E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-85197-787-5
Verlag: Obelisk Verlag e.U.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1.
Ich verschwand an jenem Sonntag, an dem mein Bruder achtzehn wurde. Eigentlich begann der Tag ganz gut. Als ich die Treppe hinunter ging, roch es nach Kaffee und ein bisschen nach angebrannten Semmeln. Deshalb nahm ich an, dass Paps mit Frühstück machen dran war. Aufbacksemmeln sind nicht so sein Ding, aber zum Bäcker will er auch nicht fahren. Im Wohnzimmer war der Tisch schon gedeckt, in der Mitte standen Tulpen, die mich daran erinnerten, was heute für ein Tag war. Rafaels Geburtstag. Ab heute konnte er tun und lassen, was er wollte, und als Erstes würde er vermutlich die Blumen vom Tisch entfernen, wenn man ihn ließ. Er ist mehr der anti-florale Typ. Unter dem Tisch lag Timba. Ihre Pfoten sahen aus, als wäre sie schon draußen gewesen und hätte den halben Garten umgegraben, was Mum einem Schreikrampf nahebringen würde, der Unterhaltung versprach. Andererseits war heute ein besonderer Tag und da musste man über Dinge wie schmutzverschmierte Teppiche eben hinwegsehen können. „Guten Morgen!“ Mum kam ins Zimmer, noch im Bademantel. Die Kaffeekanne in der Hand lächelte sie mich an. „Willst du den Großen mal aufwecken gehen?“ Ich ging also hinauf und klopfte. Natürlich kam keine Antwort, also ging ich hinein und zog meinem Bruder die Decke weg. Rafael schnaufte unwillig, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen. „Was ist?“, murmelte er. „Mum hat deine Zigaretten gefunden.“ Sofort saß er aufrecht im Bett und starrte mich an. „Was?“ Ich grinste. „War nur ein Scherz.“ „Dummes Huhn. Außerdem kann sie die gar nicht finden.“ „Moment mal“, sagte ich. „Du rauchst doch nicht wirklich, oder? Rafael?“ Jetzt war er es, der mich angrinste, allerdings ohne eine Antwort zu geben. Stattdessen warf er einen Blick auf die Uhr und gleich darauf ein Kissen nach mir. „Halb zehn? Vergiss es!“ Damit ließ er sich wieder in die Kissen fallen und schloss die Augen. „Okay, bitte. Ist nur dein Geburtstag. Du kannst ihn aber auch gerne verschlafen, ich hab sowieso nichts für dich.“ Das stimmte nicht, ich hatte Konzertkarten für Who is who besorgt, Rafaels Lieblingsband. Die Karten hatten mein ganzes Taschengeld vom letzten Monat verschlungen und das hatte ich nur aus drei Gründen zugelassen. Erstens, weil ich eine nette kleine Schwester bin. Zweitens, weil sein Freund Yannik auch mitkommen würde und drittens – und das ist der weitaus wichtigste Grund – weil Bibi aus der Achten auch mit dabei sein würde. Bibi verbringt die Hälfte des Tages mit Kichern und die andere wahrscheinlich mit Lästern. Sie hat zwei lange schwarze Zöpfe und ist von Kopf bis Fuß sonnengebräunt. Und sie war der derzeitige Schwarm meines Bruders. Rafael wäre also mit Sabbern beschäftigt und irgendwann würde er mit Bibi lieber allein sein wollen. Dabei würde es ihm vielleicht nicht einmal auffallen, wie recht mir das wäre. Yannik und ich würden den beiden ein bisschen Zweisamkeit verschaffen und könnten irgendwohin gehen, wo wir alleine wären. Was so ziemlich das Beste war, das ich mir vorstellen konnte. Abgesehen davon, endlich jemandem von ihm erzählen zu können. Ich stand noch in der Türe, als Rafael sich aufsetzte und Anstalten machte, aus dem Bett zu steigen. Und weil ein nackter Bruder nicht unbedingt zu den Bildern gehört, die ich nach dem Aufwachen brauche, ließ ich ihn allein und ging zu Mum an den Frühstückstisch. Paps brachte die teils verkohlten Semmeln und die Sonne schien mir durchs Fenster warm auf den Rücken. Alles in allem versprach es, ein richtig guter Tag zu werden. Dann schlurfte mein Bruder endlich ins Zimmer und wir sangen und beglückwünschten ihn. Mum erzählte die immer gleiche Geschichte von seiner Geburt, die sie fast um den Verstand gebracht hätte. Paps lachte und stimmte zu und vermied es, zu erwähnen, dass er nach kaum einer Stunde umgefallen war, wovon es ein Foto gibt, weil eine der Hebammen Humor und eine Kamera dabei gehabt hatte. Mein Bruder sah aus, als würde er aus unserer Familienidylle am liebsten sofort abhauen, aber dann zwinkerte er mir zu und ich merkte, dass er sich doch freute. Nächstes Jahr würde er vielleicht schon ausgezogen