Jox / Porz | Wenn es ernst wird | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Jox / Porz Wenn es ernst wird

Lebensentscheidungen von Kinderwunsch bis Sterbehilfe. Wie wir die richtigen Fragen an die Medizin stellen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-406-82998-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Irgendwann kommen wir alle in eine Situation, in der wir schwierige Entscheidungen über unsere eigene Gesundheit, die von Angehörigen oder Freunden treffen müssen. Wir müssen dann die richtigen Fragen stellen und Verantwortung übernehmen – ob es sich um den Schlaganfall der Mutter, eine künstliche Befruchtung, den Wunsch eines Kindes nach geschlechtlicher Veränderung, um Organspende oder das Lebensende handelt. Die beiden Medizinethiker Ralf Jox (rechts) und Rouven Porz geben unverzichtbare Orientierung in einem komplizierten Bereich, der viele Menschen zunehmend überfordert.

Die Medizin heutiger Tage kann unheimlich viel. Sie kann Menschen retten, die früher gestorben wären. Sie kann Pandemien bekämpfen und mit Künstlicher Intelligenz Krankheiten aufspüren, für die es noch nicht einmal Namen gibt. Sie kann uns das Sterben erleichtern und sogar nach dem Tod noch allerhand mit unseren Körpern anfangen. Aber wollen wir das alles? Und vor allem: Sollen wir all das tun, was wir tun könnten? Dies sind nicht nur gesellschaftliche Fragen. Jede und jeder von uns ist ganz persönlich davon betroffen. Mehrfach im Leben müssen wir schwierige gesundheitliche Entscheidungen treffen - über uns selbst, über unsere Angehörigen. Zuweilen geht es gar um leben und Tod. Spätestens dann fragen wir uns: Wie kann ich mich bei diesen verwirrenden Fragen orientieren? Und wie kann ich selbst die richtigen Fragen stellen – an die Ärzte und Pflegenden, im Austausch mit dem Partner und mit Angehörigen, an mich selbst? Mit welcher Entscheidung werde ich später leben können? Wer kann mich bei solchen Lebensentscheidungen unterstützen? Wie kann ich Klarheit gewinnen? Genau hier setzt dieses Buch an. Es will Ihnen als Leserinnen und Lesern helfen, über diese Fragen nachzudenken, sie zu formulieren und für sich selbst Orientierung zu finden.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1. Selbst entscheiden – wieso wir alle herausgefordert sind
‹Sapere aude!› Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Immanuel Kant (1724–?1804) Stellen Sie sich vor: Sie gehen wie gewohnt zur Arbeit, spulen fleißig Ihr Programm ab, kaufen auf dem Heimweg noch ein paar Lebensmittel für die Familie ein, im Kopf schon allerlei Pläne, was es heute Abend noch zu erledigen gilt: die Geburtstagsnachricht für den Freund, das Formular für die Versicherung, die Reiseplanung für den Urlaub, Abendessen, die Kinder. Auf einmal schreckt Sie ein penetrantes Klingeln und Vibrieren aus Ihren Gedanken auf. Wer ruft denn heute noch an und schreibt keine WhatsApp, so denken Sie. Die Nummer ist nicht gespeichert, sonderbar. Auch die Stimme kommt Ihnen nicht bekannt vor. Eine junge Frau spricht zu Ihnen, im Hintergrund seltsames Piepen und Rasseln. Sie können die Geräusche nicht direkt zuordnen. Dann stellt sich heraus: Sie erhalten diesen Anruf von einer jungen Ärztin aus der Intensivstation der großen Klinik Ihrer Stadt. Sie spricht leise, hastig, etwas scheu, aber präzise und voller wichtiger Informationen. Sie berichtet, dass Ihr 87-jähriger Vater eingewiesen wurde und auf der Intensivstation liegt. Er habe eine Hirnblutung erlitten, dazu komme noch eine Nierenschwäche, aktuell sei er im Koma. Sie sind zunächst sprachlos, hilflos. Natürlich wussten Sie insgeheim, dass so etwas irgendwann