Der First Vienna Football-Club 1894 im Nationalsozialismus
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7307-0757-9
Verlag: Die Werkstatt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der älteste Fußballverein Österreichs war 1894 im Wiener Heurigenbezirk Döbling von einer Gruppe junger Sportbegeisterter aus verschiedenen Nationen und unterschiedlichen Glaubensrichtungen mit Unterstützung eines jüdischen Mäzens der Familie Rothschild gegründet worden.
Das Buch geht der Frage nach, wie sich der Wiener Fußball nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsch Reich veränderte, welchen Logiken der Sport während der NS-Zeit folgte und wie der Erfolg des Vereins unter den veränderten politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen möglich war.
Dieser Erfolg war vor allem deshalb einzigartig, weil der Verein trotz des Ausschlusses einer hohen Anzahl jüdischer Spieler und Funktionäre während des nationalsozialistischen Regimes einen zuvor unerreichten sportlichen Aufstieg verzeichnete. Die Vienna gewann zwischen 1942 und 1944 dreimal ihre Gauliga bzw. Bereichsklasse, erreichte 1942 das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft und gewann 1943 den Tschammer-Pokal.
In Juraskes Buch werden wichtige Determinanten der spielerischen Hochphase herausgearbeitet, Brüche und Kontinuitäten aufgezeigt, und die Mechanismen der Anpassung des Vereins an die Rahmenbedingungen des NS-Staates dargestellt. Zugleich gelten dem Schicksal der verfolgten und ausgeschlossenen jüdischen Mitglieder und der NS- Verfolgungsmaschinerie besonderes Augenmerk.
Schließlich beleuchtet die Studie die Entwicklung des Vereins in der Nachkriegszeit, untersucht personelle Kontinuitäten und stellt die Frage, warum die Befassung mit der NS-Zeit im Verein nach 1945 nicht aktiv thematisiert wurde.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Einleitung
Vorbemerkung
Anlässlich des 130-jährigen Bestehens des First Vienna Football-Club 18941 wird mit dieser Publikation zur Auseinandersetzung mit der Vereinsgeschichte in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes 1938–1945 eine Lücke der bisherigen Geschichtsforschung geschlossen. Die Vienna war bislang bestenfalls Randnotiz in Publikationen zum österreichischen Fußball während der Zeit des Nationalsozialismus, und selbst in den vereinseigenen Publikationen und Festschriften fehlte eine über die Aufzählung der Erfolge und kriegsbedingten Schwierigkeiten hinausgehende Betrachtung. Grundsätzlich stellte die nationalsozialistische Machtergreifung in Österreich im März 1938 für den österreichischen Fußball eine tiefgreifende Zäsur dar. Durch die Abschaffung des Professionalismus, die massive Reduzierung des Gastspielverkehrs ins Ausland, die Eingliederung des Spielbetriebs ins deutsche System, den Ausschluss jüdischer Vereinsmitglieder und die Auflösung des Österreichischen Fußball-Bundes ergaben sich entscheidende Veränderungen. Im Vergleich zu anderen Fußballvereinen stellt sich bei der Interpretation der Geschichte der Vienna eine zusätzliche Herausforderung: Einerseits verlor der Döblinger Verein durch die nationalsozialistische Verfolgungspolitik 1938 Teile seiner auf jüdischen Spielern und Funktionären basierenden Vereinsstrukturen, andererseits konnte er sich während des NS-Regimes sportlich äußerst erfolgreich behaupten. Schon bei der Gründung des First Vienna Football-Club 1894 spielten Wiener Juden eine bedeutende Rolle: Der jüdische Bankierserbe Nathaniel Meyer von Rothschild finanzierte die Vereinsgründung, die Farben seines Familienwappens – Blau und Gelb – wurden zu den Farben der Vienna. Den jüdischen Buchhalter Georg „Geo“ Fuchs wählte man zum ersten Obmann des Vereins. Auch jüdische Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Ärzte engagierten sich in dem bürgerlichen Vorstadtverein im 19. Wiener Gemeindebezirk. Neben dem SC Hakoah und dem FK Austria Wien hatte die Vienna wohl den höchsten Anteil an jüdischen Vereinsmitgliedern und Funktionären unter den österreichischen Fußballvereinen. Betreffend die Vereinsfunktionäre liegen konkrete Zahlen vor: Von der Gründung des Fußballklubs 1894 bis 1938 fand sich unter ihnen rund ein Drittel Juden oder jüdische Konvertiten.2 Insbesondere jüdische Konvertiten, also Personen, die aus verschiedenen Gründen aus ihrer Religionsgemeinschaft, der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), ausgetreten waren,3 spielten eine besondere Rolle für die Vienna.4 Allein zu ihrer Gruppe zählten acht historisch gewichtige Vorstandsmitglieder, darunter der bedeutsame Vienna-Präsident Hans Martin Mauthner und Vizepräsident Alexander W. Neuman. Die jüdischen Funktionäre der Vienna leisteten wichtige Aufbauarbeit bei der Etablierung und Institutionalisierung des österreichischen Fußballsports und führten ihren Verein zu großen Erfolgen: Bis 1938 gewann die Vienna zwei österreichische Meistertitel (1931 und 1933), drei Cupsiege (1929, 1930 und 1937) und 1931 den Sieg im internationalen Mitropa-Cup. Der Bau des 1921 eröffneten Stadions Hohe Warte, der heutigen Heimstätte des Vereins – damals das größte Fußballstadion außerhalb der Britischen Inseln –, wurde von jüdischen Funktionären mitgeplant, kofinanziert und