Ein Leben zwischen Menschen, Wissenschaft und Umwelt
E-Book, Deutsch, 238 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2302-6
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
«Das Leben fällt uns zu, es ist im wahrsten Sinne des Wortes zufällig», schreibt der Autor und fährt fort: «Doch das enthebt uns nicht der Verantwortung, dem Zugefallenen eine Gestalt zu geben.»
Zielgruppe
Der bekannte Umweltforscher und Schweizer Wissenschaftspolitiker Dieter Imboden spürt anhand seiner Lebensgeschichte Themen der menschlichen Existenz nach. Seine Autobiografie widmet sich den grossen Fragen zu Identität, Religion, Gesellschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft. Imboden schreibt präzise und zugleich abgeklärt, mit einem Schuss Ironie, aber nie nostalgisch. Damit entsteht eine Geschichte, die das berufliche Wirken mit der persönlichen Entwicklung verbindet. Sie zeigt, dass es im Leben weniger um das Verfolgen eines Lebensplans geht als um die Bereitschaft, neugierig zu sein, Chancen zu entdecken und sie zu ergreifen. «Das Leben fällt uns zu, es ist im wahrsten Sinne des Wortes zufällig», schreibt der Autor und fährt fort: «Doch das enthebt uns nicht der Verantwortung, dem Zugefallenen eine Gestalt zu geben.»
Autoren/Hrsg.
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2 Familiäre Spurensuche Wie während des Krieges in der Schweiz voller Zuversicht geheiratet wird und grosse Familien geplant werden, das Fotoalbum von Mutter Elisabeth für einen Rückblick dient, und was der frühe Tod von Vater Max für seine Frau und seine Kinder bedeutet. Max Imboden und Elisabeth Stahel heiraten am 19. Juni 1941. Es ist der 26. Geburtstag von Max; Elisabeth ist achtzehn Tage älter als ihr frisch angetrauter Mann. In Europa herrscht Krieg. Vieles deutet darauf hin, dass die bis jetzt unbesiegt gebliebene Armee von Adolf Hitler schon bald ganz Europa beherrschen wird. Die Schweiz ist von den Achsenmächten eingekesselt. Noch hat es Hitler nicht als wichtig genug befunden, die Schweiz dem Dritten Reich einzuverleiben, aber man macht sich in der Schweiz weder in der Regierung noch in der Armee Illusionen darüber, dass er es tun könnte. Trotz düsterer Aussichten lassen sich die Menschen nicht davon abhalten, einen Bund fürs Leben zu schliessen, Familien zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Das Hochzeitsfest von Max und Elisabeth findet im Hotel Storchen in Zürich statt. Die Hochzeitsbilder zeigen eine kleine Schar festlich gekleideter Menschen an einer mit Blumen dekorierten Tafel vor reich beladenen Tellern, denen man die Nahrungsmittel-Rationierung nicht ansieht. Ein einziger Gast trägt die Uniform der Schweizer Armee. Man unterhält sich vortrefflich, lacht der Nachbarin zu oder lauscht einer Rede. Hier scheint der Krieg für einen Augenblick vergessen zu sein. Ich blättere im Hochzeitsalbum der Grosseltern, das sich im Nachlass meiner Mutter fand, und entdecke ein Bild, das dieses Glück nicht schöner ausdrücken könnte: Schelmisch und innig zugleich schaut die Braut zum Bräutigam zu ihrer Linken, das Gesicht umrahmt von einem der Zürcher Tracht nachempfundenen Brautschleier. Indes der Bräutigam, ein glücklich-verträumtes Lächeln im Gesicht, in eine undefinierbare Ferne blickt, während er der Rede des Brautvaters lauscht. Wie eine Gestalt aus einer Novelle von Gottfried Keller scheint Alfred Stahel, listig und über den Kopf seiner Tochter hinweg, dem Schwiegersohn gute Ratschläge zu geben, wobei er mit leicht erhobener rechter Faust seine Worte unterstreicht. Vergessen ist die dreijährige Verlobungszeit, welche der ökonomisch gestrenge Brautvater dem Paar aufgebrummt hat, bis der ungeduldige Bräutigam nach Abschluss von Studium und Doktorat in der Lage ist, selbständig eine Familie zu ernähren. 