Buch, Deutsch, Band 195, 215 Seiten, KART, Format (B × H): 135 mm x 210 mm, Gewicht: 297 g
Reihe: Leben lernen
Buch, Deutsch, Band 195, 215 Seiten, KART, Format (B × H): 135 mm x 210 mm, Gewicht: 297 g
Reihe: Leben lernen
ISBN: 978-3-608-89006-8
Verlag: Klett-Cotta
Dieses, auch theoretisch recht anspruchsvolle Konzept hat der Autor für die praktische Arbeit des Psychotherapeuten »übersetzt« und ausformuliert. Anhand von acht psychoanalytischen Grundbegriffen
- Empathie
- Abwehr
- Spaltung
- Das Unbewußte
- Trauma
- Der Mythos der isolierten Psyche
- Übertragung / Gegenübertragung
- Affekte
beschreibt er anschaulich und konkretisiert an zahlreichen Fallgeschichten, wie Intersubjektivitätstheorie praktiziert wird und welche Fallstricke dabei zu umgehen sind.
Weitere Infos & Material
Vorwort
1. Kapitel: Psychoanalytische Mythen
Einleitung
Der Mythos des isolierten Geistes
Der Mythos der Neutralität
Der Mythos der Neutralität als Abstinenz
Der Mythos der Neutralität als Objektivität
Der Mythos der Neutralität und die wechselseitige Regulierung
Der Mythos der suggestionsfreien Deutung
Der Mythos der unkontaminierten Übertragung
Der Mythos der Objektivität
2. Kapitel: Introspektiv-empathische Untersuchung: eine intersubjektive Alternative zur Neutralität
Einleitung
Kohuts Kritik des impliziten Wertsystems der Psychoanalyse
Persönliche Bedeutungen versus objektive »Wahrheit«
Klinische Vignetten
Analytische »Wahrheit«: Eine emergente Eigenschaft des Dialogs
Probleme der Introspektion
Die Klinische Wirkung der introspektiv-empathischen Haltung
Missverständnisse über die Empathie
Der Umgang mit Geschenken und Fragen
Ein weiteres klinisches Beispiel
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Selbstpsychologie und Intersubjektivitätstheorie
Vergleich des Empathiekonzepts und der introspektivempathischen Untersuchung
Perspektivischer Realismus und das Risiko der Verbundenheit
Die irreführende Dichotomie von Innen und Außen
Empathie versus Authentizität?
Was ist eine empathische Intervention?
3. Kapitel: Affekte: der Paradigmenwechsel in der Psychoanalyse
Wer, um alles in der Welt, ist schuld daran, dass ich mir diesen Beruf ausgesucht habe?
Freuds Affekttheorie: psychologische Entdeckungen und metapsychologische Museen
Der Traditionalismus als Hindernis von Erneuerungen
Anmerkungen zum historischen Hintergrund des Traditionalismus
Affekte: Energieumwandlung versus Informationsverarbeitung
Klinische Vignette: Affekte und das Risiko der Verbundenheit
Die Unvermeidbarkeit des Risikos der Verbundenheit
Gefühle der Unverbundenheit im Dienst der Integritätserhaltung
Bedeutung und Handhabung der Wechselwirkung im therapeutischen Prozess
Klinisches Beispiel der Wechselwirkung in einer sexualisierten Übertragung
Das Gefühl der Dinge: Die Vielschichtigkeit des Gefühlslebens
Emotionales Gedächtnis
Klinisches Beispiel des emotionalen Gedächtnisses
Das emotionale Gedächtnis und Deutungen in der intersubjektiven Matrix
Emotionale Verfügbarkeit
Klinisches Beispiel der emotionalen Verfügbarkeit
Hindernisse und Einschränkungen der emotionalen Verfügbarkeit
Die Rolle der Affektivität in der Organisation des Selbsterlebens
Klinisches Beispiel der affektiven Responsivität
Die Selbstobjekt-Funktion der affektdifferenzierenden
Abstimmung: Abgrenzung und Selbstdefinition
Klinisches Beispiel der Affektdifferenzierung
Die Synthese widersprüchlicher Affekte und das integrierte Selbstgefühl
Affekttoleranz und der Gebrauch der Gefühle als Signale
Klinisches Beispiel der Entsomatisierung und Artikulation von Affekten
4. Kapitel: Trauma
Einleitung: Der dünne Vorhang
Die »Normalen« und die »Traumatisierten«
Klinisches Beispiel
Trauma: Unerträgliche Affekte
Trauma und der Umgang mit reaktivem Schmerz
Trauma zerstört die Zeit
Entwicklungstraumata
Klinisches Beispiel
Die Rolle der Zeugenschaft des Anderen
5. Kapitel: Übertragung
Einleitung
Klinisches Beispiel
Übertragung als Regression
Übertragung als Verschiebung
Ängste des Therapeuten
Übertragung als Projektion
Übertragung als Verzerrung
Die Deutung der »leading edge« der Übertragung
»Auf«spielen statt »Aus«agieren [acting up statt acting out]
Diskussion des Fallmaterials von Frau B.
