E-Book, Deutsch, 217 Seiten
Žic / Zic Wahrscheinliche Herkünfte
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7518-0918-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 217 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0918-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie erzählen von einer Vergangenheit, die wir selbst nicht erlebt haben? Wie und in welcher Sprache erzählen von und über Geschichten, die wir nicht nachempfinden können? Denn wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart, in der die Vergangenheit aber mitspricht: Wer also verstehen möchte, was er spricht, muss auch die Sprache der Toten verstehen.
Ivna Žic öffnet in ihrer autofiktionalen Reflexion Zugänge zu den völlig unterschiedlichen Welten ihrer beiden Großmütter und des schweigsamen Großvaters, in deren Leben sich europäische Geschichte und eine untergegangene Welt spiegeln, die nach wie vor in uns weiterlebt und unser Handeln bestimmt.
In zärtlicher Prosa und mit präzisen Beschreibungen geht Ivna Žic den Spuren ihrer Ahnen nach und eröffnet einen Ort des Wiedererkennens im anderen und des anderen. Diversität ist horizontal und vertikal, diachron und synchron. Žic' Text öffnet sich in einem Durchgang von der Vergangenheit in eine europäische Zukunft, in der sich eine neue, radikale Vielsprachigkeit längst Raum geschaffen hat, und lässt dadurch aus dem Privaten das Politische und aus den neuen Verhältnissen neue Erzählungen entstehen.
Autoren/Hrsg.
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(MACHT) LERNEN VERLERNEN STAUNEN
Oder mit Paul B. Preciado gesagt: Ein Wort ist keine Repräsentation einer Sache. Es ist ein Stück Geschichte: eine unabschließbare Kette von Verwendungen und Zitaten. Ein Wort ist zunächst Ergebnis einer Feststellung oder eines Staunens, Resultat eines Kampfes oder Besiegelung eines Triumphs. Es war Niederschlag einer Praktik, die sich erst später in ein Zeichen verwandelte. Der Spracherwerb in der Kindheit setzt einen Prozess des Sicheinbürgerns der Sprache in Gang, der dazu führt, dass wir nicht mehr in der Lage sind, den Nachhall der Geschichte in unserem eigenen Sprechen zu hören. Dieses Zitat ist im Kapitel »Etymologien« des Buches »Ein Apartment auf dem Uranus – Chroniken eines Übergangs« zu finden. Ich höre zunächst und vor allem das »Sicheinbürgern« bei Preciado, es unterbricht den Lesefluss, es unterbricht und führt mich zurück zum schreibenden, zeichnenden Kind, das ich war und das später dann durch das Einbürgern auch unterbrochen wurde. Ich wiederhole: »Kindheit setzt einen Prozess des Sicheinbürgerns der Sprache in Gang, der dazu führt, dass wir nicht mehr in der Lage sind, den Nachhall der Geschichte in unserem eigenen Sprechen zu hören.« Die Schreibweise meines Namens, die ich eben hör- und sichtbar zu machen versucht habe, kommt aus einer Zeit vor dieser genannten Einbürgerung. Sie kommt vor der Schule, in der das Schreiben jeweils einer Sprache zugeordnet, ihr zugehörig gemacht wird. Die Schreibweise meines Namens kommt vor der einsprachigen Schule in Basel, die uns ein sogenanntes Hochdeutsch beibrachte und die damit eigentlich immer schon zweisprachig war: denn die Lehrerin sprach Mundart mit uns, konkret: den Basler Dialekt, und brachte uns zugleich lesend das Hochdeutsch bei. Sie teilte die Sprache in eine offizielle und eine inoffizielle Sprache. Es war wichtig, dass nur in der offiziellen Sprache