durchgeführt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 durch den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich endete nicht nur die jüdische Partizipation im First Vienna Football-Club. Der ehemals österreichische Sport wurde in das reichsdeutsche Sportsystem eingegliedert und veränderte sich grundlegend. Jüdische Sportler/Sportlerinnen und Funktionäre/Funktionärinnen wurden sofort und unwidersprochen aus ihren Vereinen und dem Sportleben ausgeschlossen. Damit endete die bis dahin erfolgreiche jüdische Mitgestaltung der Sportlandschaft und bedeutete in der Folge für viele ehemalige Sportler und Sportlerinnen Entrechtung, Verfolgung bzw. Vertreibung und Ermordung durch das NS-Regime. Mehrere (ehemalige) jüdische Fußballer der Vienna überlebten die NS-Zeit nicht und wurden im Holocaust ermordet. Auch jüdische Sportler der Vienna anderer Abteilungen wurden entweder in Konzentrationslager deportiert und/oder vertrieben, wie anhand eines Exkurses zu einigen jüdischen Mitgliedern der Vienna-Boxsektion gezeigt werden wird. Ähnlich erging es ehemaligen wie aktiven Funktionären der Vienna, deren Familienmitglieder ebenfalls dem NS-Regime zum Opfer fielen. Von jenen Vereinsmitgliedern, die vor 1938 als Vienna-Sportler aktiv waren und zu dem vom NS-Regime verfolgten Personenkreis gehörten, kehrte nach 1945 niemand zu seinem früheren Klub zurück. Das Schicksal vieler jüdischer Vienna-Mitglieder ist bis heute noch nicht erzählt. Unter den Funktionären und Sportlern der Vienna gab es aber auch Personen, die die politischen Veränderungen ab dem März 1938 zur eigenen Bereicherung nutzten, sei es, weil sie eine entsprechende politische Überzeugung vertraten, sei es, weil sie nach dem „Anschluss“ aus Opportunismus Karriere machten und sich wirtschaftlich auf Kosten verfolgter Personenkreise bereicherten. Funktionäre wie der während der NS-Zeit tätige Vienna-„Vereinsführer“ Otto Pöschl nutzten den Fußball als Bühne, um für ureigene Zwecke aus dem Verein Profit zu schlagen; der ehemalige Vienna-Spieler Karl Rainer „arisierte“5 sowohl einen Betrieb als auch eine Wohnung. Trotz der oben aufgezeigten, gravierenden Eingriffe in die Organisation des österreichischen Sports nach dem „Anschluss“ und des Ausschlusses von Juden und Jüdinnen stieg die Vienna während der NS-Zeit sukzessive zu einem der erfolgreichsten Fußballvereine im Deutschen Reich auf. Zwischen 1942 und 1944 gewann der Verein dreimal in Folge die Gauklasse (d. h. die oberste Liga im ehemaligen Österreich), erreichte 1942 das Endspiel um die reichsdeutsche Meisterschaft und gewann 1943 den Tschammer-Pokal. Der First Vienna Football-Club nutzte die während des Zweiten Weltkrieges seitens des NS-Regimes für den Fußballsport eingeführten neuen Regelkonstrukte für seine Zwecke und passte sich den ständig wechselnden Rahmenbedingungen der Sportausübung in Kriegszeiten gleichermaßen pragmatisch wie opportunistisch, zuweilen auch trickreich an. Dank mehrerer Einzelpersonen, die im Sinne des Vereins handelten, gelang es, zum Kriegsdienst einberufene Vienna-Spieler länger in Wien (und fern der Front) zu behalten, andererseits konnten personelle Lücken, die mit Fortdauer des Krieges zunahmen, durch in Wien stationierte Soldaten – Gastspieler aus dem „Altreich“ bzw. aus den ehemaligen österreichischen Bundesländern – erfolgreich kompensiert werden. Im Gegensatz zu anderen österreichischen Vereinen finden sich somit in der Geschichte der Vienna zwei Entwicklungslinien, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Während der NS-Zeit sportlich erfolgreiche Fußballklubs wie der SK Rapid hatten vor 1938 vergleichsweise wenige jüdische Mitglieder, mussten also nach dem „Anschluss“ keine Verluste an Spielern, Mitgliedern oder Funktionären verkraften. Klubs wie der FK Austria, bei dem sich bis 1938 viele jüdische Mitglieder einbrachten, stürzten deshalb in der NS-Zeit ins sportliche Mittelmaß ab.6 Die Geschichte der Vienna zeigt hingegen, dass eine solche Abfolge nicht zwingend eintreten musste, sondern durchbrochen werden konnte. Der Vienna gelang es, die wegen des Ausschlusses von Juden eingetretenen gravierenden Verluste zu nivellieren und einen sportlichen Abstieg des Vereins erstens zu verhindern. Zweitens konnte der Verein durch Anpassung und „trickreiches“ Agieren während des Zweiten Weltkriegs fußballerisch reüssieren und in den höchsten Klassen des Sports mitspielen. Die durch das NS-Regime erzwungenen Verluste an Spielern, Mitgliedern oder Funktionären und erfolgreiches Fußballspiel konnten je nach situativem Kontext auch zusammen auftreten. Wie dies zwischen 1938 und 1945 konkret vonstattenging, wird eine der Kernfragen dieser Publikation sein. Die Vienna passte in der Zwischenkriegszeit auch nicht in den am Modell von Rapid und FK Austria eingeführten Antagonismus der Wiener Fußballvereine, mit sozialdemokratischen Vorstadtvereinen auf der einen und bürgerlichen „city-clubs“ auf der anderen Seite.7 Schon in der Zwischenkriegszeit gerieten diese Zuschreibungen aber ohnehin ins Wanken; zudem wurden (und werden) sie meist von außen vorgegeben. So stellte der SK Rapid, der erste Arbeiterfußballverein, die Teilnahme am „bürgerlichen“ Profifußball nie infrage und gehörte 1924 zu den stärksten...