E-Book, Deutsch, 216 Seiten, eBook
Jahn Politische Streitfragen
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-531-90857-1
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 216 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-90857-1
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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Demokratischer Streit braucht gute Argumente. Die Politikwissenschaft lehnt es jedoch häufig ab, sich am aktuellen demokratischen Meinungsstreit zu beteiligen. Das ist in diesem Band anders. Egbert Jahn zeigt, wie mit politikwissenschaftlichen Argumenten in aktuellen Streitfragen diskutiert werden kann.
Dr. Egbert Jahn ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und Leiter des Forschungsschwerpunkts 'Neue Demokratien und Konfliktregulierung' am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.
Zielgruppe
Professional/practitioner
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;Vorwort;7
3;Politische Streitfragen. Zum Sinn und Zweck einer politikwissenschaftlichen Vorlesungsreihe zur Zeitgeschichte;11
3.1;Zusammenfassung;11
3.2;1 Vorbemerkungen zum Sinn und Zweck der Vorlesungsreihe;12
3.3;2 Politikwissenschaft oder politische Wissenschaft;17
3.4;3 Zeitgeschichtswissenschaft als Zweig der Politikwissenschaft;20
3.5;4 Zeitgeschichte als weltpolitisches Geschehen;21
3.6;5 Das Grundthema unserer Zeit;22
3.7;6 Die Vorlesung als Kommunikationsform;24
4;Der Kopftuchstreit. Zum Konflikt zwischen Laizismus ( Trennung von Staat und Religion) und religiöser Toleranz;28
4.1;Zusammenfassung;28
4.2;1 Kopftuchgebot oder Kopftuchverbot als Berufsverbot für manche muslimische Frauen;29
4.3;2 Vollständiges oder teilweises Verbot oder Duldung des Haartuches;32
4.4;3 Ungleiche Modernisierung und Säkularisierung der christlichen und islamischen Gesellschaft;35
4.5;4 Marginalisierung von konservativen Moslems und Stimulierung des Islamismus als fatale Folge des Kopftuchverbots;37
4.6;5 Kopftuchtoleranz als Mittel zur gesellschaftlichen und politischen Integration konservativer Moslems;39
4.7;6 Das Kopftuchverbot als Mittel zur Verdrängung wirklicher Integrationsaufgaben;43
5;Deutschland – ständiges Sicherheitsratsmitglied? Zu den Bemühungen um eine Reform der Vereinten Nationen;46
5.1;Zusammenfassung;46
5.2;1 Erhöhung der Legitimität und Effizienz des Sicherheitsrates durch neue ständige ( mit oder ohne Veto- Recht) und nichtständige Mitglieder?;47
5.3;2 Beharren auf einer Charta-Revision oder pragmatische Reform durch eine Veränderung der Arbeitsweisen und der Charta- Interpretation;49
5.4;3 Die satzungsbedingten Reformhindernisse im Völkerbund und in den Vereinten Nationen und die bisherigen Charta- Revisionen;52
5.5;4 Legitimitätsverlust des Sicherheitsrats oder Effizienzeinbuße durch Charta- Revision;58
5.6;5 Erhöhung der Legitimität des Sicherheitsrates ohne Charta-Revision;59
5.7;6 Bescheidene Reformen in der Arbeitsweise ohne Charta-Revision;60
6;Konfliktregulierung und Friedenskonsolidierung auf dem Balkan;63
6.1;Zusammenfassung;63
6.2;1 Innerstaatliche und regionale tödliche Konflikte sowie die internationale Verantwortlichkeit für den Frieden am Beispiel der Balkankriege;64
6.3;2 Konfliktparteien ausbluten lassen oder militärisch bzw. zivil in lokalen und regionalen Konflikten intervenieren?;68
6.4;3 Vom internationalen Friedensschluß ( peacemaking) zu friedenserhaltenden ( peacekeeping) und friedenskonsolidierenden Aktionen ( peacebuilding);70
6.5;4 Gefahren der Reanarchisierung des internationalen Systems und des euro- amerikanischen Friedensimperialismus;75
6.6;5 Ausweitung der internationalen zivilen Konfliktregulierung und der zivilen Friedenskonsolidierung;76
