Indriðason Nacht über Reykjavík
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5870-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Island Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Der junge Erlendur
ISBN: 978-3-8387-5870-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der junge, grüblerisch veranlagte Erlendur Sveinsson hat vor Kurzem seine Tätigkeit als Streifenpolizist in Reykjavík aufgenommen. In den Nachtschichten lernt er die dunklen Seiten der isländischen Hauptstadt kennen: betrunkene Autofahrer, häusliche Gewalt, Einbrüche, Drogenhandel. Ihn bewegt das Schicksal von Randfiguren der Gesellschaft. An einem Wochenende wird ein Obdachloser in einem Tümpel am Stadtrand ertrunken aufgefunden, und eine junge Frau verschwindet spurlos. Beide Fälle lassen Erlendur keine Ruhe, und er beginnt auf eigene Faust zu ermitteln ...
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Zwei Sie hörten die Meldung über eine häusliche Streitigkeit im Bústaða-Viertel und beschleunigten die Fahrt, um auf dem kürzesten Weg über die großen Verkehrsadern der Stadt, Miklabraut, Háaleitisbraut und Grensásvegur, zu der Adresse zu gelangen. Es war schon nach drei und zu dieser nachtschlafenden Zeit war so gut wie kein Verkehr auf den Straßen von Reykjavík. Sie überholten zwei Taxis, die auf dem Weg in die Außenbezirke waren, und stießen am Bústaðavegur beinahe mit einem Auto zusammen, das urplötzlich auf die Vorfahrtsstraße einbog. Am Steuer saß ein älterer Herr, der wohl die Geschwindigkeit des Streifenwagens falsch eingeschätzt hatte und seelenruhig auf die Hauptstraße gefahren war. »Spinnt der?«, rief Erlendur, der an diesem Tag am Steuer saß. Nur durch ein blitzschnelles Ausweichmanöver verhinderte er in letzter Sekunde einen Zusammenstoß mit dem Auto. »Sollten wir uns den nicht vorknöpfen?«, ließ sich Marteinn von hinten vernehmen. »Ach, wozu denn«, sagte Garðar. Erlendur warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass der Wagen ganz gemächlich über den Bústaðavegur weiterzuckelte. Garðar und Marteinn arbeiteten den Sommer über als Aushilfskräfte bei der Verkehrspolizei. Beide studierten Jura an der Universität. Erlendur arbeitete gern mit ihnen zusammen. Sie hatten Beatle-Frisuren und Backenbärte bis zum Kinn. Sie patrouillierten in einem Streifenwagen, der in Island liebevoll »Schwarze Maria« genannt wurde. Im hinteren Teil des Wagens befand sich so etwas wie eine Zelle für diejenigen, die aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Es handelte sich um einen schwarz-weiß lackierten, zuverlässigen, aber ziemlich schwerfälligen Chevrolet. Weder Sirene noch Blaulicht waren eingeschaltet, was wahrscheinlich auch der Grund dafür gewesen war, dass sie an der Kreuzung fast mit dem anderen Wagen zusammengestoßen waren. Häusliche Streitigkeiten in den Nachtstunden hatten für sie eigentlich keine besondere Priorität, auch wenn Garðar schon des Öfteren aus wesentlich geringerem Anlass über die Straßen von Reykjavík gebrettert war. Manchmal tat er das einfach nur, um bei Laune zu bleiben. Sie hielten vor der angegebenen Hausnummer in einer Straße mit lauter Reihenhäusern, setzten sich die weißen Mützen auf und begaben sich in die Sommernacht hinaus. Der Himmel war verhangen, doch trotz des Nieselregens fühlte sich die Luft milde an. Wie immer an den Wochenenden war in Reykjavík reichlich Alkohol geflossen, aber bislang hatte es noch keine wirklich ernsthaften Einsätze