E-Book, Deutsch, Band 127, 480 Seiten
Reihe: Recherchen
Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen
E-Book, Deutsch, Band 127, 480 Seiten
Reihe: Recherchen
ISBN: 978-3-95749-146-6
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum und dem Fonds Darstellende Künste.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der öffentliche Raum – eine Bühne von 360 Grad
von Clair Howells / Seite 10
Über die Kunst, Erinnerungen wachzuhalten und ins Heute und Morgen zu transformieren von Günter Jeschonnek / Seite 12
Unort-Projekte
Vom Unort zur Verunortung von Matthias Däumer / Seite 18
Heine – Wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx wie er im Traum in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Straße rauf und runter fuhr. Stationen eines Traumas
von Theater Willy Praml / Seite 22
Lost Campus von Theater Titanick / Seite 32
Exodus von Das letzte Kleinod / Seite 42
Dachau//Prozesse von Freies Theaterteam Karen Breece/Jurgen Kolb / Seite 52
Blankenburg von werkgruppe2 / Seite 64
Out of Bounds – GEHschichten eines Stadtteils von TheatreFragile / Seite 75
Das Haus :: Acht Räume Acht Spieler Ein Zuschauer von Verein für Raum und Zeit e. V. / Seite 89
Second Splash von Irina Pauls / Seite 99
Bonnkrott – Eine Stadt tanzt von bodytalk / Seite 108
Das Zentrum lebt! von Ender/Kolosko / Seite 116
state-theatre/translokal #1 von Constanze Fischbeck, Daniel Kötter und Jochen Becker / Seite 127
Rettungsschirme von The Working Partys / Seite 137
Expedition Thälmannpark von Theater Anu / Seite 145
Gräsertheater von Anna Peschke und Uwe Lehr / Seite 155
Zum goldenen Leben von Futur3 / Seite 164
Zeit heilt alle Stunden von Aktionstheater PAN.OPTIKUM / Seite 174
Wunderblock – Deutschland, Deine Speicher – 50 Jahre Super 8 von Philipp Hauß / Seite 184
ID-clash von Angie Hiesl und Roland Kaiser / Seite 194
Internationales Symposium
Begrüßung von Ilka Schmalbauch / Seite 212
Begrüßung von Clair Howells / Seite 214
Grußwort von Rüdiger Kruse / Seite 216
Impulsreferat: Die Öffnung des öffentlichen Raums von Walter Grasskamp / Seite 220
Impulsreferat: Über Wirklichkeitsbehauptungen und Handlungsspielräume
von Harald Welzer / Seite 225
Begrüßung von Günter Jeschonnek / Seite 231
Begrüßung von Ingo Woesner / Seite 240
Begrüßung von Ralph Woesner / Seite 243
Erstes Podium: Welche Rahmenbedingungen muss die Politik schaffen, um wirksames und gesellschaftlich relevantes Theater aller Sparten der darstellenden Künste im öffentlichen Raum zu ermöglichen? von Oliver Scheytt, Günter Jeschonnek, Anne Maase, Gerhard Baral, Stefan Behr, Ulf Großmann, Rainer Heller, Daniela Koss und Bernadette Spinnen / Seite 244
Zweites Podium: Reflexion zur Vielfalt und zum ästhetischen Spektrum der darstellenden Künste im öffentlichen Raum von Amelie Deuflhard, Günter Jeschonnek, Holger Bergmann, Jörg Lukas Matthaei, Tobias Brenk, Susanne von Essen, Fiedel van der Hijden, Christiane Hoffmann und Werner Schrempf / Seite 280
Drittes Podium: Wechselbeziehungen von künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum und Veränderungsprozessen der Zivilgesellschaft, der Stadtentwicklung und des ländlichen Raums von Benjamin Foerster-Baldenius, Günter Jeschonnek, Oliver Behnecke, Friedrich von Borries, Katja Drews, Jens Imorde, Frauke Surmann und Jörg Wagner / Seite 309
Viertes Podium: Neue Handlungsfelder, Strategien und Perspektiven der dar stellenden Künste im öffentlichen Raum von Bernard Fleury, Günter Jeschonnek, Angie Hiesl, Katja Aßmann, Sigrun Fritsch, Hilke Marit Berger, Clair Howells, Thomas Kaestle, Uwe Köhler, Werner Schrempf, Heinz Schütz, Jean-Marie Songy, Georg Winter, Ingo Woesner und Ralph Woesner / Seite 331
Diskurs
Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik von Frauke Surmann / Seite 370
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Matthias Däumer VOM UNORT ZUR VERUNORTUNG