sein und nichts wäre mehr wie vorher. Der Gedanke machte mich ein bisschen wehmütig. Ich mochte unser Leben zu viert und mit Rafael konnte ich sowieso den meisten Spaß haben, wenn er gute Laune hatte. Bei schlechter ging man ihm am besten aus dem Weg. Vor lauter Gedanken hatte ich wohl einen Scherz überhört, denn alle lachten. „Volljährig oder nicht volljährig“, sagte Paps, der offenbar mitten in einer Rede war, „rauchen darfst du trotzdem nicht – hör auf, die Augen zu verdrehen! – und wenn du noch einmal so viel trinkst, dass du das ganze Bad versaust, fliegst du raus! Davon abgesehen finde ich es unglaublich, dass du schon so groß und erwachsen bist …“, und so ging es weiter, Ernst des Lebens, Abschlussprüfungen, Ausziehen, noch einmal Ernst des Lebens. So lange, bis Rafael Paps in die Seite boxte, ihm einen Kuss auf die Wange drückte, beim Zurücklehnen an die Kaffeekanne stieß und sich der ganze Kaffee über das Tischtuch ergoss. Da waren die Reden aus und jeder rettete, was zu retten war – die Brötchen waren ein Grenzfall. Irgendwann stand Rafael auf und verkündete, er würde sich jetzt schnellstens nach einer neuen Bleibe umsehen, denn hier halte er es keine zwei Tage mehr aus, aber ich konnte ihn grinsen sehen, als er ging. Ich half Paps, den Tisch abzuräumen und dann ging ich hinauf, um die Konzertkarten in ein schönes Kuvert zu stecken. Dass ich nach dem Frühstück noch einmal in mein Zimmer ging, war nicht weiter ungewöhnlich. Ungewöhnlicher war, dass ich nicht mehr heraus kam. Jedenfalls nicht für Mum und Paps und Rafael, der richtig sauer wurde, als ich bis Mittag noch immer nicht da war, um Torte zu essen. Ich schätze, die ganze Sache hat ihm seinen Geburtstag ziemlich verdorben. Allerdings nicht so sehr wie mir. Um kurz nach zwölf hörte ich Rafael meinen Namen rufen. Gleich darauf wurde meine Zimmertür aufgerissen und mein Bruder stand grinsend im Türrahmen. „Du sagst doch sonst nicht nein zu Torte?“ Das Lächeln in seinem Gesicht erstarb und er sah sich suchend um, viel zu suchend für mein kleines Dachzimmer. Noch dazu, wo ich mitten auf dem Bett saß. „Ich komm ja schon“, sagte ich. Kaum hatte ich fertig gesprochen, drehte er sich um und brüllte „Hier ist sie nicht!“ die Treppe hinunter. „Haha. Sehr lustig.“ Ich stand auf. Im nächsten Moment steckte Paps den Kopf herein, runzelte die Stirn, sagte „Vielleicht bei Linda?“ und schloss die Tür, was ja mal richtig eigenartig war. Ziemlich verdattert stand ich allein im Zimmer. Unten rief Rafael: „Woher soll ich wissen, wo sie hingegangen ist?“ Mum erwiderte irgendetwas und auf einmal hatte ich ein ungutes Gefühl. Dann ging ich zur Tür und als ich die Türklinke in meiner Hand spürte und daran zog, passierte gar nichts. Die Klinke bewegte sich nicht einen Millimeter und das war irgendwie gar nicht gut. Ich packte fester zu und drückte und zog. Irgendwann zerrte ich nur noch daran herum und versuchte zu verstehen, was mit der verdammten Tür los sein könnte. Ich probierte es ein zweites Mal ohne Erfolg. Auch mein Fenster rührte sich kein bisschen, als ich danach griff. Mir fiel nichts Besseres mehr ein, als zu warten. Eine halbe Ewigkeit lang saß ich auf meinem Bett und starrte die Tür an. Ich versuchte zu begreifen und ruhig zu bleiben, weil es ja wohl nicht sein kann, dass man am 18. Geburtstag seines Bruders plötzlich nicht mehr da ist und keiner einen hört, wenn man „Ich komme gleich, verdammt“ nach unten schreit, so wie an jedem anderen Tag auch, nur dass eben diesmal niemand antwortet. Vom Schreibtisch ertönte ein Klingeln, ich zuckte zusammen. Mein Handy. Instinktiv griff ich danach. Das Handy vibrierte unter meinen Fingern, aber ich konnte es weder bewegen noch heben. „Mum ruft an“, erinnerte das Display. Ich biss mir auf die Lippen und dachte, Danke, darauf wäre ich auch allein gekommen. Ich schaute an mir herunter und betrachtete meine Hände, die aussahen wie immer, vielleicht ein bisschen blass. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob dieser Schwachsinn so schnell vorübergehen würde, wie er gekommen war und deshalb ging ich zum Spiegel, nur um sicher zu gehen. Dort stand ich und fragte mich, wo ich geblieben sein könnte, denn im Spiegel war ich eindeutig nicht. Jetzt bekam ich ein richtig...