geschrieben wurde. In der inoffiziellen wurde gesprochen. Den Dialekt nennen wir nicht ohne Grund Mundart. Das Schreiben, das ich vorhin beschrieb, hatte noch keinen offiziellen Raum, fand in einer Zeit außerhalb des offiziellen Schreibens statt, denn ich hatte es offiziell noch nicht gelernt, war nicht verpflichtet, es zu können, es also: richtig zu können. Aber war das vielleicht das ehrlichste Schreiben? War es vielleicht das eigentliche Schreiben? War es das Schreiben, in dem noch ein »Nachhall der Geschichte«, der Nachhall meiner Geschichten zu hören ist? Nicht eingebürgert entsprach die Sprache noch der Welt, die mich umgab. Eingebürgert oder eingeschult wurde sie vereinfacht? Eindeutig? Einsprachig? Das tatsächliche sogenannte Einbürgern in die Schweiz kam erst zehn Jahre später. Es fiel mir leicht, es war keine Hürde, denn die Sprache war da schon so klar, man hörte mir in dem Moment nichts an außer den Zürcher Dialekt, den ich damals sprach und den ich mir nach dem Umzug von Basel nach Zürich sehr schnell angeeignet hatte. Das reichte aus, um den Beamten, den ich verpflichtend treffen musste für ein Gespräch, von meiner Einbürgerung zu überzeugen. Es klangen keine anderen Geschichten und Länder in meiner Sprache mit, als ich mit ihm sprach, natürlich in der Mundart, denn die inoffizielle Sprache ist eigentlich jene, in der Entscheidungen getroffen werden. Wer die inoffizielle mündliche Sprache ohne Nachklang einer anderen spricht, aus sich heraus – denn je älter man wird, umso schwerer lernt man sie, man muss sie sprechen, ohne dass sie gelernt klingt, so wie jeden Dialekt –, wer diese Sprache spricht, als wäre sie immer schon Teil von ihm oder ihr gewesen, wer nicht mehr staunt oder suchend spricht, gehört dazu. So hat mich also der Dialekt eingebürgert und die Schule auch. Doppelt gehörte ich nun dazu, die Frage ist und bleibt aber: Wohin dazu? War daraus eine Richtung abzulesen? Was hatte das Einbürgern verändert? Ich hatte ja nichts zurückgelegt, zurückgelassen, es war ja nur etwas dazugekommen. So bürgerte ich mir das Schweizerdeutsche und einen Pass dazu, nicht ein. Dazubürgern wäre doch eigentlich das schönere Wort als Einbürgern oder wie bei Preciado: »Sicheinbürgern«. Nicht ein- oder aus-. Nicht sich. Sondern alles rundherum: dazu und dazu und dazu. Es sprechen also gesamte Kinder-Generationen perfekten Dialekt, zum Beispiel den Zürcher Dialekt, ohne Nachklang, perfekt meinend: gelernt und dann das Gelernte versteckt, den Nachhall verloren. Und es sprechen gesamte andere Generationen, die der Eltern und Großeltern dieser Kinder, in diesem Land oft mit Nachklang. Mit Geschichten dahinter, mit Geschichte, und fallen auf. Fallen heraus, andauernd. Gehen und fallen anders als wir, ihre Kinder, es tun. Versuchen alles viel richtiger zu machen, als wir es tun, und klingen immer anders. Ist das schmerzvoll? Ist das Teil all dieser Geschichten? Gibt es viele Risse und einer davon geht direkt durch diese Familien? Ein Riss, der erstmal ein sprachlicher ist? Ja. Und ich frage mich: Warum? Warum müssen diese Klänge Risse verursachen? Warum müssen die Eltern und die Großeltern diesem dauernden Bedürfnis nachgehen, ja nichts falsch zu sagen? Warum müssen Klänge und Nachklänge unklingend gemacht werden? Warum müssen die Sprachen unauffällig bleiben? Warum ist Nachklang nicht Reichtum? Es sprechen Familien also zwei unterschiedliche Sprachen. Mindestens. Nie