Bei dem 2010 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz abgeschlossenen Projekt „Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung“1handelte es sich um den Versuch, den Begriff Unort über kulturtheoretische Ansätze anders zu fassen als bloß über die pejorative Vagheit eines Orts, mit dem irgendetwas irgendwie nicht stimmt. Theoretische Leitlinien, um das Phänomen besser beschreiben zu können, waren damals mehr als genügend vorhanden. So war es eher das Ziel, angesichts der Schwemme raumtheoretischer Ansätze seit dem sogenannten spatial turn, das Beschreibungsinstrumentarium für den Unort möglichst einzuschränken, um einen handhabbaren Kommunikationsrahmen für eine Tagung und später dann ein Buch abzustecken. Drei Denkmuster erwiesen sich dabei aus der Fülle an Theorie als entscheidend. Als erstes ist Marc Augés Konzept der Nicht-Orte (non-lieux) naheliegend,2 vor allem deshalb, weil es der gängigen Bedeutung eines Orts, mit dem irgendetwas irgendwie nicht stimmt, am nächsten kommt – mit der Spezifizierung, dass bei Augé das Irgendetwas und das Irgendwie benannt werden. Ihm geht es vor allem um „Transitorte“, Orte also, die nur passager durchmessen werden und dabei dem Individuum nicht (oder nicht mehr) die Möglichkeit bieten, sich selbst in ihnen zu sehen. Das heißt, dass man diese Orte identitätslos durchmisst, ohne Verankerungen in einer historischen oder kulturellen Zugehörigkeit. In kulturpessimistischer Haltung sieht Augé in der kapitalistischen Gesellschaft die Tendenz, dass auch ehemals identitätsstiftende und -bewahrende Orte zu diesen Nicht-Orten werden. Schaut man sich die Entwicklung deutscher Innenstädte an – mit ihrer enervierenden Redundanz der immer gleichen Markennamen, der immer gleichen Vergnügungsmöglichkeiten, des immer gleichen Impetus, der Identität mit Anpassung zu verwechseln droht –, ist man gewillt, Augé zuzustimmen. Jedoch ist man ebenso gewillt, dieser Tendenz entgegenzuwirken, nicht pessimistisch beschreibend, sondern optimistisch an einer Besserung zu arbeiten. Diesen Impetus kann man bei Augé durchaus vermissen. Das zweite Denkmuster führt in eine andere, weniger wertende Richtung: Michel Foucault beschreibt in „Von anderen Räumen“3 in einem ersten Schritt Orte, die von der Gesellschaft ausgegliedert wurden (beispielsweise Gefängnisse und Bordelle), um bestimmte Funktionen zu erfüllen, die im Mainstream unterdrückt werden. Ausgehend von diesen sogenannten funktionalen Heterotopien analysiert er Ausgrenzungen, die freiwillig und nach eigenen Regeln vollzogen werden. Zu diesen Regeln gehören spezifische Exklusions- und Inklusionsmechanismen; doch besonders charakteristisch erscheint eine Spiegelfunktion, die bewirkt, dass sich innerhalb der Heterotopien das Gesamte der Gesellschaft wiederfinden lässt, oft in verkleinertem Maßstab oder aber im symbolischen Verweis. Foucault stellt fest, dass diese Unorte die Tendenz besitzen, ein eigenes Zeitverständnis zu entwickeln. So werden sie zu Heterochronien, die es ermöglichen, dass der Ort in seiner historischen Dimension durchlässig wird, dass sich also seine Geschichte wortwörtlich re-präsentiert. In diesem Punkt aber stehen Foucaults Heterotopien den Nicht-Orten Augés diametral entgegen. Man kann zu dem Schluss kommen, dass es zwar verbindende Elemente zwischen den Unorten gibt, dass ihre letztendliche Ausprägung jedoch von dem abhängig ist, was man mit ihnen macht, dass es also eine wie auch immer beschaffene Handlung ist, die entscheidet, ob aus einem speziellen Ort ein transitärer und ahistorischer Nicht-Ort oder aber eine die Gesellschaft und ihre Geschichte en miniature spiegelnde Heterotopie wird. Ausgehend von diesem Kippmoment wurde es entscheidend, einen weiteren Denker einzubeziehen, der den Weg vom theoretischen Unort zu den Praktiken des Verunortens und somit zu den Entscheidungsleitungen zwischen Nicht-Ort und Heterotopie ebnen würde. Solch ein Übergang findet sich in der Differenzierung von Ort (lieu) und Raum (espace), die Michel de Certeau in seiner Monografie Kunst des Handelns vornimmt.4 Er unterscheidet Ort und Raum nach dem Kriterium einer nicht weiter spezifizierten Handlung. Der Ort meint die physikalische Präsenz einer Straße, eines Gemäuers, einer Bühne. Wenn mit diesen Orten etwas gemacht wird, das Element der dynamischen Handlung zur statischen Physis hinzutritt, entsteht der Raum. Denkt man diese Unterscheidung weiter, kommt man zu der Frage: Kann es nicht auch Räume geben, die zwar durch eine raumkonstituierende Handlung entstehen, die jedoch in ihrer Eigenart unabhängig