Supplement-Band: Späte Arbeiten - Aus dem Nachlass
E-Book, Deutsch, 488 Seiten
ISBN: 978-3-608-10922-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der vorliegende Band folgt der gebundenen Ausgabe. Entnommen wurde das Tagebuch 'Siebzig verweht V (Strahlungen VII)', das in Band 7 dieser Ausgabe gemeinsam mit 'Siebzig verweht IV (Strahlungen VI)' zu finden ist. Aus Band 18 der gebundenen Ausgabe wurden die frühe Fassung von 'Eine gefährliche Begegnung' sowie das chronologische Werkverzeichnis überführt.
Besonders wichtig in diesem Band sind die bislang unveröffentlichten Reisenotizen aus den Jahren 1948–1963, die ergänzt sind durch die Aufzeichnungen einer Reise des Schülers im Jahre 1909 nach Buironfosse in Frankreich und durch das Tagebuch eines Aufenthaltes der Geschwister Jünger auf Juist im Juni 1969. Von ähnlicher Bedeutung sind die 'Prinzessin Tarakanow' und die lange erwartete Erzählung 'Sp.R. Drei Schulwege'. Auch sind erstmals versammelt die Vor- und Nachworte des Autors, etwa zu 'Afrikanische Spiele', 'Auf den Marmorklippen' und 'Jahre der Okkupation'. Ein Nachwort von Liselotte Jünger als der Herausgeberin des Bandes gibt Erläuterungen zu seinem Inhalt und zur Einbeziehung der Arbeiten aus dem Nachlass.
Aus dem Inhalt:
Aus 'Das Antlitz des Weltkrieges' / Zu eigenen Werken: Vor- und Nachworte / Ansprachen und Grußworte / Zur Käferkunde / Reisenotizen / Gedichte / Prinzessin Tarakanow / Letzte Worte / Sp.R. Drei Schulwege / Übersetzungen / und anderes.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Siebzig verweht V
Wilflingen, 5. Februar 1996
Ich begleite jetzt wieder Dostojewski in den 'Dämonen' und lebe dann nächtlich in einer zweiten Gesellschaft. einer anderen Welt. In ihr träume ich weiter – so hörte ich den Stepan Trofimowitsch sagen: 'Marmorsäulen bemalt man nicht.' Das ist gut, steht aber nicht im Roman.
Den 'Raskolnikow' lernte ich als Fünfzehnjähriger kennen; mit jeder neuen Lektüre ändert sich die Gestalt. Das Kriminelle im Leser wird angeregt. Widrig ist aber, daß eine Alte, eine 'Laus', und dazu noch mit dem Beile, getötet wird. Die Berufung auf Napoleon ist absurd, doch eben die geistige Verwirrung andeutend. Der verbummelte Student brütet so lange in seiner dunklen Kammer, bis unbedingt etwas geschehen muß. Er muß, um sich Luft zu schaffen, jemand umbringen.
Doch warum kein Bankeinbruch? Einmal, weil es ihm nicht um Geld geht, und dann weil er im Grund ein Feigling ist. Nietzsche bewunderte an Dostojewski die psychologische Finesse – aus seiner Sicht gehört Raskolnikow natürlich zur Dekadenz.
Stawrogin ist der Übermensch in nuce: er stürzt nicht wie Nietzsches Seiltänzer in die Tiefe – der Fürst wählte den Strick.
Wilflingen, 3. März 1996
Die Hölle existiert nicht, wohl aber das Fegfeuer.
Die letzten Sekunden können sehr lang werden: am Rande der Ewigkeit. Auch die Ewigkeit ist nur eine Vorstellung.
Wilflingen, 15. März 1996
Beendet: Dominique Venner: 'Terreur et Crimes Politiques au XXe Siède'. Das Buch wurde mir vor Jahren vom Autor übersandt. Er zitiert mich mit einem Satze, der mir entfallen ist: 'Le terroriste ne frappe pas seulement sa victime, il s’inflige une blessure définitive.' Ich habe dabei wohl an Ernst von Salomon gedacht, der von Venner auch erwähnt wird, und zwar wegen seiner Verstrickung in den Rathenaumord.
*
Poincaré, ein kleiner frigider Rechtsverdreher mit geschwollenen Backen, verdankte seine politische Fortüne dem antideutschen Revanchismus, der in Frankreich nach der Niederlage von 1870 das politische Hauptproblem war. Die beiden in Trauerflor gehüllten Statuen von Metz und Straßburg auf der Place de la Concorde hielten mahnende Wacht.
*
Der Typ des Königsmörders. Oswald, der den Präsidenten Kennedy erschoß, fällt in dieselbe Sparte wie Ravaillac und Damiens. Es gibt stets ein Umfeld, dem die Tat eines Einzelnen entwächst – eine Spannung, der ein Funke entspringt.
Der Bericht über die Folterung Damiens’ vom ersten bis zum achten und letzten Coin und dann über die Einzelheiten der Hinrichtung ist grauenhaft; er erschien zu Paris 1757, noch im Jahre der Tat. Ich besitze ihn in der Ausgabe, die auch der Alte Fritz gelesen hat.
Bei solcher Lektüre muß man sich die Katastrophe vor Augen halten, die ein Regizid auslösen kann. Unser Jahrhundert bietet das eklatante Beispiel von Sarajewo. Dem Erzherzog und seiner Gattin folgte ein endloser Trauerzug. Jeder meiner Generation ist ein Mitverwundeter. Princip, der Attentäter, wurde zu zwanzig Jahren Gefangenschaft verurteilt; er starb in der Haft.
Wilflingen, 17. März 1996
Morgens im Garten – ein heiterer Vorfrühlingstag. Der Winterling blüht rings um die Laube und unter der Blutbuche; der Winterjasmin ist verblüht. Der Krokus steckt noch kaum die ersten Spitzen heraus. Auf dem Weiher zwei Schwäne, Bläßhühner und viele Enten, im Lebensbaum picken die Grünfinken.
Gestern abend war Schlachtfest im 'Löwen' – in der Nacht unruhige Träume, unter anderen in Gesellschaft mit Florence Gould. Mir gegenüber ein Nobile in eleganter Kleidung; er gehörte nicht zum Traum, sondern stand greifbar im Raum. Vielleicht macht mich meine intensive Dostojewski-Lektüre für solche Erscheinungen anfällig.