kommen würde. Und Sie haben solche Möglichkeiten Dutzende Male mit Ihrer Schwester besprochen. Aber jetzt gerade? So abrupt? Zu dieser Uhrzeit? Die Ärztin stoppt jäh Ihr Grübeln: «Hat Ihr Vater eine Patientenverfügung?» Sie müssen zugeben, dass Sie keine Ahnung haben. Am nächsten Morgen sollen Sie in die Klinik fahren. Der Oberarzt wolle mit Ihnen besprechen, was nun zu tun sei. Es steht die Frage im Raum, ob man operieren soll, oder ob eine Dialyse gewünscht sei. Mit einem Mal sind alle Ihre Alltagsgedanken nur noch unwesentliche Randnotizen. Sie ahnen, dass nun eine Zeit folgt, auf die Sie nicht vorbereitet waren, die Ihnen viel abverlangen wird, eine bedeutsame Zeit in Ihrem Leben. Jede und jeder von uns kommt – statistisch betrachtet – mehr als einmal im Leben in so eine Situation. Nicht nur, dass wir hin und wieder schwierige Entscheidungen über unsere eigene Gesundheit treffen müssen. Nein, wir müssen auch immer öfter über Verwandte und Freunde mitentscheiden. Wir sind herausgefordert, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind ethisch gefordert, müssen unsere Entscheidungen begründen und Argumente abwägen. Deshalb müssen wir uns alle, früher oder später, mit ethischen Entscheidungen im Gesundheitswesen beschäftigen. Davon handelt dieses Kapitel. Und es handelt auch davon, dass die Ethik mittlerweile selbst eine akzeptierte Disziplin im Gesundheitswesen ist. Wir beide sind als Ethiker an zwei großen Universitätskliniken in der Schweiz angestellt. Wir werden Ihnen von unserer Arbeit erzählen, möchten Ihnen nahebringen, was sogenannte klinische Ethiker und Ethikerinnen machen, wie sie arbeiten, in welchen Situationen sie gerufen werden. Das alles, um Sie selbst zum Nachdenken anzuregen. Wie oben schon geschrieben: Früher oder später haben wir alle mit den gleichen Fragen und Themen zu tun. Warum aber braucht es überhaupt professionelle Ethiker in den Krankenhäusern? Das hat auch mit der heutigen Medizin zu tun. Wir möchten daher kurz umreißen, wie wir die gegenwärtige Medizin sehen. Wir möchten zeigen, weshalb sie ethische Orientierung und Hilfe braucht. Wie wir die Medizin sehen
Manche sagen, der kränkste Patient sei aktuell eigentlich das Krankenhaus selbst. Dass die Medizin sich in einer tiefen Krise befindet, an diese Meldung haben wir uns schon seit Jahrzehnten gewöhnt. Und heute, hören wir da nicht immer wieder dieselben Nachrichten: Kliniksterben, Fachkräftemangel, Überalterung, Fehlanreize, Übertherapie, Untertherapie, Mehrklassenmedizin, Wunschmedizin, Wartezeiten, Impfgegner, Lieferengpässe von Medikamenten – eine grausige Liste, die sich verlängern ließe. Irgendwie hängt alles zusammen. Sehr schwer zu verstehen. Der uns so wichtige Wert der Gesundheit scheint im Wirrwarr dieses kafkaesken Systems unter die Räder zu kommen. Dabei sollte es doch eigentlich gerade um diese Gesundheit gehen. Info-Box: Die industrialisierte Medizin Was kennzeichnet eigentlich unsere heutige Medizin? Im Grunde kann man es auf einen Begriff bringen: Wir haben es mit einer industrialisierten Medizin zu tun. Das ist einerseits das Geheimnis ihrer Erfolge, aber auch der Grund ihrer Risiken und Probleme. Die industrielle Medizin drückt sich in vier großen Entwicklungen aus: (1) Spezialisierung: Das Modell der Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung führt zu immer engerem Spezialistentum und einer Vervielfältigung der Gesundheitsberufe. Die Folge: einerseits vertiefte Expertise, die insbesondere Patienten mit seltenen Krankheiten zugutekommt. Andererseits entsteht dadurch ein überproportional hoher Bedarf an Koordination, interdisziplinärer