habe ich im Deutschen gleich geklungen wie die Eltern. Immer habe ich aber genau wie sie geklungen im Kroatischen, identisch fast, denn sie waren die zwei Menschen, die mir diese Sprache beibrachten. Diese zwei Menschen sind größtenteils meine kroatische Sprache: Ihr Dialekt, ihre Sprichwörter und ihre Klänge waren für den Großteil der Zeit mein einziger Referenzraum. Alle anderen, die diese Sprache auch sprachen, waren immer weit weg. Ich sprach und ich spreche größtenteils die kroatische Sprache meiner Eltern. Und ich spreche das Zürich-Deutsch, das vor unserer Haustüre gesprochen wird. »Diese zwei Menschen sind größtenteils meine kroatische Sprache.« Ich lese den vorherigen Absatz nochmals und bleibe bei dem Satz hängen. Meine kroatische Sprache. Meine Küchentischsprache, sage ich auch oft. Meine Sommerferiensprache. Meine emotionale Sprache. Meine intime Sprache, vor allem. Und: meine Sprache, in der ich nur ungefähr schreiben kann. In der ich langsamer lese als im Deutschen. Wie eine gesamte Generation mit mir. In der ich zuhause alle Gefühle weinend und fließend am Küchentisch erzähle, jedoch nie ein Buch oder Theaterstück geschrieben habe. All das trägt diese Sprache in sich. Und noch mehr: Diese Sprache hat ebenfalls eine vielsprachige Geschichte, außerhalb dieser und vieler Küchen. Eine Vielsprachigkeit, die in mehreren Ländern verstanden wird. Für Menschen aus dem deutschsprachigen Raum eine bekannte Situation. Darin sollte eine Ähnlichkeit stecken, ein Verständnis füreinander. Sprache, die in jeder Ecke anders klingt. Es stecken viele ähnliche Sprachen und Namen in ihr, es sind viele Sprachen, die in ihr und mit ihr klingen. Die sich mühelos gegenseitig verstehen. Es sind nicht nur Dialekte, es sind vielfältige Hochsprachen und sogar unterschiedliche Schriften, in denen diese Sprachen sich begegnen und zusammen sprechen können. Doch selten stößt die Sprache auf Verständnis außerhalb ihrer eigenen Ecke. Sie kommt aus einem Gebiet, in dem immer und immer wieder gekämpft wird. Auch um die Sprache. Auch um ihren Namen. Um Ähnlichkeiten. Und um Abgrenzungen. Sie kommt aus einem Gebiet, in dem oft überschrieben wird. Umbenannt wird. Und trotzdem kann man in einem Auto oder Bus, mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug in diesem Sprachengebiet weit reisen und wird immer noch und immer wieder verstanden. Im Gespräch. Bei einer Bestellung. In der Post. Anders, aber ähnlich. Und weil ich in meiner Küchentischsprache nicht schreibe, bin ich ihr gegenüber häufig auch fremd. Ungenauer, vom Gefühl her, als in dieser Sprache, in der ich jetzt spreche und lese. Schneller habe ich das Gefühl, falsch zu liegen. Falsches zu sagen, in ihr und über sie. Weil mich erstmal, anscheinend, mehr mit dieser Sprache hier verbindet. Vielleicht ist diese Sprache hier freier. Vielleicht kann ich in ihr meine Geschichte anders entdecken, weil sie nicht in jedem Wort seit immer schon lauert. Und das kann unheimlich sein. Wenn ich »kroatisch« sage, steckt in diesem Wort »ein Stück Geschichte. Ein Wort ist zunächst Ergebnis einer Feststellung oder eines Staunens, Resultat eines Kampfes oder Besiegelung eines Triumphs.« Auch innerhalb einer Familie gibt es Unterschiede im Klang. Überall. Zum Beispiel: Den Insel-Dialekt meiner Großmutter habe ich nie so sprechen können wie den Zürcher Dialekt. Habe ihn nie gelernt. Und irgendwann war es nicht mehr möglich, ihn...