E-Book, Deutsch, 263 Seiten
Jeier Die vergessenen Frauen von Greenwich Village
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96148-135-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 263 Seiten
ISBN: 978-3-96148-135-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Bei dotbooks erscheinen folgende Titel des Autors: »Die Sterne über Vietnam« »Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn« »Flucht durch die Wildnis« »Sie hatten einen Traum« »Sturm über Stone Island« »Wo die Feuer der Lakota brennen« »Flucht vor dem Hurrikan« »Wohin der Adler fliegt« »Die Reise zum Ende des Regenbogens« »Hinter den Sternen wartet die Freiheit« »Die vergessenen Frauen von Greenwich Village« »Solange wir Schwestern sind« »Blitzlichtchaos« »Der Stein der Wikinger« Die Website des Autors: www.jeier.de Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier
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1
Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen, als Emma aus dem Fenster kletterte und das Haus ihres Onkels für immer verließ. Sie rannte an der Scheune vorbei, kletterte über den Zaun und floh über den Kartoffelacker zum Waldrand. Im Schutz der Bäume blickte sie voller Angst zum Dorf zurück. Erleichtert stellte sie fest, dass in keinem der Häuser ein Licht aufgeflammt war. Es gab keine aufgeregten Stimmen und kein lautes Hundegebell. Anscheinend hatte niemand ihre Flucht bemerkt.
Sie rannte weiter, floh über den schmalen Pfad, den sonst nur Holzfäller und Jäger benutzten, und hielt sich abseits der Landstraße, um keinen Reisenden zu begegnen. Dies war das Jahr 1909, und ein siebzehnjähriges Mädchen, das allein unterwegs war, hätte sogar tagsüber Verdacht erregt. Immer wieder drehte sie sich um. Wenn sie Glück hatte, würde man ihr Verschwinden erst am Morgen bemerken. Doch bis dahin wollte sie längst über alle Berge sein. Bis nach Hamburg waren es ungefähr dreißig Kilometer. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie die Strecke in zwei Tagen schaffen. Letzten Sommer, als sie zu einer Kusine ihres Onkels in die Nordheide gefahren waren, hatte sie sich den Weg genau eingeprägt.
Die Angst, von ihrem Onkel zurückgeholt zu werden, trieb sie vorwärts. Sie wollte nicht mehr zu ihm. Schon vor sieben Jahren, wenige Monate nachdem ihre Eltern in einem großen Feuer umgekommen waren und sie zu ihm gebracht worden war, hatte sie beschlossen, nur so lange wie unbedingt nötig bei ihm zu bleiben. Ihr Onkel hatte sie wie eine Sklavin behandelt. Sie musste im Stall und auf dem Acker arbeiten, und abends verlangte ihre Tante, dass sie beim Aufräumen in der Küche half. Ihr Geburtstag wurde überhaupt nicht gefeiert und zu Weihnachten gab es lediglich etwas Stoff zum Nähen oder neue Sohlen für ihre Schuhe. Das Buch über den Ritter Ivanhoe hatte sie vom Pfarrer bekommen. Noch schlimmer war jedoch, was vor zwei Monaten passiert war. Ihr Onkel hatte sich von hinten an sie herangemacht und mit beiden Händen ihre Brüste umfasst. Sie war weinend davongelaufen, doch er hatte sie eingeholt und ihr gedroht sie so zu verprügeln, dass sie es niemals vergessen würde, wenn sie ihn verriete.
Sie blieb auf einem Hügel stehen und ließ sich den kühlen Nachtwind ins Gesicht wehen. Das Frühjahr kam diesmal spät. Um sie herum herrschte tiefe Nacht. Es roch nach Regen, ein Segen für die vielen Bauern in dieser Gegend und gefährlich für sie, weil sie abseits der befestigten Straßen bleiben musste. Wenn sie bis zu den Knöcheln im Schlamm einsank und wie eine schmutzige Landstreicherin nach Hamburg kam, würde die Polizei sie anhalten und zu ihrem Onkel zurückschicken. Sie war noch nicht volljährig und hatte sich den preußischen Gesetzen zu beugen. Ihr Onkel besaß eine schriftliche Bestätigung über das Sorgerecht.
