E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Jalonen Von Männern und Menschen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86648-327-9
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-86648-327-9
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Sommer, in dem alles zum ersten Mal geschah
Sommer 1972 in der finnischen Provinz: Als sein Vater erkrankt, wird der 17-jährige Erzähler von einem Tag auf den anderen in die Pflicht genommen - vorbei sind die unbeschwerten Tage seiner Kindheit. Anstatt Krebse zu fangen, verbringt er die Ferienmonate mit dem Bau von Regenrinnen und taucht ein in die bislang fremde und oft raue Welt der Erwachsenen. Doch der Arbeit am Tag folgen lange, warme Abende und Nächte, in denen heimliche Unternehmungen zu Abenteuern ganz anderer Art führen . . .
Mit großer menschlicher Wärme, Weisheit und subtilem Witz erzählt der preisgekrönte Autor Olli Jalonen in seinem neuen Roman von einem finnischen Sommer in den Siebzigern, in dem Piratensender ihre Hochphase erleben, die ganze Welt von den Olympischen Spielen in München redet - und der unvergessliche Held der Erzählung zum Mann wird.
Olli Jalonen, 1954 in Helsinki geboren, zählt zu den bedeutendsten Autoren Finnlands. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Finlandia Prize, und in verschiedene Sprachen übersetzt. Bei mare erschien zuvor sein Roman 'Vierzehn Knoten bis Greenwich' (2010).
Weitere Infos & Material
SOMMER MIT KREBSEN
»Herr Präsident! Wenn Sie erlauben, möchte ich mich bei Ihnen, Herr Präsident, nach Ihrer geschätzten Meinung über die Probleme unseres Landes erkundigen. Wie sehen Sie die gegenwärtig schwierige Lage?« »Mitbürger! Mit großer Genugtuung. Wichtig ist die Sicherung eines stabilen Wirtschaftswachstums und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, denn nur so schaffen wir eine feste Grundlage für unsere Wirtschaft und können bessere Lebensbedingungen garantieren.« Ja, da muss eine Mischbatterie her. Man kann nur noch auf einer Stelle direkt darunter stehen und muss sich ständig drehen, damit es sich wenigstens einigermaßen richtig anfühlt. Die Schlauchenden sind mit Kupferdraht und Nägeln an der Saunawand befestigt. Aus dem einen Schlauch kommt es glühend heiß und aus dem anderen so kalt, dass im Frühjahr sogar Eissplitter mit im Wasser sind und sich auf der Haut rote und weiße Striemen bilden. Die Dusche ist erst letzten Sommer installiert worden und auch nur, weil Vetter Lampinen kam, um bei der Erneuerung des Bodens in der Sauna zu helfen, nachdem mein Vater seinen ersten Infarkt gehabt hatte und über der Deichsel des Betonmischers zusammengebrochen war. Vorher hatte er nie jemanden um Hilfe gebeten, aber da hat er dann Lampinen angerufen. Lampinen gehört die Installationsfirma Volles Rohr KG, allerdings machen sie mehr Dächer und Regenrinnen, weil man dabei leichter auf seinen Schnitt kommt und keine Fachmänner fürs Warten bezahlen muss, sondern den vollen Lohn nur zahlt, wenn Installationsaufträge reinkommen. In den Zwischenzeiten können sie nebenbei ein bisschen Blecharbeiten machen. So hat mein Vater es gesagt, ich weiß nicht, ob er vielleicht neidisch auf Lampinen ist. Gleich am ersten Tag schlug Lampinen vor, wie es wäre, vom Heizungsraum aus zwei Gartenschläuche durch die Apfelbäume über das ganze Grundstück und durch ein Loch in der Wand in die Sauna zu ziehen, dann hätten wir schnell eine billige Dusche. Man muss die