Übertragung und Gegenübertragung: das intersubjektive Feld
Danksagung
Literatur
Vorwort
Robert D. Stolorow
Besser als jedes andere mir bekannte Buch über die therapeutische Praxis illustriert Chris Jaenickes Werk »Das Risiko der Verbundenheit«, wie ein Analytiker das, was ihm die eigene psychoanalytische Theorie vorgibt, praktiziert. Jaenickes psychoanalytische Theorie ist die intersubjektive Systemtheorie, das heißt ein Bezugsrahmen, der die tiefe emotionale Verbundenheit, die sich im therapeutischen Prozess zwischen zwei Menschen entwickelt, und die durch sie ermöglichten Einsichten ins Zentrum der analytischen Untersuchung des Feldes rückt, das durch die interagierenden emotionalen Welten beider Beteiligter gebildet wird. In dieser theoretischen Perspektive konstituieren Verstehen und emotionales Engagement ein unauflösliches kontextuelles Ganzes. Zu praktizieren, was die Theorie vorgibt, setzt deshalb voraus, dass beide Beteiligte das »Risiko der Verbundenheit« eingehen. Dies ist der rote Faden, der sich durch alle Kapitel von Jaenickes Buch zieht.
Scharfsinnig deckt Jaenicke die Mythen auf, mit denen Analytiker ihr Ausweichen vor der Gefahr eines tiefen emotionalen Engagements in der Vergangenheit gerechtfertigt haben. Da wären zum Beispiel der Mythos von dem neutralen und objektiven Analytiker und der damit direkt zusammenhängende Mythos der unkontaminierten Übertragung. Solche Mythen, allesamt Varianten jener Doktrin vom isolierten menschlichen Geist, die die Psychoanalyse von Descartes übernommen hat, können den Analytiker vor dem Gewahrsein seiner eigenen tiefen Beteiligung an jedem Aspekt des therapeutischen Prozesses schützen. Demgegenüber empfiehlt Jaenicke die empathisch-introspektive Erforschung des gesamten intersubjektiven Systems, die er mit ausführlichem Fallmaterial illustriert.
Jaenicke zeigt, dass es das eigentliche Ziel einer intersubjektiven, kontextualistischen Perspektive in der Psychoanalyse ist, den Affekt, das heißt das subjektive emotionale Erleben, in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Theorie und Praxis zu stellen. Weil das emotionale Erleben des Menschen von Geburt an in intersubjektive Kontexte eingebettet ist, kontextualisiert die Betonung des motivationalen Primats der Affekte ausnahmslos sämtliche Aspekte der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Jaenickes klinische Beispiele demonstrieren, dass die Kontextualität emotionaler Erfahrung nirgendwo deutlicher zutage tritt als im psychischen Trauma, das als überwältigender, unerträglicher Affekt erlebt wird.
