Roman
E-Book, Deutsch, 784 Seiten
ISBN: 978-3-641-28073-4
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.
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1 Dem Taxifahrer war es offensichtlich peinlich, dass niemand – nicht einmal ein Angestellter an der Rezeption – anwesend war, um mich willkommen zu heißen. Er ging durch die menschenleere Halle, vielleicht in der Hoffnung, hinter einer der Pflanzen oder einem der Sessel einen Hotelangestellten zu entdecken. Schließlich stellte er meine Koffer neben den Aufzugtüren ab, brummelte ein paar entschuldigende Worte und verabschiedete sich. Die Hotelhalle war geräumig, einige Kaffeetischchen hatte man dort aufstellen können, ohne dass es gedrängt wirkte. Aber die Decke war niedrig und hing sichtlich durch, was eine leicht klaustrophobische Stimmung verursachte, und trotz des Sonnenscheins draußen war es hier düster. Nur beim Empfang sah man einen hellen Sonnenstreifen an der Wand, der einen Teil der dunklen Holztäfelung und ein Regal mit deutschen, französischen und englischen Zeitschriften erleuchtete. Auf dem Empfangstisch sah ich außerdem eine kleine silberne Klingel, und ich wollte gerade hinübergehen, um mich bemerkbar zu machen, als sich irgendwo hinter mir eine Tür öffnete und ein junger Mann in Uniform erschien. »Guten Tag«, sagte er gelangweilt, ging hinter den Empfangstisch und begann mit der Anmeldeprozedur. Obwohl er sich für seine Abwesenheit entschuldigte, benahm er sich noch eine ganze Weile recht schroff. Doch kaum hatte ich meinen Namen genannt, da schreckte er hoch und richtete sich auf. »Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Mr Ryder. Unser Direktor Herr Hoffman hatte Sie so gern persönlich begrüßen wollen. Aber gerade eben musste er leider dringend zu einer Sitzung.« »Das ist schon in Ordnung. Ich werde ihn dann ja später kennenlernen.« Der Mann am Empfang ging schnell die Anmeldeformulare durch, wobei er die ganze Zeit vor sich hin brummelte, wie sehr sich der Direktor ärgern würde, meine Ankunft verpasst zu haben. Zweimal erwähnte er, wie sehr die Vorbereitungen für »Donnerstagabend« ihn unter Druck setzten und ihn öfter als sonst vom Hotel fernhielten. Ich nickte einfach nur, ich konnte die Energie nicht aufbringen, ihn zu fragen, was genau denn »Donnerstagabend« geschehen würde. »Ach, Mr Brodsky war heute übrigens ganz großartig«, sagte der Angestellte, und sein Gesicht hellte sich auf. »Ganz einfach großartig. Heute Vormittag hat er vier Stunden ohne Unterbrechung mit dem Orchester geprobt. Und hören Sie ihn sich jetzt nur an! Er kann gar nicht genug bekommen, arbeitet immer noch für sich allein weiter.« Er deutete ans andere Ende der Halle. Erst da wurde mir bewusst, dass irgendwo im Gebäude jemand Klavier spielte, gerade eben hörbar über dem gedämpften Straßenlärm von draußen. Ich hob den Kopf und hörte genauer hin. Jemand spielte langsam und gedankenverloren immer wieder eine einzige kurze Passage aus dem zweiten Satz von Mullerys Verticality. »Natürlich, wenn der Direktor hier wäre«, sagte der Mann am Empfang, »hätte er Mr Brodsky sicher zu Ihrer Begrüßung hinzugebeten. Aber ich weiß nicht genau …« Er lachte auf. »Ich weiß nicht genau, ob ich ihn stören darf. Wissen Sie, wenn er so konzentriert arbeitet …« »Natürlich, natürlich. Ein andermal.« »Wenn nur der Direktor hier wäre …« Er geriet ins Stocken und dann lachte er wieder. Dann beugte er sich vor und sagte leise: »Können Sie sich vorstellen, dass einige Gäste doch tatsächlich die Frechheit besessen haben, sich zu beschweren? Weil wir jedes Mal den Salon zusperren, wenn Mr Brodsky den Flügel braucht. Kaum zu glauben, was manche Leute sich so denken! Gestern haben sich doch tatsächlich zwei Gäste unabhängig voneinander bei Herrn Hoffman beschwert. Aber sie mussten schnell klein beigeben, das können Sie mir glauben.« »Das glaube ich gern. Brodsky, sagen Sie.« Ich dachte über den Namen nach, aber es wollte mir dazu nichts einfallen. Dann merkte ich, dass mich der Mann am Empfang verwundert ansah, und sagte schnell: »Ja, ja. Ich freue mich schon darauf, Mr Brodsky dann später zu sehen.« »Wenn doch nur der Direktor hier wäre.« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wenn das jetzt alles ist, würde ich gerne …« »Aber natürlich. Sie müssen sehr erschöpft sein nach der langen Reise. Hier ist Ihr Schlüssel. Unser Gustav wird Sie zu Ihrem Zimmer bringen.« Ich schaute mich um und sah, dass am anderen Ende der Halle ein ältlicher Hoteldiener wartete. Er stand vor der geöffneten Aufzugtür und starrte gedankenverloren ins Innere. Er schreckte hoch, als ich auf ihn zuging. Dann nahm er meine Koffer auf und folgte mir schnell in den Aufzug. Während wir hochfuhren, behielt der ältliche Hoteldiener beide Koffer in der Hand, und ich sah, dass er vor Anstrengung ganz rot wurde. Die Koffer waren beide sehr schwer, und da ich mir ernstliche Sorgen machte, er könne hier vor mir zusammenbrechen, sagte ich: »Es wäre doch wohl besser, Sie würden die Koffer abstellen.