Schläuche bloß an einen Duschhahn anschließen. Der Plan war gut, ging aber kurz vor Schluss doch nicht auf, weil mein Vater nach dem zweiten Infarkt für eine Woche ins Krankenhaus musste und anschließend alles unsicher geworden ist. Die Schläuche hängen offen in der Sauna, es gibt keine Hähne, sondern man muss die Stärke so gut es geht mit einer Klemme regulieren. Duschhähne und Mischbatterien sind teuer, wenn man sie neu kauft, aber Lampinen hat versprochen, an uns zu denken, wenn sie bei der Arbeit in der Firma auf eine alte stoßen, die noch in Ordnung ist. Lampinen hat zwei Namen. Vetter Lampinen wird er nur von meinem Vater und meiner Mutter genannt, obwohl er gar kein richtiger Vetter von meinem Vater ist, sondern bloß ein Großcousin oder etwas in der Richtung, aber es ist besser, ihn um Hilfe zu bitten als die Brüder meiner Mutter oder die Männer ihrer Schwestern, auch wenn die in der Nähe wohnen und Lampinen weiter weg in seinem neuen, vornehmen Haus hinter Parola. Im Winter ist es mit der Dusche so gewesen, dass man jedes Mal die Gartenschläuche umständlich leeren musste, indem man sie von den Ästen der Apfelbäume nach oben hievte und aus beiden Enden leer laufen ließ, damit sie nicht zufroren, aber trotzdem verstopfte der Kaltwasserschlauch nach dem Jahreswechsel immer stärker. Schließlich tröpfelte das kalte Wasser nur noch, und das heiße wurde ab Februar zu heiß, außer an den Fußsohlen. Zwar war der Fußboden bis in die Ecken ausgebessert worden, aber durch die Wände und unter der Tür hindurch zog es noch immer, sodass auch der neue Fußboden bei Minusgraden mit Reif überzogen war. Wenn man duscht, ohne vorher die Sauna geheizt zu haben, ist der grau gestrichene Beton anschließend glasglatt gefroren. Trotzdem ist es eine Verbesserung gegenüber früher. Den ganzen Winter hindurch habe ich jeden Mittwoch eine Volldusche genommen, und Samstag ist Saunatag. Bei zwei ordentlichen Waschgängen pro Woche behält man die Haut an den Schultern und im Gesicht besser unter Kontrolle. Was man sich am kleinen Waschbecken im Klo ins Gesicht spritzt, reicht nicht aus, trotz noch so viel Seife, Rexona oder Clearasil. Wenn die Kaltwasserleitung wieder Stück für Stück zu funktionieren beginnt, ist das ein erstes Anzeichen für den Frühling. Knisternd löst sich das Eis in den schwarzen Gartenschläuchen. Die Haut bekommt beim Duschen wieder Streifen und ist nicht mehr überall so rot wie die Krebse, die im großen Topf totgekocht werden. Ekelhafterweise muss ich mitten beim Duschen an sie denken. Ich mag das zähe Krebsfleisch überhaupt nicht, auch wenn man es umsonst bekommt. Im August gibt es das zu oft, manchmal jeden zweiten Tag, weil in den Seen, die unter Naturschutz stehen, die Krebse so leicht zu kriegen sind. Man muss bloß mit der Taschenlampe auf den Köder leuchten und dann von unten mit dem Kescher kommen. Nach einer halben Stunde ist der Eimer voll, und zu Hause werden sie dann an einem schattigen Platz in einem Bottich aufbewahrt. In den Holzbottich kommen ein bisschen Wasser und ein paar Lock-Karauschen, dann ein Stück Hühnerdraht und Wasserpflanzen drüber, damit die Krebse nicht an den Wänden hoch- und rausklettern. Manchmal entkommt trotzdem einer und kriecht aufs Nachbargrundstück, wo er dann stirbt. Am schlimmsten war es, als es mal einer, und zwar ein ziemlich großer, schaffte, sich bei schwerem Gewitter aus dem Bottich zu befreien, mehr als hundert Meter weit den Hügel