Jäger | Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Jäger Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-641-19749-0
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein sprachgewaltiger Roman über eine unerfüllte Liebe, einen ungeklärten Mord und eine spannende Spurensuche

Im Herbst 1950 kommt der junge Wiener Historiker Max Schreiber in ein Tiroler Bergdorf, um einem alten Geheimnis auf den Grund zu gehen. Konfrontiert mit der archaischen Bergwelt und der misstrauischen Dorfgemeinschaft , fühlt er sich mehr und mehr isoliert. In seiner Einsamkeit verliert er sich in der Liebe zu einer jungen Frau, um die jedoch auch ein anderer wirbt. Als ein Bauer unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt, ein Stall lichterloh brennt und der Winter mit ungeheurer Wucht und tödlichen Lawinen über das Dorf hereinbricht, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Schreiber gerät unter Mordverdacht und verschwindet spurlos – nur seine Aufzeichnungen bleiben zurück.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später will ein alter Mann endlich die Wahrheit wissen. Von seinen eigenen Schatten verfolgt, begibt er sich auf Spurensuche in die Vergangenheit.

Raffiniert, voller Rhythmus und Poesie erzählt Gerhard Jäger von der Magie, aber auch von der Brutalität eines Ortes, der aus Raum und Zeit gefallen scheint.
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VOR SECHS TAGEN Sonntag »Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.« Es ist vierzig Jahre her, auf den Tag genau, dass diese Worte gesprochen wurden. Von einer Indianerin, über hundert Jahre alt, die Tochter des legendären Häuptlings Spottet Elk, der 1890 in dem Massaker am Wounded Knee erschossen wurde. So hat man es uns jedenfalls gesagt, vielmehr meiner Frau Rosalind, und deshalb schleppte sie mich an meinem vierzigsten Geburtstag zu dieser Indianerin. »Du musst zugeben, sich von einer indianischen Seherin die Zukunft voraussagen zu lassen ist ein ganz besonderes Geschenk. Noch dazu von der Tochter von Spottet Elk. Das musst du dir mal vorstellen.« Ich stellte es mir vor, denn wenn es um Indianer ging, kannte meine Frau keinen Spaß. Wie sich meine Frau dieses Treffen ausgemalt hatte, kann ich nur erahnen: Vielleicht hatte sie ein Zelt vor Augen gehabt, das Innere in ein fahles Licht getaucht, ein Feuer in der Mitte, seltsam riechende Kräuter, die zischend in den Flammen verbrennen, eine alte Indianerin, die trotz ihrer hundert Jahre mit erstaunlich geradem Rücken auf dem Boden sitzt, eine Trommel schlägt und mit kehliger Stimme uralte Lieder singt. Etwas in dieser Art. Aber ganz sicher keine Barackensiedlung und keinen Mann mit fettigen Haaren, nacktem Oberkörper und einer Bierflasche in der Hand, der die Tür öffnete und uns die freie Hand entgegenstreckte, um das Geld in Empfang zu nehmen. Wie viel meine Zukunft kostete, hat mir Rosalind nie erzählt. Der Mann führte uns in die Baracke, stickig, halbdunkel, ein plärrendes Radio, an der Wand ein dicker Polsterstuhl und darin, in Decken eingehüllt, ein uraltes menschliches Wesen. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich verstand nicht, erst als er mit dem Kinn eine herrische Bewegung nach unten machte, wurde mir klar, was er wollte: Ich kniete nieder, während er meine Hand nahm und sie der alten Frau in den Schoß legte. In diesem Moment, in dieser schwülen Hitze, das laute Radio im Hintergrund und die Bierfahne des Mannes in meinem Nacken, fielen die magischen Worte: »Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.