6.7;6 Zusammenspiel von nationalimperialem Hegemonismus und schrittweiser Internationalisierung von ziviler Konfliktbearbeitung;79
7;Erinnerung an Völkermord als politische Waffe in der Gegenwart. Das Beispiel des osmanischen Genozids an den Armeniern;81
7.1;Zusammenfassung;81
7.2;1 Politische Interessen an der Nichtthematisierung des Schicksals der Armenier unter osmanischer Herrschaft;82
7.3;2 Wechselseitiges Bürgerkriegsgemetzel oder Völkermord?;85
7.4;3 Die Modernität des Völkermordes im Zeitalter der Nationalstaatsbildung;90
7.5;4 Die Risiken eines internationalen politischen Zwanges zur Anerkennung der Tatsache des osmanischen Völkermordes an den Armeniern;94
7.6;5 Wissenschaftliche und öffentliche Thematisierung des Völkermordes ohne politischen Zwang;96
7.7;6 Die Gefahr der Instrumentalisierung des osmanischen Völkermordes in dem Streit um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union;96
8;Die Globalisierung des dänischen Karikaturenstreits;98
8.1;Zusammenfassung;98
8.2;1 Gewaltsame Proteste gegen Karikaturen mit Mohammed-Bildern;99
8.3;2 Meinungsfreiheit versus Respekt vor religiösen Normen;102
8.4;3 Die Globalisierung der öffentlichen Meinung;105
8.5;4 Globaler „Kampf der Kulturen“ oder Globalisierung der Einschränkung öffentlicher Meinungsfreiheit;108
8.6;5 Freiwillige Rücksichtnahme auf religiös-kulturelle Tabus;109
8.7;6 Stärkung national-kultureller Fremdenfeindlichkeit;112
9;Denglisch statt deutsch? Zur Veränderung des Sprachverhaltens in Deutschland;115
9.1;Zusammenfassung;115
9.2;1 Das Vordringen des Denglischen im Wortschatz, in der Grammatik und im Satzbau;116
9.3;2 Verdenglischung als Modernisierung oder Verdrängung der deutschen Sprache;121
9.4;3 Vergängliche Sprachmoden und dauerhafte Bereicherungen der Sprache;124
9.5;4 Rettung oder Verdrängung der deutschen Sprache;127
9.6;5 Zurückhaltende Übernahme englischer Fachausdrücke und eigenständige Schöpfung moderner deutscher Wörter;128
9.7;6 Verdenglischung als Übergangsstufe zu einer nationalistischen Regermanisierung der Sprachpolitik;130
10;Eskalation des Koreakonflikts durch nukleare Aufrüstung? Oder Aussichten auf nationale Wiedervereinigung?;132
10.1;Zusammenfassung;132
10.2;1 Wiederholte Eskalation des Koreakonflikts;133
10.3;2 Militärische Intervention in Nordkorea oder Nonprovokation und äußere Stabilisierung des kommunistischen Regimes;136
10.4;3 Das Unterlassen einer Entspannungspolitik in Ostasien;139
10.5;4 Nuklearkriegsgefahr oder langandauernde Spaltung Koreas;145
10.6;5 Nukleare Abschreckung und Kooperation;146
10.7;6 Systemkrise in Nordkorea und Kriegsgefahr;147
11;Der zweite Demokratisierungsversuch in Serbien, Georgien und der Ukraine;149
11.1;Zusammenfassung;149
11.2;1 Die Massenbewegungen gegen Wahlbetrug;150
11.3;2 Systemkosmetik oder substantieller Demokratisierungsschub;154
11.4;3 Ungünstige historische Voraussetzungen für die Demokratisierung vieler östlicher postkommunistischer Länder;157
11.5;4 Autonome Entwicklung sowie Demokratieförderung durch den Westen und die Perspektive der Integration in die NATO und EU;160
11.6;5 Priorität der autonomen Entwicklung und unterschiedliche Integrationschancen für Serbien, die Ukraine und Georgien;162
11.7;6 Gefahren der Re-Autokratisierung und Chancen der langsamen Demokratisierung der östlichen post- kommunistischen Länder;164
12;Integration oder Assimilation ethnischer Minderheiten. Zur Zukunft dänischer, sorbischer, italienischer, türkischer, deutscher und anderer Deutschländer in der Bundesrepublik Deutschland;166
12.1;Zusammenfassung;166
12.2;1 Das Nationalstaatsverständnis in Deutschland und die primäre staatliche Förderung der Muttersprache oder der Staatssprache;167
12.3;2 Staatssprache als Mittel zur gleichberechtigten sozialen Integration oder Zweisprachigkeit als Mittel zur Entwicklung einer integrationsfähigen Persönlichkeit;169
12.4;3 Das Nationalstaatsverständnis als zeithistorischer Hintergrund für Präferenzen in der Sprachenfrage;173
12.5;4 Sprachlich-ethnische Homogenisierung und Differenzierung des modernen europäisierten Nationalstaats;177
12.6;5 Freie Entscheidung zwischen begünstigter ethnischer Differenz und ermöglichter ethnischer Assimilation;179
12.7;6 Das Migrationstempo ist höher als das sprachlich-ethnische Assimilationstempo, wodurch die ethnische Heterogenität der Nationalstaaten in Europa wieder zunimmt;182
13;Der jüdisch-arabische Konflikt um die Staatsbildung und - konsolidierung im Nahen Osten;183
13.1;Zusammenfassung;183
13.2;1 Konditionen eines Staates Palästina neben Israel und die Reihenfolge der Schritte zur wechselseitigen Anerkennung der jüdisch- arabischen Zweistaatlichkeit;184
13.3;2 Gewaltbeendigung als Voraussetzung oder Folge einer politischen Einigung über die Gründung des Staates Palästina und die arabische Anerkennung des Staates Israel;186
13.4;3 Die Gründung Israels durch die Vereinten Nationen ohne Zustimmung der Araber und die langsame arabische und jüdische Anerkennung der Existenz Israels in den Grenzen von 1967;187
13.5;4 Unterschiedliche Risiken fortgesetzter Gewalt ohne die Gründung des Staates Palästina;194
13.6;5 Politische Einigung über die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Israel und dem zu gründenden Staat Palästina als Erleichterung der Beendigung der Gewalt und der gesellschaftlichen Minorisierung jüdischer und arabischer Maximalisten;196
13.7;6 Die geschwächte US-amerikanische Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten als günstige Gelegenheit für einen jüdischarabischen Kompromiß im Nahen Osten;198
14;Neue Perspektiven für die „eingefrorenen Konflikte“ im Südkaukasus durch die „Europäische Nachbarschaftspolitik“?;200
14.1;Zusammenfassung;200
14.2;1 Die „eingefrorenen Konflikte“ um die drei De-facto-Staaten Abchasien, Südossetien und Bergkarabach;201
14.3;2 Territoriale Integrität der international anerkannten Staaten oder Selbstbestimmungsrecht der Völker;205
14.4;3 Zarische, sowjetische und postsowjetische Südkaukasuspolitik;209
14.5;4 Aussichten auf eine Rückeroberung oder Anerkennung der De-facto- Staaten;212
14.6;5 Anreize für eine Status-Klärung der De-facto-Staaten durch die Europäische Nachbarschaftspolitik;213
14.7;6 Äußerst langsames Auftauen der national-territorialen Konflikte für eine friedliche Konfliktregulierung im Südkaukasus;215
Politische Streitfragen. Zum Sinn und Zweck einer politikwissenschaftlichen Vorlesungsreihe zur Zeitgeschichte.- Der Kopftuchstreit. Zum Konflikt zwischen Laizismus (Trennung von Staat und Religion) und religiöser Toleranz.- Deutschland — stÄndiges Sicherheitsratsmitglied? Zu den Bemühungen um eine Reform der Vereinten Nationen.- Konfliktregulierung und Friedenskonsolidierung auf dem Balkan.- Erinnerung an Völkermord als politische Waffe in der Gegenwart. Das Beispiel des osmanischen Genozids an den Armeniern.- Die Globalisierung des dÄnischen Karikaturenstreits.- Denglisch statt deutsch? Zur VerÄnderung des Sprachverhaltens in Deutschland.- Eskalation des Koreakonflikts durch nukleare Aufrüstung? Oder Aussichten auf nationale Wiedervereinigung?.- Der zweite Demokratisierungsversuch in Serbien, Georgien und der Ukraine.- Integration oder Assimilation ethnischer Minderheiten. Zur Zukunft dÄnischer, sorbischer, italienischer, türkischer, deutscher und anderer DeutschlÄnder in der Bundesrepublik Deutschland.- Der jüdisch-arabische Konflikt um die Staatsbildung und -konsolidierung im Nahen Osten.- Neue Perspektiven für die „eingefrorenen Konflikte“ im Südkaukasus durch die „EuropÄische Nachbarschaftspolitik“?.
Konfliktregulierung und Friedenskonsolidierung auf dem Balkan (S. 63)
Zusammenfassung
Vor wenigen Tagen, im Dezember 2005, haben die Generalversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Frieden eine Friedenskonsolidierungs- Kommission (peacebuilding commission) und die Einrichtung eines Büros für Friedenskonsolidierungsunterstützung im VN-Sekretariat beschlossen. Damit wird der neuen Aufgabe der VN, zur Konsolidierung des Friedens nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten und zur Vorbeugung vor Bürgerkrieg beizutragen, deutlich mehr Gewicht verliehen. Voraussetzung hierfür war die Erweiterung des Friedensverständnisses der VN. Im Sinne der Satzungen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen wurde im „kurzen 20. Jahrhundert (1914- 1991) als ein Zustand des Nichtkrieges zwischen den Staaten verstanden, ein System der internationalen kollektiven Sicherheit, das im äußersten Falle internationalen kriegerischen Zwang einschloß, sollte regionale, zwischenstaatliche Kriege verhindern oder rasch beenden. Bürgerkrieg und Völkermord in einem Staat galten hingegen als innere Angelegenheit eines Staates, in die allenfalls die Weltöffentlichkeit mit friedlichen Mitteln intervenieren durfte.
Seit dem Staatszerfall in Somalia 1992 und dann vor allem seit der Eskalation der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien werden unter Bedrohung des Friedens und Friedensbruch zunehmend auch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch Bürgerkrieg und Massenmord verstanden, die ein militärisches und ziviles Eingreifen des VN-Sicherheitsrates und anderer internationaler Organisationen erlauben oder gar erfordern.
Dabei kam fast das ganze Spektrum des internationalen friedenspolitischen Instrumentariums zum Einsatz: Friedenserzwingung (peace enforcement), Friedensschluß durch Waffenstillstand und Friedensvertrag (peacemaking), Friedenserhaltung durch eine Vereinbarung zwischen den Konfliktparteien und internationalen Regierungsorganisationen über den friedlichen Einsatz von Truppen, Polizisten und Zivilisten in einer Pufferzone (peacekeeping) und neuerdings auch Friedenskonsolidierung durch internationale Verwaltung und international vermittelte Kooperation zwischen den Konfliktparteien (peacebuilding). Der Mißerfolg und die Risiken zahlreicher Friedensbemühungen haben Stimmen aufkommen lassen, die vor einer Überforderung internationalen Friedensengagements warnen und empfehlen, Bürgerkriegsparteien sich ausbluten zu lassen, bis die beteiligten Bevölkerungsgruppen kriegsmüde geworden sind, Frieden könne nicht von außen gebracht werden.
Andere Stimmen fordern hingegen ein verstärktes militärisches und vor allem ziviles Eingreifen in Ländern, die unter Bürgerkrieg und Massenmord leiden oder zu leiden drohen. In Bosnien-Herzegowina und im Kosovo wurden nach Bürgerkriegen und Völkermorden, in Mazedonien aber bereits präventiv neue internationale Ansätze zur Friedenskonsolidierung praktiziert.
1 Innerstaatliche und regionale tödliche Konflikte sowie die internationale Verantwortlichkeit für den Frieden am Beispiel der Balkankriege
Hochgebirge wie der Himalaja, die Anden, der Atlas, das Äthiopische Hochland, die Alpen, der Kaukasus und der Balkan begünstigen die Kleinkammerigkeit ethnischer Siedlungsstrukturen und Vielfalt und haben weithin die administrative und staatliche Vereinheitlichung in der Gebirgsregion verhindert oder erschwert. Sie sind oftmals Rückzugsgebiete für militärisch unterlegene Völker, Religionsgemeinschaften und soziale Gruppen gewesen. Die kleinkammerige Siedlungsstruktur und die Lebensweisen von Hirten, Bauern und Handwerkern erlaubten die friedliche Koexistenz zahlreicher ethnischer Gemeinschaften auf engem, aber kaum durch Verkehr verbundenem Raum. Konflikte zwischen ihnen blieben meist lokal begrenzt.
Nur selten machen Bodenschätze und andere wirtschaftliche Ressourcen den Besitz der Bergregionen für Großmächte attraktiv. Viel häufiger gründet deren Herrschaftsinteresse an den Gebirgsgegenden auf der ökonomischen oder militärischen Transitfunktion von Bergtälern und Gebirgspässen. Wird die Siedlungsstruktur einer Gebirgsregion durch eine Veränderung der Wirtschaftsweise oder durch freiwillige oder erzwungene Migration erheblich verändert oder gefährdet, so haben sehr viele wirtschaftliche, soziale, politische und militärische Vorgänge a priori einen ethnischen Charakter, da sie das Verhältnis zwischen den Ethnien grundlegend verändern.