Jaenicke stellt überzeugend dar, dass die Annahme einer intersubjektiven Perspektive auch das Verständnis der Übertragung, des mutmaßlichen Dreh- und Angelpunkts der psychoanalytischen Methode, radikal verändert. Unter intersubjektivem Blickwinkel wird die Übertragung als ein Erleben verstanden, das durch die psychische Welt des Patienten und durch Aktivitäten des Analytikers, die wiederum Manifestationen seiner eigenen psychischen Welt sind, ko-determiniert ist. Indem sich Patient und Analytiker emotional aufeinander einlassen, konstituieren sie gemeinsam ein dynamisches psychisches Feld. Die genaue Beobachtung, das Verstehen und die deutende Abklärung der Schicksale dieses intersubjektiven Systems bilden, wie der Autor zeigt, die eigentliche Essenz der psychoanalytischen Arbeit. Jaenickes Buch wird dem Kliniker, der vor den mit solcher Arbeit zwangsläufi g einhergehenden Risiken der emotionalen Verbundenheit nicht zurückschreckt, sondern sich der Herausforderung stellt, eine große Hilfe sein.
Santa Monica, April 2006
1. Kapitel
Psychoanalytische Mythen
»Übertragung und Gegenübertragung bilden zusammen ein intersubjektives System der wechselseitigen Beeinflussung.
Neutrale Analytiker, reine Deutungen, unkontaminierte Übertragungen - keine dieser mythischen Wesenheiten hat innerhalb eines solchen Systems Bestand«
Orange, Atwood, Stolorow
»Der analysierbare Patient ist der Patient, bei dem sich der Analytiker die Illusion der Neutralität bewahren kann.« Merton Gill
Einleitung
Vor 25 Jahren habe ich meinem Lehranalytiker einen Vorschlag gemacht: Ich bat ihn, unseren therapeutischen Prozess als Kartenspiel zu betrachten, genauer, als »52 card pick-up«. Bei diesem Spiel werden sämtliche Karten in die Luft geworfen und dann eingesammelt und so, wie sie kommen, ausgespielt. Mein Lehranalytiker war konsterniert und antwortete lediglich, dass ihm eine solche Vorstellung unmöglich sei. Hinter meinem Vorschlag steckte, wie ich mich erinnere, der Wunsch, ihm auf eine neue und für uns beide unvorhersehbare Weise zu begegnen. Ich fühlte mich getrieben von einer tiefen Sehnsucht, aus meinem Gefängnis der inneren Isolation auszubrechen, und einem diffusen Wunsch nach einer emotionalen Verfügbarkeit meines Analytikers, die ich bislang nicht kennen gelernt hatte. Seine Ablehnung veranlasste mich zu umso nachdrücklicheren Anstrengungen, Kontakt zu ihm zu finden und von ihm auf eine Weise gesehen zu werden, die existenziell wichtig für mich war. Meine gesamte Analyse schien auf eine einzige Frage hinauszulaufen: Mit dem Gefühl, gerade von einer Klippe gesprungen zu sein, fragte ich ihn, ob er die gleichen Gefühle für mich empfinde wie ich für ihn. Seine orakelhaft-analytische Antwort lautete, dass mir die Antwort bereits bekannt sei. Ich gab mich damit nicht zufrieden, sondern ging noch einen Schritt weiter und fragte ihn ganz direkt, ob er mich liebe. Ich habe seine Antwort nicht mehr in Erinnerung - »ja« lautete sie jedenfalls nicht. Gleichwohl ließ er mich spüren, dass ihn die Frage an sich berührt hatte. Es war, als öffnete er ein Fenster zu seinem eigenen Innern. Was ich erblickte, war etwas Rohes und Authentisches, eine Mischung aus Verletzbarkeit, Hilflosigkeit, Unbehagen und Irritation, weil ich ihm so zugesetzt hatte. Mir genügte dies. Eine Kluft zwischen meinem inneren Selbsterleben und ihm hatte sich geschlossen.