Leicht geduckt hastete sie am Waldrand entlang. Ihr Plan bestand darin, nachts zu laufen und tagsüber in irgendeiner Scheune zu schlafen, um möglichst ungehindert nach Hamburg zu kommen. Seitdem sie beschlossen hatte, ihrem Onkel und ihrer Tante wegzulaufen, hatte sie jeden Pfennig, den sie verdient oder geschenkt bekommen hatte, zur Seite gelegt. Jetzt waren hundert Reichsmark in dem Lederbeutel, den sie aus dem Versteck im Stall geholt und zu den Vorräten in ihren Rucksack gepackt hatte. Genug für eine Fahrkarte nach Amerika. Das wusste sie aus einem Artikel im Lüneburger Tageblatt, den sie in der Kirchenbibliothek gelesen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern war sie zwei Jahre auf der Schule gewesen und konnte gut lesen und schreiben. Sehr zum Leidwesen ihres Onkels, der sie sofort abgemeldet hatte, wegen des hohen Schulgeldes und weil es sich für ein Mädchen angeblich nicht lohnte, seine Energie für sinnlose Bildung zu verschwenden. Irgendwann würde sie heiraten, hatte er stets betont, und dann waren ganz andere Tugenden gefragt.
Sie erreichte den Nachbarort und blickte enttäuscht auf die dunklen Häuser und den Kirchturm. Das Dorf lag nur vier Kilometer vom Bauernhof ihres Onkels entfernt und sie war bereits seit über einer Stunde unterwegs. Wenn sie nicht schneller lief, würde sie eine ganze Woche für den Marsch nach Hamburg brauchen. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief in einem weiten Bogen um das Dorf herum. Ungefähr einen Kilometer weiter nördlich erreichte sie die Landstraße nach Hamburg. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich Kartoffelfelder. Die Gefahr, auf dem flachen Land entdeckt zu werden, war groß, aber sie musste das Risiko eingehen, wenn sie nicht einen Umweg von mehreren Kilometern in Kauf nehmen wollte. Entschlossen lenkte sie ihre Schritte nach Norden. Tief geduckt und beide Daumen hinter die Riemen ihres Rucksacks geschoben, rannte sie durch die Nacht. Als ein kleiner Hase dicht vor ihr über eine Furche sprang, schrie sie vor Angst auf und blieb wie erstarrt stehen, darauf gefasst, im nächsten Augenblick die aufgeregten Stimmen einiger Dorfbewohner zu hören.
Doch niemand hatte sie bemerkt. Sie blieb eine Weile auf der Landstraße, um schneller voranzukommen, und lief erst über die Felder nach Nordwesten, als sie eine Abkürzung durch einen Wald nehmen konnte. Obwohl es zwischen den Bäumen beinahe stockdunkel war, fühlte sie sich dort wohler. Im Wald wurde sie bestimmt von niemandem entdeckt. Sie blieb einen Augenblick stehen, ließ die unheimliche Stille auf sich wirken und marschierte zielstrebig über einen Wildwechsel. Einmal hörte sie ein Geräusch. Sie blieb sofort stehen, aber es war nur ein Reh, das ihren Weg kreuzte und erschrocken im Unterholz verschwand. Ungehindert erreichte sie das andere Ende des Waldes.
Gegen Morgen, als die ersten hellen Streifen am östlichen Himmel zu sehen waren, erreichte Emma das Ufer der Elbe. Der Fluss schimmerte silbern im Morgengrauen. Sie atmete die frische Luft ein, die über den Fluss kam und schon nach Meersalz roch, und lächelte zufrieden. Wenn sie in der nächsten Nacht genauso gut vorankam, würde sie am Vormittag Hamburg erreichen. Aus dem Artikel im Lüneburger Tageblatt wusste sie, dass sich alle Passagiere, die mit dem Schiff nach Amerika fahren wollten, in den Auswandererhallen auf der Veddel einzufinden hatten, einer Elbinsel abseits der Stadt. Dort musste man sich einer Gesundheitsuntersuchung unterziehen und einige Tage bleiben, bis man an Bord gelassen wurde. Die meisten Passagiere waren jüdische Auswanderer aus dem Osten, und die Behörden hatten Angst, dass sie Seuchen einschleppten oder auf die Schiffe brachten.