von den physikalischen Gegebenheiten sind, sich gar von diesen emanzipieren? Als Denkmuster für diese Kategorie des Unorts mag zunächst das Spiel eines Pantomimen dienen: Dieser vollzieht auf der Bühne, dem Ort, Handlungen, die den Betrachter glauben machen, es befinde sich beispielsweise eine gläserne Wand in seinem Bewegungsfeld, an die er grimassierend prallen kann. Die Wand ist, was die Örtlichkeit angeht, nicht existent. Nur der durch den performativen Akt konstituierte Raum kennt sie und lässt die unsichtbare Wand entgegen den physischen Gegebenheiten der Bühne zum entscheidenden Movens aller weiteren Handlungen des Pantomimen werden. Was ist diese Wand? Sie ist kein Ort und dennoch Raum – ein Unort. Der Weg von der Theorie zur Handlung, die das Wesen des Unorts als ent-historisierter oder aber die Historie symbolisierender entscheidet, ist kurz. Natürlich kann die unsichtbare Wand jene sein, die den Pantomimen vom Zugriff auf seine eigene Identität trennt oder aber auch einfach eine vergangene Wand, die im Sinne der Foucault’schen Heterochronie symbolisch in den Raum gezaubert wird. Diese Zauberei war es im Ungefähren, die ich erwartete, als mich Günter Jeschonnek, der damalige Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, als akademischen Berater für das Unort-Projekt anfragte. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich zum Gremium stieß, war die Ausschreibung ohne Kenntnis der Publikation Unorte von 2010 schon verfasst, und ich konnte mir nicht sicher sein, ob meine eigenen Gedanken wirklich zum Kommenden passen würden. Doch ich wurde nicht enttäuscht. Im folgenden Jahr wurde die Frankfurter Kurt-Schumacher-Straße zum Rhein, Emdener Kasernenmauern zur Schiffsbordwand, im Bonner Loch tanzten Obdachlosigkeiten, eine Lagerbaracke, neu errichtet, ward Schnittpunkt der Geschichte und aus Pottstraßen wurde der Nibelungenhort gehoben. Das Staatstheater war auf der Flucht, Plattenbauten: ausgelotet, eine Lokhallendurchquerung: descensus, Gentrifizierungen wurden Naturgebilde und Super 8 lernte wieder Laufen. SS-Prunk wurde biografischer Abgrund und das Paradies mit dem Bollerwagen durchmessen. Ein Garten wuchs zur Alternative, Zuchtareale wurden zersetzt, entäußert das Innere einer Psychiatrie und Badehäuser neu bewässert. Diese raumkonstituierenden Handlungen waren stets gesellschaftlich bereichernd: über ein Re-Präsentieren der Geschichte, ein aktives Neu-Verorten des Verlorenen und eine Ort-Werdung des Unfassbaren. Nachhaltig generierten die Projekte ein kulturelles Kapital, das in seiner Wirkmacht nicht nur für die Projekte selbst, sondern für die generelle Notwendigkeit spricht, Theater im öffentlichen Raum in deutschsprachigen Gebieten zu stärken. Denn dieses Genre bildet – und dies sehe ich im harten Kontrast zu den Vorgängen auf übersubventionierten Guckkastenbühnen – eine neue (und zugleich uralte) Form des politischen Theaters, das nicht (wie Augé) kulturpessimistisch beschreibt, sondern dem Kritischen rituell entgegenwirkt; nicht wie Agitprop durch Programme und Parolen, sondern durch die Bereitstellung von Heterotopien, in denen der Zuschauer das Ganze des Politikums am Stellvertreter durchlebt. Damit offeriert Theater im öffentlichen Raum die Möglichkeit, den utopischen Wandel am eigenen Körper erfahrbar zu machen, nicht als fremdbestimmte Revolution, sondern als freiwilliger Wandel des Selbst. Ich habe versucht, diese Wirkung in den Beschreibungen der insgesamt 18 Unort-Projekte festzuhalten. Die Texte sind – das kann und will ich nicht leugnen – subjektiv geprägt. Sie versuchen, Flüchtiges in Schrift festzuhalten und können so dem Gesamteindruck und dem erfahrenen Wandel nie gerecht werden. Doch trotzdem hoffe ich, dass sie dazu dienen, ein Bild von den Aufführungen und ihrem jeweiligen Stellenwert im Vorgang der fortschreitenden positiv gewendeten Verunortung zu verdeutlichen. Und ebenso hoffe ich, dass aus ihnen hervorgeht, was für eine große Freude es mir bereitet, zu sehen, dass das eigene theoretische Schreiben einen Weg in die lebendige und engagierte Praxis finden durfte. 1Vgl. Däumer, Matthias/Gerok-Reiter, Annette/Kreuder, Friedemann (Hg.): Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld...