E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1337-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tina Craig verbringt so viel Zeit wie möglich in dem kleinen Charity Shop um die Ecke. Sie hilft dort aus, um ihrer unglücklichen Ehe und dem tristen Alltag zu entfliehen. Eines Tages findet sie in einem alten Jackett einen versiegelten Brief. Tina öffnet den Umschlag, und die Zeilen sollen ihr Leben für immer verändern: Es ist das Jahr 1939, und Billy Stirling hält, kurz bevor er in den Krieg eingezogen wird, um die Hand seiner Geliebten Chrissie Skinner an. Warum haben diese Worte des Glücks Chrissie nie erreicht? Was ist aus ihr und Billy geworden? Tina macht sich auf die Suche …
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1
März 1973 Dieses Mal würde sie sterben. Sicher blieben ihr nur noch ein paar Sekunden Zeit. Bitte, lieber Gott, mach, dass es schnell geht, betete sie stumm. Klebrig warmes Blut rann ihren Nacken hinab. Ihr Schädel war mit einem Übelkeit-erregenden Geräusch gegen die Wand geknallt. Sie hatte das Gefühl, als kullerte ein kleiner Kieselstein durch ihren Mund. Sie wusste, es war einer ihrer Zähne, den er ihr ausgeschlagen hatte. Sie bemühte sich verzweifelt, das Ding auszuspucken, doch die Hände ihres Mannes lagen derart fest um ihren Hals, dass sie weder Luft holen noch schreien, noch um Gnade winseln konnte. Ihre Lungen schrien nach Sauerstoff, die Augen quollen ihr aus dem Kopf, und ihr wurde schwindelig, ehe sie in barmherziger Dunkelheit versank. Plötzlich hörte sie das längst vergessene Läuten ihrer alten Schulglocke. Mit einem Mal war sie wieder fünf Jahre alt, und das fröhliche Geplapper der anderen Kinder wurde von dem pausenlosen lauten Bimmeln übertönt. Als sie die Kinder anschrie, still zu sein, merkte sie, dass sie doch noch eine Stimme hatte, und riss verblüfft die Augen auf. Sie starrte blind die Decke an und sah dann blinzelnd auf den Wecker, dessen Geläut sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken, und sie zog die Decke bis zum Kinn, um die Wärme ihres Bettes noch ein paar Sekunden länger zu genießen. Nach dem Alptraum klopfte ihr Herz wild. Sachte atmete sie ein und aus, und ihr warmer Atem bildete ein kleines weißes Wölkchen in der kalten Luft des Schlafzimmers. Mühsam hievte sie sich aus dem Bett und zuckte zusammen, als ihre nackten Füße die kalten, ungeschliffenen Dielen berührten. Sie warf einen Blick auf Rick, der zum Glück noch schnarchend seinen Rausch vom Vorabend ausschlief, und kontrollierte, ob sein Zigarettenpäckchen auf dem Nachttisch lag. Sie hatte es ihm extra hingelegt, denn wenn er morgens seine Kippen nicht sofort griffbereit hatte, stand er bereits mit schlechter Laune auf. Lautlos schlich sie ins Bad und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu. Wahrscheinlich hätte eine Bombe in der Nähe hochgehen müssen, um ihn aufzuwecken, aber warum sollte sie ein Risiko eingehen? Das Wasser, das sie in das Becken ließ, war wie meistens eisig. Sie mussten sich entscheiden, ob sie was essen oder das Geld in warmes Wasser oder in die Heizung investieren wollten, seit Rick arbeitslos geworden war. Denn der Großteil seiner Stütze ging für Alkohol, für Zigaretten und für seine gottverdammten Pferdewetten drauf. Unten in der Küche stellte sie den Wasserkessel auf den Herd. Der Zeitungsjunge war schon da gewesen, und sie hob die Zeitungen vom Boden auf. The Sun für sich, The Sporting Life für Rick. Die Titelseite ließ sie erstarren. Heute fand das Grand National statt, das größte Pferderennen des Jahres in England. Sie ließ die Schultern sinken und erschauderte bei dem Gedanken an das viele Geld, das Rick an diesem Tag vergeuden würde, auch wenn er bis Mittag sicher bereits zu betrunken wäre, um noch selbst zum Buchmacher zu gehen. Was hieß, dass wieder mal sie die Wette dort platzieren müsste, auch wenn sie diese Verschwendung einfach furchtbar fand. Das Wettbüro lag direkt neben dem Secondhandgeschäft, in dem sie samstags ehrenamtlich arbeitete, und der Betreiber Graham war mit der Zeit ein guter Freund geworden. Obwohl Tina unter der Woche als Stenotypistin bei einer Versicherung beschäftigt war, freute sie sich immer auf die Samstage im Secondhandgeschäft. Rick fand es lächerlich, dass Tina unentgeltlich in den Kleidern irgendwelcher Toter wühlte, statt einem normalen, anständig bezahlten Zweitjob nachzugehen. Doch sie war einfach froh, dass sie ihm sonnabends aus dem Weg gehen konnte, und vor allem genoss sie es, sich dort normal mit Leuten zu unterhalten, ohne jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen zu müssen wie daheim. Sie schaltete das Radio ein, stellte es ein wenig leiser und lächelte über die etwas abgedroschenen Scherze, die ihr Lieblingsmoderator Tony Blackburn machte. Dann spielte er The Twelfth of Never, Donny Osmonds neue Single, und der Wasserkessel stieß ein erstes, leises Pfeifen aus. Eilig riss sie ihn vom Herd, bevor das Pfeifen schriller wurde, gab zwei Löffel Teeblätter in die alte Kanne, setzte sich mit ihrer Zeitung an den Tisch und ließ den Tee ein paar Minuten ziehen. Sie hielt die Luft an, als oben die Toilettenspülung rauschte, und atmete erleichtert auf, weil ihr die laut knarzenden Holzdielen verrieten, dass Rick ins Bett zurückging. Als er mit rauer Stimme nach ihr rief, wurde sie schreckensstarr. »Tina! Wo sind meine Kippen?« Himmel. Dieser Kerl raucht wirklich wie ein Schlot. Hektisch sprang sie auf und hastete zurück ins Schlafzimmer, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. »Auf deinem Nachttisch, da habe ich sie gestern Abend hingelegt«, erklärte sie ihm atemlos. Sie fuhr im Halbdunkel mit ihrer Hand über den Nachttisch, konnte das verdammte Päckchen aber nirgends finden, und stieß mit vor Panik rauer Stimme aus: »Ich muss die Vorhänge ein Stückchen aufziehen, weil ich so nichts sehen kann.« »Herrgott noch mal, Weib! Ist es vielleicht zu viel verlangt, wenn ein Mann morgens nach dem Aufwachen erst mal eine rauchen will? Mir ist kotzschlecht.« Sein saurer, morgendlicher Atem stank nach schalem Alkohol. Schließlich machte sie die Zigarettenpackung auf dem Boden zwischen Bett und Nachttisch aus. »Hier sind sie doch. Wahrscheinlich hast du sie im Schlaf vom Tisch gewischt.« Rick starrte sie einen Moment lang an. Als er ihr die Packung aus den Fingern riss, fuhr sie zusammen und hielt sich instinktiv die Hände vors Gesicht. Er packte ihr Handgelenk, und ihre Blicke trafen sich, ehe sie ihre Augen zukniff und gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte. Sie erinnerte sich genau daran, wie Rick sie zum ersten Mal geschlagen hatte, und konnte immer noch ihre brennende Wange spüren. Schlimmer als der körperliche Schmerz war die Gewissheit gewesen, dass es nie wieder so werden würde wie zuvor. Eine schreckliche Erkenntnis, die ihr ausgerechnet in ihrer Hochzeitsnacht gekommen war. Dabei hatte sie bis dahin einen perfekten Tag verlebt. Rick sah in seinem neuen, braunen Anzug, seinem cremefarbenen Hemd und dem Seidenschlips unglaublich gut aus. Die weiße Nelke in seinem Knopfloch zeigte aller Welt, dass er mit ihr vor den Altar getreten war, und sie war überzeugt, dass es keine größere Liebe gab als die zwischen ihnen beiden. Alle sagten ihr, wie toll sie aussah. Sie hatte kleine Blüten in ihr locker hochgestecktes, dunkles Haar geflochten, ihre blauen Augen mit künstlichen Wimpern aufgepeppt, davon abgesehen aber brauchte sie keinerlei Make-up für ihren strahlend reinen, seidig weichen Teint. Nach der Trauung feierten sie in einem preiswerten Hotel um die Ecke und tanzten mit ihren Gästen die ganze Nacht durch. Später, beim Zubettgehen in ihrem Hotelzimmer, hatte Rick sich ungewöhnlich schweigsam verhalten. »Alles in Ordnung, Schatz?« Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Das war ein wunderbarer Tag, nicht wahr? Ich kann einfach nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich Mrs Craig bin.« Lachend machte sie sich wieder von ihm los. »He, am besten übe ich erst mal meine neue Unterschrift.« Sie nahm einen Stift und ein Blatt Papier vom Tisch, setzte sich aufs Bett und schrieb schwungvoll ihren neuen Namen auf das Papier – Mrs Tina Craig. Rick sah sie reglos an, zündete sich eine Zigarette an, leerte ein Glas billigen Sekt in einem Zug und baute sich dann vor ihr auf. »Steh auf!« Sein rüder Ton überraschte sie, doch sie folgte dem Befehl. Kaum, dass sie stand, verpasste Rick ihr eine schallende Ohrfeige. »Mach mich nie wieder derart zum Narren!«, fuhr er sie an und stürmte aus dem Zimmer. Er hatte ihre Hochzeitsnacht inmitten leerer Gläser in der Hotelbar verbracht, und erst Tage später hatte er sie wissen lassen, welches Vergehen sie sich auf ihrer Hochzeitsfeier hatte zuschulden kommen lassen. Angeblich hatte sie zu eng mit einem seiner Arbeitskollegen getanzt und Rick damit vor ihren Gästen lächerlich gemacht. Tina hatte sich nicht mal an den Mann erinnern können. Der Zwischenfall war der Beginn von Ricks krankhafter Eifersucht gewesen und hätte ihr die Augen öffnen sollen. Sie hatte sich seither oft gefragt, ob sie ihn gleich nach diesem ersten Schlag hätte verlassen sollen, doch romantisch, wie sie nun mal war, hatte sie ihrer Ehe eine Chance geben wollen. Sie sagte sich, dass er sie sicher niemals wieder schlagen würde. Zum Zeichen seiner Reue hatte er ihr einen großen Blumenstrauß geschenkt, und er war so zerknirscht gewesen, dass ihm Tina umgehend verziehen hatte. Erst ein paar Tage später hatte sie die Karte in dem Strauß entdeckt und lächelnd aufgeklappt. In liebevoller Erinnerung an unsere Nan. Der Schuft hatte die Blumen einfach irgendwo von einem Grab geklaut! * Jetzt, vier Jahre später, starrten sie einander reglos an, doch schließlich ließ er von ihr ab und lächelte. »Danke, Schätzchen. Und jetzt sei ein braves Mädchen und hol mir einen Tee, okay?« Tina atmete erleichtert auf und rieb ihr leuchtend rotes Handgelenk. Sie hatte sich nach ihrer Hochzeitsnacht geschworen, sie würde nie ein Opfer sein. Keine der misshandelten Ehefrauen, die das schändliche Verhalten ihrer Männer auch noch entschuldigten. Sie hatte Rick schon unzählige...