Emma hatte ihre Papiere aus der Schublade genommen, in der ihr Onkel alle Dokumente aufbewahrte, und ihr Geld reichte für den Aufenthalt in den Auswandererhallen und die Fahrkarte für die Überfahrt. Die einzige Gefahr war, dass ihr Onkel die Polizei alarmierte und man sie verhaftete, bevor sie an Bord gehen konnte. Doch sie hatte niemandem verraten, dass sie nach Amerika gehen würde. Niemand wusste von ihrem Plan, den sie schon vor einigen Jahren gefasst hatte, als sie die Bildpostkarte beim Apotheker gesehen hatte. Auch er sprach ständig davon, nach Amerika zu gehen, obwohl er wusste, dass er viel zu feige für ein solches Abenteuer war. Er hatte eine Frau und zwei Kinder und gehörte zu den angesehensten Bürgern des Dorfes. Warum sollte er auswandern?
Amerika, das Land der Freiheit. Das Paradies auf Erden, in dem es keine Armut und keine Unterdrückung gab. So stand es auf den Plakaten der Gesellschaften, die für eine Auswanderung warben. Dort würde sie endlich auf eigenen Füßen stehen. Niemand würde sie wie eine Sklavin behandeln oder unsittlich berühren. In Amerika, so hieß es, hatte jeder Bürger die gleichen Chancen, wurde kein Unterschied zwischen einem armen Bauernmädchen und der Tochter eines Kontorvorstehers gemacht. Sie würde ihr eigenes Geld verdienen, in ihrem eigenen Zimmer wohnen, und wenn sie einmal heiratete, würde sie nicht so abhängig von ihrem Mann sein wie ihre Tante, die ihrem Gatten hilflos ausgeliefert war. Ihre Tante war nie zur Schule gegangen, hatte nie einen Beruf erlernt und war gar nicht imstande sich selbst zu ernähren. Einmal hatte sie von einem Stiefbruder erzählt, einem gewissen Heinrich Rink, der schon im letzten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert war und angeblich ein Eisenwarengeschäft in New York führte. Sie hatte nie mehr von ihm gehört, aber in ihren Augen war ein verräterisches Glitzern gewesen, als sie seinen Namen genannt hatte. Sie wäre wohl auch gerne nach Amerika gefahren.
Noch bevor die Sterne vom Himmel verschwanden, versteckte Emma sich im Schuppen eines Bauern. Das baufällige Gebäude erhob sich am Rand einer großen Wiese, auf der im Herbst wohl Heu gemacht wurde. Bis auf ein paar Heuballen und einige Geräte, die an den Wänden lehnten, war der Schuppen leer. Eine morsche Leiter führte auf eine Plattform an der Stirnseite empor. Sie verkroch sich zwischen die Heuballen und setzte ihren Rucksack ab. Darin waren etwas Käse und Speck, ein Stück Brot, ihr Sonntagskleid, frische Unterwäsche und das Buch über Ritter »Ivanhoe«, das sie mindestens zehn Mal gelesen hatte und unterwegs wieder lesen würde. Außerdem eine Flasche mit kaltem Tee und der Beutel mit dem Geld. Die Vorräte hatte sie heimlich aus der Küche gestohlen, während ihre Tante zu Bett gegangen war.
Schließlich aß und trank sie etwas, legte sich zwischen die Heuballen und bettete ihren Kopf auf den fest verschnürten Rucksack. Sie schlief sofort ein und träumte von den Hochhäusern, die sie auf der Bildpostkarte des Apothekers gesehen hatte. Gegen Mittag, als die ersten Regentropfen auf das Holzdach trommelten, schreckte sie aus dem Schlaf. Sie brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Die Tür war aufgegangen und klappte im böigen Wind auf und zu. Durch den Spalt sah sie die Bäume am Flussufer...




