Ein Fall für Clara Clüver. Küsten-Krimi
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7517-2851-5
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Christian Humberg wurde 1976 in Gerolstein geboren und studierte in Mainz Buch- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als freier Autor von Büchern und Theaterstücken, als Comicszenarist, Literaturübersetzer und Lektor. Seine Werke erreichen Leser:innen auf der ganzen Welt und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Humberg lebt in Mainz, verreist aber schon seit Jahren regelmäßig an die "mörderische" Ostsee.
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Kapitel 2
Wenige Stunden zuvor »… und in diesem Sinne dann auch von meiner Seite die herzliche Einladung«, sagte Clara Clüver. Langsam breitete sie die Arme aus. »Besuchen Sie unseren Basar drüben im Gemeindezentrum und unterstützen Sie Menschen in Not. Dafür segne und behüte uns der Herr, und er gebe uns Frieden! Amen.« Die Orgel setzte ein. Nun danket alle Gott, laut und feierlich tönte es aus den silbernen Pfeifen. Clara ließ die Arme sinken und trat hinter dem Altar hervor. In den dicht gefüllten Sitzreihen der alten Kirche zog prompt wieder Bewegung ein. Überall griffen die Menschen plötzlich nach ihren Habseligkeiten, den Hüten oder Handtaschen, Regenschirmen oder Gehstöcken, während sie gleichzeitig die ersten Verse des Kirchenliedes anstimmten. Überall bereitete man sich auf den Aufbruch vor. »Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen«, sang auch Clara. »Der große Dinge tut, an uns und allen Enden.« Zielsicher bahnte sich die Pastorin einen Weg durch den breiten Mittelgang. Es stimmte, was das Lied sagte, oder etwa nicht? Es waren große Dinge geschehen, und sie selbst war der lebende Beweis dafür. Die Kirche im Herzen der Travemünder Altstadt stand noch nicht lange unter der Leitung der Enddreißigerin, und doch fühlte Clara sich unter ihrem gewölbten Dach inzwischen so heimisch wie an fast keinem anderen Ort der Welt. Die weiß gestrichenen Wände, das Kreuz aus Eichenholz über dem schlichten Altar und die oben rund zulaufenden Fenster aus Butzenglas waren ihr absolut vertraut geworden, genau wie die tönernen Steinplatten unter ihren Sohlen und die Kerzenständer rechts und links der kleinen Kanzel. Auch viele der Gesichter, die sie in den Sitzbänken sah, erkannte sie schon mühelos wieder. Die Gemeinde, die Clara vor Monaten – und mit einigen Turbulenzen – übernommen hatte, war nicht allzu klein, doch Clara hatte sich vom ersten Tag an alle Mühe gegeben, sie kennenzulernen. Eine gute Seelsorgerin kannte ihre Schäfchen eben; das gehörte zwingend dazu, wenn man den Beruf ernst nahm. Zumindest war es Claras eigener, unumstößlicher Anspruch an sich selbst. »Der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an«, hallte der Gesang aus Dutzenden von Kehlen durch das Kirchenrund, »unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.« Auch das, fand Clara, traf voll ins Schwarze. Es war gut, dass sie hier war. Alles hatte dagegengesprochen, eigentlich. Sie war in Rheinhessen aufgewachsen, bei ihrer vom Leben enttäuschten Mutter und im Schatten von Weinbergen und alten Burgen. Auf eine ereignislose Schulzeit war ein Theologiestudium in Mainz gefolgt und mit ihm erstmals ein Leben außerhalb des Einflusses ihrer Mutter. Es hatte Frau Clüver nicht gefallen, als Clara sich das Zimmer im Studentenwohnheim nahm, und noch weniger gefiel es ihr damals, als sich ihr einziges Kind in einen jungen Juristen verguckte. Immerhin, Mama, dachte Clara nun und sprach im Geiste mit der Toten. In dem Punkt hattest du recht. Aber nur in dem einen. Nach dem Studium war ihr Jurist nach Wiesbaden gezogen, und Clara hatte ihn begleitet. Fast wie selbstverständlich, und vielleicht nicht einmal fast. In Biebrich hatte sie sich als Gemeindearbeiterin verdingt, während Stefan so richtig Karriere machte. Sie hatte die Zeit bei der Lorenz-Kirche auch wirklich genossen, und doch … Das Gefühl, dass es da noch mehr geben musste, hatte Clara stets begleitet. An jedem einzelnen Tag und vor allem in den Stunden ohne Stefan. Wenn sie allein gewesen war, in ihrer eigenen Welt und bei ihren eigenen Aufgaben, hatte sie immer gewusst, dass sie noch nicht fertig war – trotz des abgeschlossenen Studiums und der erfüllenden Aufgaben in der Gemeindeassistenz. Jetzt schon, hier am Ufer der Trave. Unter dem gewölbten Dach ihrer neuen, eigenen Kirche, war sie angekommen – als Pastorin und nicht als Assistentin. Wer hätte das je gedacht? Sie selbst ganz sicher nicht. »… wie es am Anfang war«, riss der Gesang der Gemeinde sie wieder aus ihren Gedanken, »und ist und bleiben wird, so jetzt und immerdar.