19. Juni 1941: Hochzeit von Max und Elisabeth Imboden-Stahel, Hotel Storchen, Zürich Ein Zwiegespräch anderer Art dokumentiert ein Foto, das am selben Tag beim Apéro entstanden sein muss: An einem kleinen runden Tisch sitzt vor einem Wandgemälde, vermutlich im Werdmüller-Zimmer, die berühmte Ärztin aus St. Gallen, Frau Dr. med. Frida Imboden-Kaiser, Gründerin des Ostschweizer Kinderspitals und Mutter des Bräutigams. Stolz schaut sie zu ihrem Sohn auf, Doktor der Jurisprudenz, der neben ihr steht, die linke Hand in der Hosentasche, die rechte zu einer erklärenden oder beschwichtigenden Geste ausgestreckt. Man ahnt, dass hier ein schwieriges Kapitel familiärer Auseinandersetzung eine positive Wendung genommen hat. Die tüchtige, selbstbewusste und manchmal auch herrschsüchtige Frida Kaiser und der sensible und in ökonomischen Dingen ungeschickte Psychiater Karl Imboden heirateten, als die beiden Mediziner bereits die Mitte Dreissig überschritten hatten. Die Ehe funktionierte nie besonders gut, zu verschieden waren die Temperamente. Nach einer frühen Trennung wurde sie schliesslich geschieden. Was Frida in St. Gallen am liebsten ganz verschwiegen hätte: Die drei Kinder, eine Tochter gefolgt von zwei Söhnen, wurden im Scheidungsurteil nicht, wie es damals selbstverständlich war, alle der Mutter zugesprochen. Der ältere Sohn Max kam in die Obhut seines Vaters, mit dem er sich wesensverwandt und bis zu dessen frühen Tod im Januar 1941 sehr verbunden fühlte. Der Bannstrahl der durch das Gerichtsurteil zurückgesetzten Mutter traf nicht nur ihren ehemaligen Gatten, sondern auch den Sohn; er fiel bei seiner Mutter in Ungnade und wurde weitgehend enterbt. Vater Karl erlebte die Hochzeit von Max und Elisabeth nicht mehr. Nach seinem Tod stellte Frida den Krieg gegen ihren Sohn Max sukzessive ein, ja wandelte ihn später, als dieser Professor in Basel geworden war, in mütterlichen Stolz: «Mein Sohn, Professor Imboden in Basel…», hörte man sie später gerne sagen. Pünktlich zehn Monate nach der Hochzeit, im April 1942, schenkt Elisabeth ihrer ersten Tochter, Regula Elisabeth, das Leben. Die Geburt ist in ihren Augen der Anfang jener grossen Familie, welche sie sich schon als Mädchen gewünscht hat. Etwa zwölf Kinder müssten es werden. Nur wenig mehr als zwei Jahre nach der Hochzeit, im August 1943, erreicht mit der Geburt des ersten Sohnes, Dietrich Max, die Familie bereits die Normgrösse von heute. In Europa und der halben Welt tobt der Krieg mit unverminderter Heftigkeit. Max sorgt als Substitut des Bezirksgerichtes von Horgen, wo die junge Familie wohnt, für jenen Lebensunterhalt, welcher sein Schwiegervater gemeint hat, als er die Verliebten auf die lange Wartebank verwies. Dazwischen amtet er, wegen einer früheren Operation an der Lunge militärdienstuntauglich, als Luftschutzsoldat und übt mit den Bewohnern von Horgen den raschen Bezug der Luftschutzkeller und die Brandbekämpfung mit Eimerspritzen und auf den Dachböden gestapelten Sandsäcken. Elisabeth, die junge Mutter, nimmt sich neben ihren wachsenden Pflichten im