E-Book, Deutsch, 203 Seiten
ISBN: 978-3-407-74876-8
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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EINS
Seit dem Tag, als ich Kanamas Kopf gefunden habe, hört niemand meine Stimme mehr. Kanamas Kopf lag in einem See von Blut mitten auf dem Weg zu unserem Haus. Sie sah mich an mit ihren großen dunklen Augen, die so unbeschreiblich glänzten, wenn sich die Sonne darin spiegelte. Die allerliebsten Augen der Welt. Jetzt waren sie starr und blind und ohne Licht. Als ich schreien wollte, löste sich meine Stimme nicht. Sie war irgendwo im Dunkeln eingesperrt. Sam lehnt den Kopf an den Rücksitz des Vans und schließt die Augen, in denen noch Tränenreste brennen. Alles Grau in Grau da draußen, Pisswetter, und das mitten im August. Wie es aussieht, heult der Himmel gerade mit ihm um die Wette. Solange sie noch in der Stadt unterwegs sind, will er lieber überhaupt nichts sehen. Er kennt den Weg zur Autobahn genau. Gleich, wenn sie den Park hinter sich gelassen haben, werden sie eine Zeit lang parallel zur Elbe fahren. Den Fluss vermisst er jetzt schon, genauso wie die Alster und den Schwimmverein – Wasser ist sein Element, er könnte auch als Fisch geboren sein. Da, wo es hingeht, werden sie von Wassermassen geradezu umzingelt sein. Mum kann nicht schwimmen. Dem Geräusch des Motors lauschend redet Sam sich ein, dass sie nur besonders lange Ferien vor sich haben. Dass es spätestens nach dem Probejahr zurück nach Hamburg gehen wird. Weil die ganze Sache sowieso nichts bringt. Es ist vielleicht nicht fair, sich das zu wünschen, doch während sie sich jetzt erbarmungslos entfernen, wünscht er es sich mehr als alles andere. Erst als der Motor leiser, wie auf gerader, freier Strecke, klingt, schlägt Sam die Augen auf. Außer ihnen ist noch niemand auf der Autobahn unterwegs. Eine Spur heller wirkt der Himmel jetzt, es nieselt nur noch schwach und wenig später hört es auf zu regnen. Die Scheibenwischer schwingen quietschend hin und her, breiten über Dreck und zerquetschten Fliegenkörpern Schmierbögen aus wie Engelsflügel. Dad scheint das überhaupt nicht wahrzunehmen. Seit sie losgefahren sind, haben er und Mum nicht ein einziges Wort gewechselt. „Dad, stell doch mal die Scheibenwischer aus und mach das Radio an!“, brüllt Sam von hinten in das Schweigen, das er plötzlich nicht mehr aushält. Sein Vater stoppt die Scheibenwischer und fängt an, am Einschaltknopf zu fingern. Viel zu laut dröhnt die Stimme eines Sprechers durch den Wagen. Dad zuckt zusammen, stellt das Radio leiser und sucht nach einem anderen Sender. Ein Rap von Eminem – „When I am gone“ – hämmert kurz durch den Wagen. Knurrend drückt Dad auf die CD-Taste. All you need is love … Die Beatles. Seine Favoriten. Ausgerechnet dieses Lied, als hätte er es für die Reise programmiert. Sam lockert seinen Anschnallgurt, um ein Stück nach vorn zu rutschen. Er beugt sich vor und platziert seine Hände auf die Lehnen zwischen seinen Eltern. Mum wendet kurz den Kopf, um ihn flüchtig anzulächeln. Sie trägt eine große Sonnenbrille, obwohl überhaupt kein Wetter dafür ist. Dads Hals glänzt rosarot von einem alten Sonnenbrand. Ein Rot, das sich mit dem seiner Haare beißt. Mit dem rostroten Lockenkranz um seinen sonst kahlen Schädel. Auch Mum wirkt fast, als wäre sie völlig kahl. Ihr dichtes schwarzes Kraushaar ist so kurz geschoren, dass man ihre Kopfhaut sehen kann. Tief dunkelbraun, fast genauso dunkel wie ihr Haar ist ihre Haut. Eine Korallenkette schmiegt sich eng um ihren langen, schlanken Hals. Plötzlich erscheint sie Sam wie ein Bild. Das Bild eines fremden Zauberwesens. Felicitas – seine Mutter, die ihm oft ein Rätsel ist. Dad nennt sie Fe oder in besonderen Momenten seine Fee. Wie so oft wünscht sich Sam, dass er Gedanken lesen könnte, um herauszufinden, was gerade in ihr vorgeht, was sie fühlt oder denkt. Ob sie selbst überhaupt daran glaubt, dass ihr dieser Probeumzug helfen wird? Er schickt ein Stoßgebet zum Himmel. Nichts Konkretes, etwas, das wie bitte, bitte! in ihm klingt. Dads Hoffnung muss in Erfüllung gehen! Schließlich zahlen er und Sam einen hohen Preis. Sam verengt die Augen, bis vor seinem Blick alles wie in einem Aquarell verschwimmt. Auch der helle Bronzeton seiner Hände, die noch immer zwischen seinen Eltern liegen. Die Farbe seiner Haut ist die perfekte Mischung. „Sam, könntest du dir vorstellen, für einige Zeit auf Sylt zu leben? Unser Urlaub dort hat dir doch so gut gefallen.