« Clara hatte inzwischen die breite Pforte des Gotteshauses erreicht und öffnete sie. Wie an jedem Sonntag ließ sie es sich nicht nehmen, die Kirchgänger persönlich zu verabschieden. Während die Orgel ein letztes Mal in die Vollen ging und aus dem Schlussakkord des alten Liedes ein mehrminütiges Crescendo machte, bezog die Pastorin ihre Position auf den steinernen Stufen der Kirchentreppe, die von der Pforte hinab auf den nicht minder alten Marktplatz von Travemünde führten, über dem an diesem Vormittag dunkle Wolken hingen. Im Grunde stand die Kirche auf einer Art ovaler Insel, die mit alten Kopfsteinen gepflastert war. Ringsherum verliefen die schmalen Straßen des einstigen Ortskerns, und die malerischen Fassaden von maximal zweigeschossigen Backstein- und Fachwerkhäusern flankierten sie. Claras Blick fiel auf rotes, oft schon leicht windschief wirkendes Mauerwerk, auf gebogene Schindeldächer und auf Fenster, deren Gardinen älter wirkten, als sie selbst es war. So, das wusste sie, hatte Travemünde schon ausgesehen, als es noch wenig mehr als ein reines Fischerdorf gewesen war – eine letzte und winzige Bastion der Menschen vor der Weite der unerbittlichen Ostsee. Der spitze Turm der Kirche ragte über die alten Dächer, wie er es damals schon getan hatte, und es gehörte keine große Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass jeden Moment ein paar Netzflicker oder Bootsbauer mit ihren Werkzeugen und ihren Anno-dazumal-Kleidern um die Ecke der Torstraße gebogen kamen und auf den nahen Hafen zuhielten. Dieser Teil von »Lübecks schönster Tochter«, wie Travemünde oft genannt wurde, hatte sich seit ihren Tagen ja schließlich kaum verändert. »So jetzt und immerdar«, dachte Clara und spürte, wie ihre Mundwinkel amüsiert zuckten. In der Tat. Dann verstummte die Orgel. Die letzten Klänge hallten im Kirchenrund nach, wehten durch die offene Pforte ins Freie und brachten die Gemeindemitglieder gleich mit. »Wieder ein sehr schöner Gottesdienst, Frau Clüver«, hörte Clara eine alte Dame sagen. »Nein, wirklich. Vielen Dank!« »Ich danke Ihnen, Fräulein Willenbrock«, erwiderte sie und half der Rentnerin mit den aschgrauen Locken die drei Stufen hinunter. »Bis nächsten Sonntag, ja?« »Worauf Sie sich verlassen können«, meinte die ältere Dame, stutzte dann aber und lächelte wissend. »So Gott will, heißt das natürlich.« Clara lachte. »Na, jetzt malen Sie den Teufel mal nicht an die Wand. Sie sind doch noch jung.« Sie kehrte zurück an die Pforte und reichte weiteren Kirchgängern die Hand zum Abschiedsgruß. »Das war eine interessante Predigt«, sprach ein Mann sie an. Er hatte rotes Haar, einen sorgsam gestutzten Vollbart und trug einen eng anliegenden Rollkragenpullover zu einer dunklen Jeans. An seiner Hand folgte ein ebenfalls rothaariger Junge von vielleicht vier Jahren. »Findest du nicht auch, Liam? Wir haben heute viel gelernt.« Amüsiert hob Clara eine Braue. »Ach ja?« Sie hatte über den Epheser-Brief gesprochen, nicht gerade die spannendste Stelle der Heiligen Schrift. Entsprechend verblüfft war sie nun, dass sie für einen Vierjährigen nennenswert bedeutsam sein sollte. »Und ob«, fuhr sein Vater fort. Sie kam einfach nicht auf den Namen des Mannes. Beckmann? Becker? »Denn was stand da, Liam? Weißt du noch? Man soll nicht lügen!« Ah, dachte Clara. Daher weht der Wind. »›Darum legt die Lüge ab und sagt die Wahrheit‹«, zitierte der vermutliche Herr Beckmann erstaunlich wortgetreu. »›Weil wir alle Freunde sind.‹ So ist das, Liam. Unter Freunden lügt man nicht, das wussten schon die alten Apostel. Und auch sonst gehört es sich nie, die Unwahrheit zu sagen.« Er hob den Kopf und sah wieder zu Clara. »Es gab da kürzlich einen unschönen Vorfall im Kindergarten, Frau Clüver. Aber wir haben darüber gesprochen, und Liam will sich gleich morgen früh bei den anderen Kindern für sein Benehmen entschuldigen. Richtig, Liam?« Der Junge sah aus, als wollte er lieber vom Oberdeck eines Dänemarkfrachters in die eiskalte Ostsee springen. Doch er schien seine Lektion gelernt zu haben und nickte artig. »Das macht man nicht.« »Ganz genau.« Stolz floss über die Züge des jungen Vaters wie Honig über gebratenen Chicorée. Wieder wandte er sich an Clara. »Sie hatten echt ein perfektes Timing mit Ihrer Predigt heute. Nochmals danke.« »Immer gern«, erwiderte sie lächelnd. »Zum Helfen sind wir ja da. Bis nächsten Sonntag, ja?« »Bis nächsten Sonntag«, bestätigte der vermutliche Herr Beckmann – oder war es Breckermann? – und ging mit seinem Filius weiter. Die nächsten zehn Minuten verbrachte Clara mit Verabschiedungen und dem ein oder anderen freundlichen Wort. Sie dankte ihren Kirchgängern, half den Älteren die steinernen Stufen hinunter und zwinkerte den Jüngsten zu, wenn sie sich hinter den elterlichen Hosenbeinen verkrochen, um sie von dort aus neugierig zu beäugen. Es stimmte, was im Epheserbrief stand: Ohne Lug und Trug war die Welt ein besserer Ort, und die Gemeinschaft der Menschen war ebenfalls besser. Wäre, korrigierte sie sich aber sofort und mit einem inneren Seufzen. Konjunktiv, Frau Pastorin. Ein frommer Wunsch macht nämlich noch lange keine Wirklichkeit. »Entschuldigung, Frau Clüver?« Die...