hinunterzukriechen, oder vielleicht auch sich mit dem Regenwasser hinunterschwemmen zu lassen, und dann das Kunststück zu vollbringen, in den Saab des Pfarrers zu klettern. Da spreizte er dann, noch immer lebendig, auf dem Vordersitz die Scheren, als Pfarrer Numminen am Samstag zu einer Beerdigung musste. »Scheiße, da ist ein Krebs im Auto«, brüllte der Pfarrer so laut, dass man es bis zu seinem Nachbarn hörte. Der Nachbar hat es dann seinen Bekannten erzählt, und die haben es ihren Nachbarn weitergesagt. Solche wichtigen Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell. Seitdem wird der Pfarrer hintenrum der Scheiße-Numminen genannt, so wie die eine liberale Stadtverordnete seit einer stürmischen Sitzung nur noch die Scheiße-Villgren heißt. Unser Geschichtslehrer hat gesagt, dass zwar nicht die Pflicht besteht, aber dass jeder guten Grund hat, sich einmal eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung anzuhören. Ich bin hingegangen, obwohl es die anderen nicht getan haben, aber es war nichts anderes als das Auflisten von Zahlen und dann der Reihe nach Punkt eins und zwei und angenommen. Ich habe mit dem Stift eine weiße Linie in den Stuhl auf der Empore geritzt und versucht vorherzusehen, wann Schluss ist mit der sinnlosen Wiederholerei. Bei dieser Ansammlung von Schafen könnte ich durchaus auf die Idee kommen, Maritta Villgren zu wählen, weil die wenigstens einmal richtig widersprochen hat, habe ich mir gedacht, obwohl sie diesmal nichts gesagt hat, aber im Herbst darf ich noch nicht wählen, und das nächste Mal ist erst in zwei Jahren, und dann wähle ich Kekkonen. Beziehungsweise er wird dann ja nicht gewählt, sondern seine Amtszeit wird per Sondergesetz verlängert. Unser Lehrer hat darüber in mehreren Gesellschaftskundestunden gesprochen und gesagt, anderswo auf der Welt wäre so etwas durchaus üblich, zum Beispiel in Albanien und in Uganda. Im Vorraum der Sauna hängt ein Spiegel, dessen Versilberung stellenweise schon ganz trüb geworden ist, aber man sieht gerade noch genug. Nachdem ich mich mit dem Frotteehandtuch abgetrocknet und so das Blut zum Zirkulieren gebracht habe, drehe ich mir mit den Fingern meine feuchten Haare ein. So kriegt man fast eine Welle rein, und im Spiegel überprüfe ich dann, ob mir das überhaupt steht oder ob es nicht doch zu weiblich ist. Als ich letzten Herbst in die Oberstufe kam, hatten nur zwei Jungen eine Mini-Vague, aber jetzt gibt es schon mehr, die es haben, als solche, die es nicht haben. Es ist teuer, und man muss sich die Haare zuerst fast bis auf die Schultern wachsen lassen. Ich ziehe die restlichen Kleider an und gehe hinaus. Weil ich es vom Winter noch gewohnt bin, löse ich die Schlauch enden am Heizungsraum, nehme mir die Stange mit dem Haken an der Spitze und hebe die schwarzen Schläuche in den Apfelbäumen an, sodass keine Knicke entstehen und das Wasser in beide Richtungen ablaufen kann. Unter den Bäumen liegen noch Schneereste in unordentlichen Kreisen, und überall dort, wo sie nicht zu hohen Haufen zusammengeschoben worden sind, sowie unter den Regenrinnen ist bis auf etwas feuchten Matsch alles geschmolzen. Gegen die Sonne am hinteren Hang sieht man, wie die Erde dampfend trocknet. Mit alldem fängt der Frühling an, der an sich ja gut ist, wie man weiß, aber trotzdem hat man so ein flattriges Gefühl und weiß nicht ganz genau, warum. Der Mittwochabend ist hier der kleine Samstag und der Donnerstag der...