Haushalt von Anfang Zeit, die Entwicklung der Familie in Wort und Bild für die Nachwelt zu dokumentieren. Mit ihrer gut leserlichen Schrift schreibt sie, in flüssigen und zuweilen langen, aber immer druckreifen Sätzen, welche kaum je eine nachträgliche Korrektur nötig machen, an einer Familienchronik. Gleichzeitig legt sie für jedes ihrer Kinder ein eigenes Fotoalbum an. Als die erwachsenen Kinder Familien gründen und dabei ihre persönlichen Fotoalben mitnehmen, realisiert Elisabeth, dass sie dadurch einen Teil ihrer eigenen Geschichtsschreibung verliert und stellt nachträglich aus den Kinderalben ihre eigene Chronik zusammen. Darin blättere ich auf der Suche nach meinem damaligen Verhältnis zu Eltern und Geschwistern. *** Oktober 1943: Der zwei Monate alte Dieter liegt staunend auf dem Rücken. Seine Schwester Regula beugt sich nachdenklich über ihn. Sie hantiert mit ernstem Gesicht am Arm des Bruders. Schliesslich entscheidet sie sich zur Tat und stopft dem Bruder, ob er es will oder nicht, den Nuggi2 in den Mund. Oktober 1943: Regula mit Bruder Dieter Frühling 1944: Elisabeth, elegant gekleidet, einen rassigen Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf, wendet sich, hinter dem Kinderwagen kauernd, stolz und inniglich ihrem Sohn zu. Dieser sitzt vergnügt im Wagen, streckt seinen linken Arm der Mutter entgegen und berührt diese mit seinen kleinen Händen liebevoll am Kinn. Das Bild muss an der Seestrasse in Horgen entstanden sein. Frühling 1944: Elisabeth mit ihrem ungefähr dreivierteljährigen Sohn Dieter November 1945: Vater Max ist zum Rechtskonsulent der Stadt Zürich ernannt worden. Max und Elisabeth müssen sich im Hinblick auf das dritte Kind, das auf den kommenden April erwartet wird, nach einer grösseren Wohnung umsehen. Sie finden diese in Küsnacht, wo Elisabeth den grössten Teil ihrer Jugend verbracht hat und wo auch die Eltern Stahel wohnen. Zudem liegt Küsnacht näher am neuen Arbeitsort von Max. An einem kalten Novembertag machen die Eltern mit ihren beiden Kindern einen Ausflug. Kahle Fichtenstämme ragen aus dem unterholzlosen Waldboden in den nicht sichtbaren November-Himmel empor. Max sitzt in dickem Wintermantel, den Hut tief ins Gesicht gezogen, auf einer Bank zwischen seinen beiden Kindern, zur Linken Tochter Regula, zur Rechten Sohn Dieter, beide aufrecht neben dem Vater. Ihre Hände scheinen sich auf dessen Schoss leicht zu berühren, als ob sie über ihn hinweg geschwisterliche Zusammengehörigkeit ausdrücken möchten. Die gleiche Konstellation mit der Mutter in Pelzmantel und mit Kopftuch: Ihre Arme umfassen die beiden Kinder, die sich an die Mutter kuscheln oder von ihr zu sich herangezogen werden. November 1945: Max und Elisabeth mit ihren ersten zwei Kindern Regula und Dieter Was auffällt: Der Krieg ist zwar unterdessen vorbei, und doch schauen beide Eltern besorgt, ja niedergedrückt in die Kamera. Viel später erfahre ich, dass es für sie eine schwierige Zeit gewesen ist: Max sucht nach der für seine grossen Ideen adäquaten beruflichen Tätigkeit, Elisabeth im Trubel der wachsenden Ansprüche von Ehemann und Kindern im Rahmen einer Psychoanalyse nach ihrer eigenen Identität. Im April 1946 kommt Christoph Niklaus zur Welt, an Weihnachten 1947 Johannes Ulrich. Im siebten Ehejahr ist die Familie bereits auf vier Kinder angewachsen. Regula und Dieter bilden fortan das Paar der «Grossen», Christoph und Hannes (wie Johannes genannt wird) die...