« Diese Prophezeiung machte mir keine Angst. Wenn man mit vierzig erfährt, dass man mit achtzig sterben wird, so ist das weit weg. Und am achtzigsten Geburtstag zu sterben hat irgendwie auch Stil. Nach diesem Satz schien die Alte wieder in sich zu versinken. Ohne den Lärm des Radios wäre die Stille kaum auszuhalten gewesen. Ich wagte einen Seitenblick auf Rosalind. Sie stand etwa zwei Meter von mir entfernt, hatte eine Hand auf den Mund gelegt und fixierte einen imaginären Punkt an der Wand. Ich wartete, dann kam endlich wieder Bewegung in die Seherin. Sie nahm meine Hand, hielt sie ganz nah vor ihr Gesicht und suchte durch ihre dicke Brille hindurch nach meiner Zukunft. Schließlich führte sie die Hand zum Mund, streckte ihre Zunge heraus und leckte über meine Handinnenfläche. Sie verharrte kurz, ließ mich los und sagte etwas, was ich nicht verstand, was aber den Mann dazu veranlasste, vorzutreten und ihr die Flasche Bier zu reichen, die sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit ergriff und an die Lippen führte. Der Mann sah mich an und sagte: »Zu heiß heute, die Geister sind müde, kann man nichts machen.« Das war endgültig zu viel für Rosalind. Sie drehte sich abrupt um, stampfte zur Tür und verschwand. Ich blickte unsicher auf den Indianer, der bedauernd mit den Schultern zuckte. »Zu heiß, kann man nichts machen.« Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich noch kniete. Ich kam mir vor wie ein Idiot, stand verlegen auf, reichte dem Mann unsicher die Hand und verließ die Baracke. Rosalind saß schon im Auto. Ich stieg ein, startete den Wagen und fuhr los. Mir war bewusst, wie heikel die Situation war. Indianer waren Rosalinds Leidenschaft, wie sie diesen Reinfall nehmen würde, war nicht abzusehen. Nach einiger Zeit wagte ich einen Seitenblick, und etwas Wunderbares geschah: Unsere Mundwinkel verzogen sich nach oben. Wir lachten lauthals los. Dieses Lachen hatte etwas ungeheuer Befreiendes und war wirklich eines der schönsten Geschenke, die ich je zu meinem Geburtstag bekommen habe. Und das Vermächtnis dieser alten Indianerin hat in uns fortgewirkt. Der Satz »Die Geister sind müde« ging in das fixe Repertoire unserer Beziehung ein und hatte das Potenzial, schwierige emotionale Situationen im Nu zu entschärfen. Aber das ist nicht die Geschichte, um die es geht. Es ist trotzdem nicht verwunderlich, dass ich ausgerechnet jetzt daran denke. Es ist der siebte Mai 2006, mein achtzigster Geburtstag. Und ich sitze tatsächlich in einem dieser großen Vögel, ich sitze zwischen Himmel und Erde über einem nächtlichen Atlantik. Angst vor dem Tod habe ich nicht. Die Weissagung der alten Seherin hat eine andere Bedeutung für mich bekommen: Der Vogel wird mich nach Hause bringen, in das Land im Herzen Europas, in dem ich geboren wurde, in dem ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe und in dem ich noch etwas klären möchte. Und so bin ich jetzt auf dem Weg: weißbärtig, dünnbeinig, mit zitternden Händen, und habe mich von einer rothaarigen Stewardess mit himmelblauem Kostüm und himmelblauem Lächeln auf meinen Sitz führen lassen. Es ist weit nach Mitternacht, der Flug verläuft angenehm. Dafür habe ich auch gesorgt, ich habe einen Sitzplatz in der ersten Klasse gebucht. Ich denke, dass ich mir diesen kleinen Luxus gönnen darf, Rosalind würde mich verstehen. Zumindest bilde ich mir das ein. Seit wir nicht mehr zusammen wohnen, seit zwölf Jahren, verstehen wir uns viel besser. Ich gehe sie zweimal in der Woche besuchen, und das regelmäßig, immer am Mittwochnachmittag um halb drei und am Sonntagnachmittag um fünf. Die Zeiten habe ich mir nicht selbst ausgesucht, sie sind der Willkür der Fahrpläne geschuldet. Wie auch immer, wir haben uns daran gewöhnt. Ich lasse keinen der Termine aus, nur heute und die nächste Woche wird Rosalind vergeblich auf mich warten. Auch der kleine Blumenhändler wird vergeblich auf mich warten. Er hat die blauen Kornblumen, die ich Rosalind seit zwölf Jahren mitbringe, jeden Mittwoch bereits hergerichtet. Sie liebt Kornblumen über alles, und ich empfinde das als angenehm, weil es mir