Roman
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-8412-0113-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabrina Janesch, Jahrgang 1985, studierte Kreatives Schreiben, Kulturjournalismus und Polonistik. Sie war erste Stadtschreiberin von Danzig. Für 'Katzenberge' wurde sie mit dem Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt, dem Nicolas-Born-Förderpreis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. 2011 war sie Stipendiatin im Ledig House/New York. 2012 erschien ihr Roman 'Ambra', 2014 'Tango für einen Hund'. Mehr zur Autorin unter www.sabrinajanesch.de
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1;Katzenberge;8
2;Danksagung;274
(S. 7-8)
Frühmorgens im Oktober aus dem Haus zu treten, noch dazu, wenn der schlesische Nebel über den Feldern des Katzengebirges liegt, ist meistens ein sicheres Zeichen von Schlafwandlerei. Wem würde es sonst einfallen, die Wärme der Daunendecken zu verlassen und sich der Kälte und der Feuchtigkeit auszusetzen, die nach wenigen Minuten unter den Mantel kriechen und die Haut mit einem eisigen Film bedecken. In den Schwaden verschwinden die Tümpel und Bäche, die sich durch das Land ziehen; man läuft Gefahr, kopfüber in den Morast zu den Fröschen und Kröten hinunterzustürzen, die sich bereits in der Winterstarre befinden und keinen Laut von sich geben.
Hat man es dennoch geschafft, auf dem Fahrrad die kleine Anhöhe zu erreichen, die die Dörfer Osola und Bagno voneinander trennt, und blickt hinunter, wogt dort in der Senke eine weiße See. Auf ihrem Grund liegen Höfe und Ländereien, kleine Weiler und Flussläufe. Der Nebel umschließt auch die Wochenendhäuser, samt ihren Terrassen, Pavillons und Badeteichen, die man neuerdings auf den Wiesen erbaut hat. Sie kommen den alten Höfen immer näher, umkreisen sie, treiben sie zusammen. Man muss den Weg, der durch Lärchenhaine ins nächste Dorf führt, Meter für Meter genau kennen, um nicht von der Anhöhe abzukommen oder versehentlich in den Eichenwald abzubiegen, der gleich hinter dem letzten Haus der Siedlung beginnt.
Das obere Ende des Waldes verschwindet unter der bleichen Haut, und unten, am Waldboden, wo sich sonst Hartriegel und Wacholderbüsche ineinanderranken, fließt der Nebel um die Stämme und verwischt ihre Konturen. Zu Füßen des Eichenwaldes, getrennt nur durch einen Bach und einen Schotterweg, liegt das letzte Gehöft der Siedlung. Es ist in einer Mulde versteckt, die weder vom Nachbardorf Osola noch von der Siedlung Morz÷cin Maly aus eingesehen werden kann; nicht einmal der nächste Nachbar hat Einblick in das Hufeisen, das Wohnhäuser, Stallungen und Scheune bilden.
Um die Gärten stehen dichte Reihen von Sauerkirschbäumen und verkrüppelten, kleinwüchsigen Kiefern, so dass man den Hof erst bemerkt, wenn man unmittelbar vor dem grün lackierten Tor steht. Gleich hinter dem Tor wächst ein Walnussbaum, der seine Zweige über den Weg ragen lässt. Im Oktober verteilt der sonst unscheinbare Baum seine grünen Kugeln gleichmäßig über den Innenhof und die Einfahrt. Während ich das sperrige Herrenfahrrad festhalte, öffne ich das Tor von innen. Mit meinem ganzen Körpergewicht stemme ich mich gegen das Fahrrad, um es über Grasbüschel, faulende Eichenblätter und Walnussschalen zu schieben.
Das vordere Rad ertastet die Mitte des Weges und spürt einigen Schlaglöchern nach. Dann sitze ich auf und fahre zögerlich an der Stelle vorbei, wo sonst die Gerippe der Sauerkirschbäume und Kiefern zu sehen sind – mein Blick reicht nur bis zu meinem Lenker und dem Stück Weg direkt darunter. Ich fahre aus Versehen auf die Grasnarbe und kippe beinahe um. Für einen Moment halte ich an und lausche, aber es ist nichts zu hören. Ein paar Meter neben mir meine ich, einen Schatten gesehen zu haben, den Einen, Unerhörten, der aufmerksam jede meiner Bewegungen verfolgt. Mein Herz schlägt schneller, und meine verschwitzten Hände umschließen die Griffe.