« »Ich bin froh, dass Sie das sagen«, erwiderte er, und seine Stimme verriet erstaunlich wenig von der Anstrengung, die ihn das Ganze kostete. »Als ich in diesem Beruf anfing, das ist jetzt schon viele, viele Jahre her, habe ich die Gepäckstücke immer auf dem Boden abgestellt. Sie nur hochgehoben, wenn unbedingt nötig. Wenn ich in Bewegung war, sozusagen. Ja, ich muss sagen, dass ich während meiner ganzen ersten fünfzehn Jahre hier so gearbeitet habe. Viele junge Hoteldiener in der Stadt gehen immer noch nach dieser Methode vor. Aber mich werden Sie so etwas ganz bestimmt nicht mehr tun sehen. Wir sind übrigens gleich da.« Schweigend fuhren wir weiter hoch. Dann sagte ich: »Sie arbeiten also schon eine ganze Weile in diesem Hotel.« »Siebenundzwanzig Jahre. In der Zeit habe ich einiges gesehen. Aber natürlich gab es das Hotel schon lange, bevor ich hier anfing. Im 18. Jahrhundert soll Friedrich der Große hier eine Nacht verbracht haben, und nach allem, was man so hört, war es schon damals ein Haus mit Tradition. Tja, im Lauf der Jahre haben sich hier Ereignisse von großer historischer Bedeutung zugetragen. Wenn Sie sich erst einmal ausgeruht haben, würde ich Ihnen irgendwann gerne ein paar von den Geschichten erzählen.« »Aber Sie wollten mir gerade erklären«, sagte ich, »warum Sie es für falsch halten, das Gepäck auf dem Boden abzustellen.« »Ach ja«, erwiderte der Hoteldiener. »Das ist wirklich ganz interessant. Sie können sich sicher denken, dass es in einer Stadt wie dieser etliche Hotels gibt. Das heißt, dass sich viele Leute in der Stadt irgendwann schon einmal als Hoteldiener versucht haben. Viele hier glauben offensichtlich, sie bräuchten sich bloß eine Uniform anzuziehen, und das wär’s dann schon, dann könnten sie diese Arbeit machen. Das ist ein Irrtum, dem man in dieser Stadt besonders leicht verfällt. Eine Art allgemein verbreiteter Trugschluss, wenn Sie so wollen. Und ich will gerne zugeben, dass ich eine Zeit lang selber so gearbeitet habe, ohne groß darüber nachzudenken. Aber dann haben meine Frau und ich – ach, das ist jetzt schon etliche Jahre her – einmal einen kleinen Urlaub gemacht. Wir sind in die Schweiz gefahren, nach Luzern. Meine Frau ist inzwischen verstorben, aber immer wenn ich an sie denke, fällt mir dieser kleine Urlaub ein. Dort am See ist es wirklich sehr schön. Aber das wissen Sie sicher. Nach dem Frühstück haben wir immer herrliche Bootsfahrten gemacht. Aber um nun auf die bewusste Angelegenheit zurückzukommen – in diesem Urlaub ist mir aufgefallen, dass die Leute dort ihren Hoteldienern gegenüber eine andere Einstellung haben als die Leute hier. Wie soll ich das erklären? Dort hat man vor Hoteldienern einen viel größeren Respekt. Die besten unter ihnen genießen beträchtliches Ansehen, und die führenden Hotels wetteifern um ihre Dienste. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet. Aber hier bei uns, na ja, da haben die Leute eben eine ganz bestimmte Meinung. Es gab Tage, da habe ich mich gefragt, ob sich so eine Meinung je ausrotten lässt. Ich sage ja nicht, dass sich die Leute uns gegenüber irgendwie schlecht benehmen. Im Gegenteil, ich bin hier immer sehr höflich und rücksichtsvoll behandelt worden. Aber wissen Sie, die Leute meinen eben immer, dass jeder diese Arbeit machen kann, wenn er nur will, wenn er es sich nur in den Kopf gesetzt hat. Das liegt wohl daran, dass jeder hier in der Stadt schon einmal die Erfahrung gemacht hat, wie es ist, einen Koffer von einem Ort zum anderen zu tragen. Und deshalb glauben sie, Hoteldiener zu sein ist im Prinzip nichts anderes. Im Lauf der Jahre hatte ich hier in diesem Aufzug Leute, die haben zu mir gesagt: ›Eines Tages gebe ich vielleicht meinen Beruf auf und fange als Hoteldiener an.‹ Ja, tatsächlich. Na, also, eines Tages – gar nicht lange nach unserem Urlaub in der Schweiz – sagt mir doch fast genau denselben Satz einer unserer prominenten Stadträte. ›Eines Tages würde ich das gerne selber mal machen‹, sagt er und deutet auf die Gepäckstücke. ›Das wäre das richtige Leben für mich. Ich müsste mir um nichts mehr Sorgen machen.‹ Ich nehme an, er wollte einfach nur nett sein. Wollte andeuten, dass ich zu beneiden wäre. Da war ich ja noch jünger, da habe ich die Koffer nicht in der Hand behalten, ich habe sie auf dem Boden abgestellt, genau hier in diesem Aufzug, und ich nehme an, dass ich damals wirklich ein bisschen so aussah. Eben sorglos, wie der Herr meinte. Na, ich kann Ihnen sagen, da hat es mir aber wirklich gereicht. Ich meine, nicht das, was er gesagt hat, hat mich so wütend gemacht. Aber als er es...