erspart, immer einen anderen Blumenstrauß aussuchen zu müssen. Und so nehme ich jeden Mittwoch die Blumen vom Verkaufstresen, bezahle, gehe die hundert Meter, die noch zu gehen sind, und lege den Strauß auf Rosalinds Grab. Ich mache das das ganze Jahr. Auch wenn die Blumen im Winter kaum die nächste Nacht überstehen und in einem sehr heißen Sommer auch nur einen oder zwei Tage. Am Sonntag, der Blumenhändler hat natürlich geschlossen, werfe ich die Blumen vom Mittwoch weg. Montag und Dienstag ist nichts auf dem Grab. Ich denke mir, dass Rosalind das mag. So ist die Freude über die frischen Blumen am Mittwoch umso größer. Auf dem Grabstein von Rosalind sind Flammen zu sehen: Flammen aus Blattgold, die unter ihrem Namen den Großteil des Grabsteins einnehmen. Das war der Wunsch von Rosalinds Schwester, die ich beim Begräbnis zum ersten Mal und danach nie wieder gesehen habe. Trotzdem hat sie es in den Wochen nach Rosalinds Tod geschafft, mir am Telefon einzureden, dass es diese Flammen am Grabstein brauchen würde, als Symbol für das ewige Licht. Ich war so kraftlos, dass ich sie nicht einmal auf die schwierige Symbolik der Flammen in Bezug auf den grauenhaften Tod Rosalinds aufmerksam machen konnte. Aber letztlich war es mir auch egal, wie der Grabstein aussah, und außerdem, so tröstete ich mich, hätte Rosalind sich über das Feuer gefreut – in indianischem Sinne. Irgendwo über dem Atlantik wird Essen serviert. Es schmeckt einigermaßen, aber ehrlich gesagt habe ich keinen Hunger, mir geht es mehr um die Ablenkung. Ich lasse mir zweimal etwas Wein einschenken, wohl wissend, dass mich nichts so müde macht wie Alkohol. Ich habe mich gut auf meine Reise vorbereitet, Material gesammelt. In Zeiten des Internets ist das kein Problem. Man gibt einen Suchbegriff ein, in diesem Fall »Lawinenwinter 1951«, und bekommt 27 000 Treffer in 0,47 Sekunden geliefert, wie mir mein Browser dienstfertig mitteilt. Ich verstehe das nicht, aber das muss ich auch nicht. Ich habe mir Dutzende Fotografien und Artikel über diesen Winter, der in Amerika als Winter des Terrors bekannt wurde, ausgedruckt, die besten sind in meiner braunen Ledertasche, die als Handgepäck zwischen meinen Füßen steht. Die Ledertasche war ein Geschenk von Rosalind an meinem letzten Geburtstag vor ihrem Tod. Wir haben diese Festtage immer zu zweit, nie mit Gästen gefeiert. Wir haben keine Kinder, Rosalind hatte kaum Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie, ich gar keinen zu meiner. Ich kann mich nicht erinnern, dass unser zurückgezogenes Leben für einen von uns jemals ein Problem gewesen wäre. Im Gegenteil, wir wollten es so. »Die Tasche ist aus Büffelleder! Echt indianisch«, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln und drückte mir augenzwinkernd einen zarten Kuss auf den Mund. Sieben Monate später war sie tot. Dieser Kuss war einer der letzten innigen und intimen Momente, die uns vergönnt waren. Ich widme mich wieder meinen Unterlagen, lese einen Artikel über diesen Winter, der Geschichte geschrieben hat – und Geschichten. Die meisten sind traurig. Zweihundertfünfundsechzig Tote in Österreich und der Schweiz, weit mehr, als jeder andere Winter in den Alpen gefordert hat. Allein in Tirol wurden mehr als fünfzig Dörfer von abgehenden Lawinen getroffen, und genau dahin, nach Tirol, wird mich meine vermutlich...


Jäger, Gerhard
Gerhard Jäger, geboren 1966 in Dornbirn, arbeitete als Behindertenbetreuer, Lehrer und Vertreter im Außendienst. Er absolvierte eine Journalistenausbildung und arbeitete als freier Journalist und als Redakteur. 1994 erhielt er ein Nachwuchsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 1996 den Vorarlberger Literaturpreis für einen bisher unveröffentlichten Roman. Gerhard Jäger verstarb am 20. November 2018.


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