Kooperation und interprofessioneller Kommunikation. (2) Szientismus: Das naturwissenschaftlich-technische Modell präsentiert sich heute in seiner Form 4.0, als digitale, automatisierte Medizin, die dank wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritte viel vermag. Aber zugleich vernachlässigt sie alle human- und sozialwissenschaftlichen Elemente der Medizin und schätzt Kommunikation gering. Szientismus meint dabei die ideologische Illusion, man könne alle Praxisprobleme durch naturwissenschaftlich-technische Mittel lösen, ohne Grenzen anzuerkennen. (3) Systemcharakter der Medizin: Durch die vielen Akteure und ihre engen Verflechtungen ist das Gesundheitswesen so komplex geworden, dass kaum mehr jemand es ganz durchschaut und versteht, wir sprechen von einer Opazität des Systems. Das erschwert es aber auch, das Gesundheitssystem zu reformieren. Es ist träge wie eine große, schwere Masse. Zudem ist das System durch eine juristische Überregulierung, durch Bürokratisierung, Kommerzialisierung und selbstverstärkende Beschleunigung charakterisiert. (4) Sozialisierung der Medizin: Wir erleben seit Jahrzehnten, dass die Medizin mehr und mehr herangezogen wird, um alle möglichen gesellschaftlichen Probleme zu lösen: Behinderung, Kriminalität, Leistungseinbußen, Schönheitsideale. Die Lifestyle-Medizin bietet entsprechend Medikamente und Operationen für alle möglichen Wünsche an. Medizin soll auch Geburt und Sterben komfortabler machen. Die Medikalisierung der Gesellschaft ist zugleich eine Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung der Medizin. Wieso braucht es in der Medizin Ethik?
Unsere heutige industrialisierte Medizin (siehe Info-Box) ist immer häufiger mit der Frage konfrontiert, ob sie das, was sie tun kann, auch tun soll. Zugleich aber bröckelt seit Jahrzehnten der Rahmen traditioneller moralischer Orientierungsinstanzen: Die Kirchen sind marginal geworden, die Parteien geben keine klaren Werte mehr vor, die moralische Autorität bestimmter Berufsgruppen wird hinterfragt, auch in den Familien ist die klassische Autorität der Eltern eigentlich Schnee von gestern. Und das ist gut so. Denn es schafft Raum für die beste Form ethischer Orientierung: den Dialog, das fruchtbare ethische Gespräch. Aber Sie ahnen es schon. Die Ethik ist kein Medikament, das unser Gesundheitswesen heilen kann. Das wäre zu simpel gedacht. Die Ethik ist eine Denktradition, ein gedankliches Werkzeug, die Suche nach Gründen für moralische Urteile. Und Ethik braucht Zeit, will entschleunigen. Ethik denkt bewusst langsam und ist kritisch. Aber, die Ethik ist auch wohlgesonnen. Sie versucht, Vorurteile und Vorverurteilungen möglichst zu vermeiden. Die Ethik handelt von dem, was uns wirklich wichtig ist. Von unseren Werten. Von dem, was wirklich zählt. Von den ganz großen Fragen. Und manchmal sind es auch ganz kleine Fragen, aber...


Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox hat den Lehrstuhl für Medizinethik an der Universität Lausanne inne und leitet dort auch die Klinische Ethikberatung am Universitätsklinikum CHUV. Jox ist Mitglied der Nationalen Ethikkommission der Schweiz und federführender Schriftleiter der führenden deutschsprachigen Fachzeitschrift "Ethik in der Medizin".

Prof. Dr. phil. Rouven Porz ist Assoziierter Professor für Medizinethik und Leiter des Fachbereichs "Medizinethik und ärztliche Weiterbildung" im Universitätskrankenhaus in Bern. Porz war Präsident der Europäischen Gesellschaft der Zentren für Medizinethik und ist aktuell Vize-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik.


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