Buch, Deutsch, 104 Seiten, GB, Format (B × H): 140 mm x 222 mm, Gewicht: 166 g
Buch, Deutsch, 104 Seiten, GB, Format (B × H): 140 mm x 222 mm, Gewicht: 166 g
ISBN: 978-3-942393-61-4
Verlag: Velbrück
Aus einer Vielzahl unzusammenhängender Verlegenheitsreaktionen hat sich heute ein selbsttragendes, sozialstrukturell aber vermutlich nicht ortloses Diskursuniversum entsponnen. Die dauerreflexive Stabilisierung der mit dem Wort 'Ambivalenz' benannten, aber eben auch gebannten Spannung und der damit zunächst vielleicht nur als Provisorium akzeptierten Interimslösung ist kein Verfallssyndrom, sondern selbst eine status quo stabilisierende kulturelle Leistung und Neutralisierungstechnik. Ambivalenz suspendiert vom Engagement und entschuldigt die eigene Indifferenz im Verweis auf die vermeintlich eben ambivalente Sachlage. Gerade durch das Ambivalentwerden alter Distinktionen, Konfliktlinien, Spannungslagen und Ansprüche wird, soweit sich die Probleme hinreichend auf Distanz halten lassen, kulturelle Integration unter modernen Lebensbedingungen vielleicht erst möglich.
Mit der hier skizzierten – die rhetorisch-pragmatische Dimension im Sinne einer heute ubiquitär gebrauchten Etikettierungsstrategie heraushebenden – Akzentsetzung ist unser Schlüsselwort natürlich ursprünglich nicht ins Rennen geschickt worden. Einige wichtige Stationen aus den letzten gut hundert Jahren der Geschichte des Begriffs der Ambivalenz seien hier benannt, um das ursprünglich mit dem Terminus verbundene Befremden wieder wachzurufen, seinen anfänglichen Witz wieder sichtbar und dann im Weiteren vielleicht erneut heuristisch nutzbar zu machen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren es zum einen wahrnehmungstheoretisch faszinierende Experimente zum zeitlichen Wechsel von Figur und Grund beim Betrachten bestimmter Bilder oder Zeichnungen, zu denen sich auch schnell Parallelen im Bereich der akustischen und musikalischen Wahrnehmung fanden. Der Witz der Sache war dabei, dass der Bildträger, die Geräuschkulisse oder das Tonmaterial sich selbst nicht änderten, dem Beobachter die vermeintliche Sache aber gleichwohl als Kippfigur begegnet. Sie zu beobachten, setzt hier eine Art Spurenbildung in der Zeit und damit eine elementare Form von Gedächtnis voraus. Ohne ein wenig Geduld und Konzentration steht die Kippfigur still, vermag nicht durch ihre Ambivalenz zu faszinieren, bleibt unbemerkt und verdient ihren Namen eben noch gar nicht. Die hier benannte Verschränkung von zeitlicher Sukzession einerseits und auf ein vermeintlich bestimmtes Etwas konzentrierter Wahrnehmung andererseits geriet beim Aufgreifen oder der vielleicht auch unabhängig erfolgten Neuinstallierung des Begriffs der Ambivalenz in anderen Forschungszusammenhängen aus dem Blick. Zu nennen sind hier zunächst vor allem die frühe Psychoanalyse mit ihrem Blick auf ambivalente, von gegenläufigen Regungen getragene Gefühle; wenig später aber auch die modernistische Ästhetik mit dem Versuch, den ästhetischen Gegenstand über die unentschieden bleibende Vielzahl seiner Interpretationen zu
begreifen; und schließlich, nun schon in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die Professionensoziologie mit ihrem Fokus auf den professionell zu bewältigenden Spagat der distanzierten Anteilnahme. In allen drei Forschungsfeldern wurde der Terminus um die im wahrnehmungstheoretisch motivierten Selbstversuch leicht erfahrbare Kuriosität des Oszillierens beschnitten. Er wurde gewissermaßen ontologisch tiefergelegt und auf einen Strukturbegriff reduziert. In diesem Zuschnitt konnte Ambivalenz dann zunächst von der Kulturanthropologie und schließlich der soziologischen Zeitanalyse zu einer ubiquitären Nebenfolge jeder Art von kategorialer Welterfassung promoviert werden.
Ambivalenz ist die heute vielleicht prominenteste Chiffre des vergeblich gesuchten Grundes einer sich des legitimationsentziehenden Vorwurfs der Säkularisierung nicht entwinden könnenden Moderne. Erst vor diesem Hintergrund dürfte sich die Resonanz der jüngeren und jüngsten Versuche zu einer Respezifikation der Formel erklären lassen. Sie kaprizieren sich allesamt auf bestimmte, mehr oder weniger klar artikulierte Antinomien. Zu nennen sind hier das zwischen Phänomenologie und Sprachwissenschaft changierende, die Sachen selbst aufgrund des allen sprachlichen Unterscheidens eigenen Aufschubs provokant verfehlende Unternehmen der Dekonstruktion; die Systemtheorie mit ihrem Fokus auf die selbst-referentielle, streckenweise an Paradoxien auflaufende Natur des Sozialen; und der unter Rückgriff auf die lacansche Psychoanalyse und die Dekonstruktion renovierte Marxismus mit seinem defätistischen Bemühen, das Reale als leeren Signifikanten des Unbegreiflichen zu begreifen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Werner Binder: Der Hintergrund. Zur Kultursoziologie des Außerordentlichen
Beatrice Kobow: Die Denkfigur des Als-Ob
Kay Junge: Ambivalent oder verlogen?
Kim-Claude Meyer: Die Macht des Hörensagens
Dmitri Zakharine: Klangbilder – Kippbilder. Zur Soziologie des Hörens und Hören-Lassens
Francis Le Maitre: Verführte Wahrheit
Marco Gerster: Der Ernst des Spiels
Christoph Schneider: Seelentheater. Über psychische Polyvalenzen
Kirill Postoutenko: Der Antichrist und seine Widersacher
Shigeki Sato: Restrisiko. Fukushima in Deutschland
Valentin Rauer: Transnation Europa
Martin Sauter: Europabindungen
Yasemin Soytemel: Aeneas oder Odysseus? Kollektive Selbstbeschreibung türkisch-deutscher Jugendlicher
Gerold Gerber: Staunen auf Malta. Über das Außerordentliche im Alltag
Daniel Šuber: Von Fingern und Fäusten. Politische Symbolik im gegenwärtigen Serbien
Mark Weißhaupt: Zwischen-Spiel. Zur Grenze zwischen Ritual und Spiel
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Nils Meise: Der Zombie. Sterben um zu leben um wieder zu sterben
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