“ Mit diesen Worten hatte Dad ihn eines Abends im April vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn fand hinter geschlossener Tür im Arbeitszimmer statt. Zweifellos, um ungestört zu sein. Oder auch, um die Bedeutung der Angelegenheit zu unterstreichen. Dad tut immer alles mit Bedacht. Jedenfalls das meiste. Wie angeschossen stand Sam da. Unfähig aufzunehmen, was er hörte, geschweige denn, einen Sinn darin zu sehen. Natürlich nicht! Was für eine Scheißidee! Erst Sekunden später blitzte die Erkenntnis auf: Dieser Zwischenfall im Kaufhaus … „Bestimmt erinnerst du dich, wie gut es Mum auf der Insel ging. Das Leben in der Großstadt … ich glaube, im Augenblick ist das zu viel für sie.“ Dad machte eine Pause. In seinen Augen lag eine Bitte und auch etwas Trauriges, das Sams Widerstand im Keim erstickte. „Peter will für ein Jahr ins Ausland gehen und braucht dringend jemanden, der ihn vertritt. Ich hätte viel mehr Zeit für euch.“ Peter war Dads Studienfreund und wie er Orthopäde. Sam biss sich auf die Unterlippe. Alles längst beschlossene Sache also! Und die Frage, ob er sich das vorstellen könnte, bloß eine von den Fragen, die sein Vater rhetorisch nannte. „Und was passiert mit unserem Haus?“, fragte er. „Es bleibt unser Haus“, erwiderte sein Vater fest. „Wir lassen unsere Möbel hier und nehmen nur das Allernötigste mit. Du kannst natürlich einpacken, was du willst. Wir werden das Haus vorläufig untervermieten. Für ein Jahr. Mehr soll es erst mal gar nicht sein. Danach wird man weitersehen. Wenn es uns allen besser geht, entscheiden wir gemeinsam, ob wir bleiben wollen.“ Er beugte sich vor. Lächelte. Ein Lächeln, das Sam jedes Mal umhaut, weil Dad nur ihn und Mum so anlächelt. So zärtlich. „Sam, ich weiß, ich verlange ungeheuer viel von dir! Trotzdem hoffe ich, dass ich auf dich zählen kann.“ Ich kam an einem Sonntag im August in einem kleinen Dorf auf die Welt. Und genau an diesem Tag erhielt ich auch meinen Namen. Mein Vater hat ihn für mich ausgesucht, weil ich ein bisschen wie ein Junge aussah und er sich, nachdem er schon zwei Töchter hatte, eigentlich einen Jungen wünschte. Er nannte mich Nkulikiyinka. Umehire hieß die Erstgeborene, Ingabire die zweite. Umehire, das bedeutet „Glück“, Ingabire „Geschenk“. Nkulikiyinka aber ist ein völlig anderer Name. Nkulikiyinka, das ist die, „die der Kuh hinterherläuft“. Meine Mutter wollte diesen Namen nicht, doch mein Vater hat sich durchgesetzt. Ich war ein wildes Kind, das nur selten still sein konnte, pausenlos sprang ich herum wie ein junges Kalb, sodass mein Vater mich Inyana, „Kälbchen“, rief, und schon bald taten es die anderen auch. „Inyana dies!, Inyana das!“ Den ganzen Tag lang lagen sie mir in den Ohren, versuchten mich zu bändigen, knufften, küssten und umarmten mich, was auf die Dauer wirklich lästig war. Sobald ich laufen konnte, floh ich zu den Kühen, die nach dem Weidegang ein Stück den Weg hinunter in den Ställen standen. Fünf Kühe waren es, eine schöner als die andere, und alle hatten Monatsnamen. Mutarama, Mata, Ukwakira, Gicurasi und Kanama. Kanama heißt „August“. Kein Wunder, dass Kanama meine Lieblingskuh war, oder? Weil sie doch meinen Monatsnamen hatte und noch dazu die allerliebsten Augen der Welt! Du musst wissen, ich war felsenfest überzeugt, dass Kanama mir gehörte. „Ich geh zu meiner Kuh“, war mein Spruch, mit dem ich meine Schwestern regelmäßig auf die Palme brachte. „Zu deiner Kuh?“, fragte meine Mutter dann und zog die Augenbrauen hoch. Ich aber hob das Kinn. Nur in Shorts und Badelatschen, das Waveboard neben sich, hockt Sam auf der Mauer vor dem Ferienhaus, das Dad für sie gemietet hat. Seit einer Woche sind sie hier und eigentlich könnte Sam sich wie im Urlaub fühlen. Das Haus hat alles, was man braucht, aber nichts von einem richtigen Zuhause. Helle Räume, zweckmäßig und modern eingerichtet, ein paar Drucke an den weißen Wänden. Inselbilder....