem anderen (bis auf die Farbe natürlich), und manche glichen einander sogar mehr als sich selbst.
»Freut mich, euch kennenzulernen«, sagte Milo, war sich aber gar nicht so sicher, ob er wirklich froh darüber war. »Ich denke, ich habe mich verirrt. Könnt ihr mir vielleicht helfen?«
»Sprich bloß nicht von Denken«, sagte ein Lethargianer, der sich auf Milos Schuh niedergelassen hatte, denn der auf seiner Schulter war in der Zwischenzeit...