gegeben. Sie hatten einen Autofahrer wegen Verdachts auf Trunkenheit am Steuer aus dem Verkehr gezogen, und er hatte sich einer Blutprobe unterziehen müssen. Ein weiterer Einsatz hatte sie zu einem beliebten Tanzlokal geführt, vor dessen Eingang es zu einer Schlägerei gekommen war. Und schließlich waren sie zu einer heruntergekommenen Mietwohnung im Reykjavíker Westend gerufen worden. Fünf Personen unterschiedlichen Alters von irgendwo auf dem Land, die immer zusammen auf einem Schiff anheuerten, hatten dort zwei Zimmer gemietet. Sie waren mit den Nachbarn aneinandergeraten, und das Ganze hatte sich zu einer tätlichen Auseinandersetzung entwickelt. Einer der Männer hatte ein Messer gezückt, und bevor es den anderen gelungen war, ihn zu überwältigen, hatte er es einem anderen in den Arm gestochen. Er schäumte vor Wut, als die drei Polizisten eintrafen, um die Gemüter zu beruhigen, womit sie jedoch keinen Erfolg hatten. Also legten sie dem Mann Handschellen an und brachten ihn in einer Zelle im Hauptdezernat an der Hverfisgata unter. Die anderen Personen hatten sich zwar nach dem Eintreffen der Polizei beruhigt, beschuldigten sich aber gegenseitig, den Streit vom Zaun gebrochen zu haben. Die drei Polizisten hatten inzwischen das Haus erreicht, aus dem die Streitigkeiten gemeldet worden waren, und klingelten an der Haustür. Eigentlich deutete nichts auf irgendwelche Auseinandersetzungen hin, das Haus machte einen friedlichen und ganz normalen Eindruck. Über Sprechfunk war ihnen gesagt worden, dass ein Mann wegen eines lautstarken Streits im Nachbarhaus Meldung bei der Polizei gemacht und diese Hausnummer angegeben hatte. Sie hämmerten gegen die Tür, klingelten ein weiteres Mal und beratschlagten dann, was zu tun war. Erlendur wollte die Tür aufbrechen, um ins Haus zu kommen. Die beiden Jurastudenten fanden das übertrieben. Und der Nachbar, der die Polizei angerufen hatte, war nirgends zu sehen. Noch während sie darüber diskutierten, was zu tun sei, öffnete sich die Tür plötzlich. Ein Mann um die vierzig erschien. Er trug ein weißes Hemd, seine Hosenträger baumelten zu beiden Seiten herunter und die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. »Was soll denn dieser Aufstand?«, fragte er, offensichtlich sehr verwundert über den Besuch der Polizei. Der Mann hatte keine Fahne, und es hatte auch nicht den Anschein, als hätten sie ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. »Bei uns ist eine Beschwerde über nächtliche Ruhestörung in diesem Haus eingegangen«, sagte Garðar. »Ruhestörung?«, fragte der Mann und kniff die Augen zusammen. »Hier war alles ruhig. Was soll das. Hat sich jemand bei euch beschwert? Wer soll das gewesen sein?« »Hättest du etwas dagegen, wenn wir einen Augenblick hereinkommen?«, fragte Erlendur. »Ihr wollt reinkommen? Da hat sich doch bloß irgendjemand einen Spaß erlaubt, Jungs. Lasst euch doch nicht so auf den Arm nehmen.« »Ist deine Frau noch wach?«, fragte Erlendur. »Meine Frau? Die ist gar nicht in der Stadt. Sie ist mit ihren Freundinnen in irgendeinem Sommerhaus. Ich verstehe nicht, was … Es muss sich um ein Missverständnis handeln.« »Vielleicht haben wir die falsche Adresse bekommen«, sagte Garðar und blickte Marteinn und Erlendur an. »Wir fragen noch mal bei der Zentrale nach.« »Du entschuldigst bitte die Störung«, sagte Marteinn. »Kein Problem, Jungs. Tut mir leid wegen des Missverständnisses, aber ich bin ganz allein hier im Haus. Macht’s gut.