Dieses Buch ist zwei zentralen Themen gewidmet: Dem Risiko, das die Verbundenheit für den Patienten und für den Therapeuten bedeutet, und der klinischen Anwendung der intersubjektiven Systemtheorie. Ich hoffe, zeigen zu können, dass beide Themen miteinander zusammenhängen. Merton Gill (1983) schrieb, dass »der analysierbare Patient ein Patient [sei], bei dem der Analytiker sich die Illusion der Neutralität bewahren« könne (S. 213). In einem »Jenseits der Technik« überschriebenen Kapitel zitieren Orange, Atwood und Stolorow ([1997] 2001) Ferenczi als einen wichtigen Vorläufer ihrer Intersubjektivitätstheorie, weil er »anerkannte, dass die Psychoanalyse eine intime menschliche Pra xis konstituiert« (S. 48). Allgemein formuliert, besagt die These der Intersubjektivitätstheorie, dass »die Psychoanalyse Phänomene zu erhellen versucht, die in einem spezifischen psychologischen Feld auftauchen, das durch die Überschneidung von zwei Subjektivitäten konstituiert wird - der des Patienten und der des Analytikers. In dieser Konzeptualisierung wird die Psychoanalyse nicht als Wissenschaft vom Intrapsychischen verstanden, die sich auf Ereignisse konzentriert, die mutmaßlich innerhalb eines isolierten psychisches Apparates stattfinden [...] Vielmehr wird Psychoanalyse hier als Wissenschaft vom Intersubjektiven verstanden, die sich auf das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlich organisierten subjektiven Welten des Beobachters und des Beobachteten konzentriert [...] Die Psychoanalyse ist insofern einzigartig unter den Wissenschaften, als der Beobachter gleichzeitig auch der Beobachtete ist« (Atwood und Stolorow, 1983, S. 41 f.).
Wenn der Beobachter gleichzeitig der Beobachtete ist, fällt der »Cordon sanitaire« (Brandchaft, 1993) um den Therapeuten herum weg. Das Risiko, das die Verbundenheit für den Therapeuten mit sich bringt, erhöht sich dadurch gewaltig, denn seine neue Position macht ihn wesentlich verwundbarer. Therapeuten waren den stürmischen Gefühlen ihrer Patienten zu allen Zeiten ausgesetzt. Wenn man aber Pathologie nicht länger allein im Patienten lokalisiert, sondern dessen Affektzustände als untrennbaren Teil des psychoanalytischen Feldes betrachtet, das untersucht wird - eines Feldes, das nicht nur durch die Reaktionen des Therapeuten und ihre Auswirkungen auf den Patienten, sondern durch die gesamte Persönlichkeit des Analytikers mitbestimmt wird -, dann beginnen wir zu verstehen, welche Risiken die Verbundenheit für beide Beteiligte mit sich bringt und weshalb das Bedürfnis auftauchen kann, defensiv zu reagieren: Der Patient wehrt die Verbindung ab, indem er im Therapeuten den distanzierten Professionellen sieht, und dieser wiederum distanziert sich, indem er den Patienten als pathologisch betrachtet.
Ich habe die klinische Vignette aus meiner Lehranalyse nicht geschildert, um Einblick in meine eigene Psyche zu geben (auch wenn sie zweifellos entsprechende Rückschlüsse zulässt), sondern vielmehr, um drei Hauptthesen dieses Buches zu exemplifizieren. Die erste lautet, dass sich das Risiko der Verbundenheit unter einem intersubjektiven Blickwinkel als inhärenter und notwendiger Bestandteil der therapeutischen Behandlung erweist, weil die wechselseitige Regulierung aus intersubjektivistischer Sicht ein Sine qua non des therapeutischen Prozesses bildet. Die zweite These besagt, dass die Wahl der psychoanalytischen oder therapeutischen Schule, der sich ein Kliniker zugehörig fühlt, aufs engste mit seiner Subjektivität zusammenhängt, so wie alle Theorien in der Subjektivität des Theoretikers gründen (Atwood und Stolorow, 1979). Und drittens ist es in der Behandlung nicht nur unmöglich, der eigenen Subjektivität zu entkommen; sie stellt vielmehr die Grundlage unserer Arbeit dar.
[...]