« Garðar und Marteinn gingen wieder zum Wagen, Erlendur folgte ihnen. Sie stiegen ein und Marteinn erfuhr über den Sprechfunk, dass die Adresse korrekt gewesen war. »Aber hier ist doch gar nichts los«, sagte Garðar. »Wartet mal«, sagte Erlendur und stieg noch einmal aus. »Irgendwas stimmt da nicht.« »Was hast du vor?«, fragte Marteinn. Erlendur ging wieder zur Haustür und klopfte an. Kurze Zeit später erschien der Mann erneut an der Tür. »Dürfte ich vielleicht mal die Toilette bei dir benutzen?«, fragte Erlendur. »Die Toilette?« »Nur ganz kurz.« »Leider, das … Es geht nicht …« »Würdest du mir mal deine Hände zeigen?«, fragte Erlendur. »Was? Meine Hände?« »Ja«, sagte Erlendur und drückte die Tür so entschlossen auf, dass der Mann in die Wohnung zurückweichen musste. Erlendur folgte ihm auf dem Fuß, warf einen kurzen Blick in die Küche und öffnete die Toilette, die sich links gegenüber befand. Dann ging er zurück in den Flur, der zu den Zimmern führte. »Hallo, ist da jemand?«, rief er. Der Mann stand immer noch unbeweglich in der Diele. Er beschwerte sich darüber, was der Zirkus zu bedeuten habe, verhielt sich aber ansonsten ruhig. Erlendur kehrte in die Diele zurück und ging an dem Hausbesitzer vorbei ins Wohnzimmer, wo eine Frau bewegungslos auf dem Boden lag. In dem Raum herrschte Chaos, Sessel und Stühle waren umgestürzt, ebenso eine Stehlampe und ein Rauchtisch. Gardinen und Vorhänge waren heruntergerissen worden. Erlendur ging sofort zu der Frau und beugte sich über sie. Sie war bewusstlos. Ein Auge war völlig zugeschwollen, und ihre Lippen waren aufgeplatzt. Sie blutete aus einer Wunde am Kopf. Erlendur vermutete, dass sie im Fallen gegen den Rauchtisch geprallt war, sich am Kopf schwer verletzt und dabei das Bewusstsein verloren hatte. Ihr Kleid war hochgerutscht. Am Oberschenkel befand sich ein großes Hämatom, woraus Erlendur schloss, dass die Gewalttätigkeiten nicht erst an diesem Abend begonnen hatten. »Ruft einen Rettungswagen!«, rief Erlendur Garðar und Marteinn zu, die inzwischen wieder an der Haustür standen. »Wie lange hat sie hier so gelegen!?«, schrie er den Mann an, der immer noch völlig unbewegt in der Diele stand. »Ist sie tot?«, fragte er. »Ich weiß es nicht«, antwortete Erlendur. Er traute sich nicht, die Frau zu bewegen. Sie hatte eine schwere Verletzung am Kopf, die Leute vom Rettungsdienst würden Bescheid wissen, wie man sie am besten transportieren konnte. Er deckte sie mit einem der abgerissenen Vorhänge zu und beauftragte Marteinn, dem Mann Handschellen anzulegen und ihn abzuführen. Der Mann sah keinen Grund mehr, seine Hände in den Taschen zu verstecken. Sie waren blutig und verschrammt. Eindeutig Spuren der vorangegangenen Tätlichkeiten. »Habt ihr Kinder?«, fragte Erlendur. »Zwei Jungs, die verbringen den Sommer irgendwo auf einem Bauernhof in Südisland.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Erlendur. »Ich wollte das nicht«, sagte der Mann, nachdem er in Handschellen abgeführt worden war. »Ich weiß nicht … Ich wollte ihr nichts tun. Sie … Ich wollte sie nicht verletzen. Ich wollte euch gerade anrufen. Aber dann ist sie gegen den Tisch gestoßen und hat mir nicht mehr geantwortet. Und ich dachte, dass sie vielleicht …« Er war nicht imstande, den Satz zu Ende zu bringen. Die Frau stöhnte leise. »Hörst du mich?«, flüsterte Erlendur ihr ins Ohr, erhielt aber keine Antwort. Der Nachbar, der die Polizei alarmiert hatte, war um die dreißig. Er war auf die Straße gekommen und...