E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Hürter / Rauner Die verrückte Welt der Paralleluniversen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-492-95639-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Wie oft gibt es uns wirklich?
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-492-95639-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Wo leben wir eigentlich? Und wenn ja, wie oft? Wenn die neueste Forschung recht hat, gibt es unendlich viele Welten und deshalb auch jeden Menschen unendlich oft. Willkommen im Multiversum! Haben die Physiker noch alle Tassen im Schrank, oder stehen wir vor der größten Revolution seit Nikolaus Kopernikus?
Tobias Hürter, Jahrgang 1972, studierte Philosophie und Mathematik in München und Berkeley. Er war Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und arbeitete als Redakteur beim MIT Technology Review und bei der ZEIT. Seit 2013 ist er stellvertretender Chefredakteur des Philosophiemagazins Hohe Luft. Er lebt in München.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Willkommen im Multiversum! Es ist würklich möglich, daß Gott viel Millionen Welten erschaffen habe. Immanuel Kant,
Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, 1746 Der Sarg war gut erhalten und lag 32 Zentimeter tief unter dem Marmorboden. Außen Eisenbeschläge, innen mit Stoff bezogen. Der Schädel ruhte auf einem mit Stroh gefüllten Seidenkissen, das Skelett war zierlich. Eine Frau um die 20, schätzten die Archäologen. Uninteressant, befanden sie und gruben weiter. Im zweiten Grab stießen sie auf die Gebeine eines Mannes um die 50, die Gesichtsknochen eingedrückt, das dritte Grab beschädigten die Archäologen beim Ausgraben, im vierten und fünften Grab wieder nur Männer zwischen 40 und 50. So ging es Monat für Monat. Wie Eber auf Trüffelsuche gruben sich die Forscher durch den Dom von Frombork an der polnischen Ostseeküste. Im dreizehnten Grab, beim Altar des Heiligen Kreuzes, fanden sie den Schädel eines Mannes, der zwischen 60 und 70 Jahre alt gewesen sein musste, als er starb. Waren das die lange gesuchten Knochen? Ein DNA-Vergleich mit einem Haar, das man in einem Buch des Gesuchten gefunden hatte, brachte im November 2008 Gewissheit: Dies war der Kopf von Nikolaus Kopernikus, Domherr von Frombork, Hobbyastronom, gestorben im Jahr 1543, verantwortlich für die größte Revolution seit Menschengedenken. »Das ist ein großes Ereignis für Frombork«, sagte Bischof Jacek Jezierski, der die Suche nach den sterblichen Überresten des Kopernikus in Auftrag gegeben hatte. Im Frühjahr 2010 werden die Gebeine feierlich beigesetzt, in einem »schönen Sarkophag«, wie der Bischof verspricht. Die Welt wird Anteil nehmen. Was für eine Karriere: zu Lebzeiten unbeachtet, kurz nach dem Tod ein Aufrührer, heute ein Held. Kopernikus stürzte ein 2000 Jahre altes Weltbild und verbannte den Menschen vom Nabel des Universums. Seit der Antike hatten die Menschen geglaubt, die Erde stehe im Zentrum der Welt und die Sonne kreise um die Erde wie andere Planeten auch. Ein Trugschluss, behauptete Kopernikus. In Wirklichkeit stehe die Sonne im Zentrum, und die Erde kreise auf einer Umlaufbahn zwischen Venus und Mars um die Sonne. Der Wechsel von Tag und Nacht wird durch die Drehung der Erde verursacht. Als sein Werk De revolutionibus orbium coelestium über das heliozentrische Weltbild in Nürnberg gedruckt wird, erleidet der neunundsechzigjährige Kopernikus in Frombork einen Schlaganfall. Wenige Monate später ist er tot, aber seine Ideen sind in der Welt. Die Kirche leistet Widerstand. Vergebens. Die kopernikanische Wende erschütterte das Selbstverständnis des Menschen. Die Kirche fügte sich irgendwann. Nicht nur Kopernikus wird nun feierlich wieder begraben, auch Galileo Galilei, zu Lebzeiten zum Hausarrest verurteilt, erhält 400 Jahre später höchste Anerkennung von seinen früheren Gegnern. Der Vatikan ehrte ihn im internationalen Jahr der Astronomie 2009 erstmals mit einer Heiligen Messe. Und Papst Benedikt XVI. lobte Galilei ausdrücklich in seiner Weihnachtsbotschaft und fügte hinzu, die Naturgesetze seien »ein guter Anlass, in Dankbarkeit der Schöpfung des Herrn zu gedenken«. Das klingt weltgewandt und geläutert – die Naturwissenschaftler sind aber schon einen Schritt weiter. Während die Kirche ihre Vergangenheit aufarbeitet, planen sie einen Umsturz, der die kopernikanische Revolution noch in den Schatten stellen könnte: Unser Universum ist nur eines von vielen, und jeder Mensch hat Doppelgänger in anderen Universen. Dies behaupten jedenfalls seriöse Physiker. Sie forschen an den besten Universitäten der Welt, sie publizieren in renommierten Fachzeitschriften, sie gehören zur Führungselite der Theoretischen Physik. Und sie meinen es ernst. Ein halbes Jahrtausend nach Kopernikus stehen die Zeichen wieder auf Revolution: Das Universum wird zum Multiversum. Es gibt nicht nur ein Universum, sondern unendlich viele. Eines davon bewohnen wir, eine Nische im plurifizierten Kosmos. Jede denkbare Welt existiert wirklich, jede mögliche Geschichte spielt sich irgendwo ab. Die kopernikanische Revolution ist zu Ende gedacht. Wenn die kopernikanische Wende eine »Kränkung« war, wie Sigmund Freud es formulierte, dann ist das Multiversum ein Affront. Der Physikprofessor Alexander Vilenkin von der Tufts University bei Boston, Massachusetts, formuliert es in aller Nüchternheit: »Mit der Herabstufung der Menschheit auf die vollkommene kosmische Bedeutungslosigkeit ist unser Abstieg vom Mittelpunkt des Universums endgültig vollzogen.« Die Vollendung der kopernikanischen Revolution ist ein Gemeinschaftsprojekt, und Vilenkin, ein stiller, schmaler Mann um die 60, ist einer der Projektleiter. Früher hatte die Kirche das Monopol auf die Schöpfungsgeschichte, dann kamen Universalgelehrte wie Kopernikus und Newton, heute sind es Physiker wie Vilenkin, die uns die Welt erklären. Was war am Anfang? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Albert Einstein formulierte 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie, damit berechnen Physiker Schwarze Löcher, die Expansion des Weltalls und die Geburt von Sternen und Galaxien. Zehn Jahre später kam die Quantentheorie hinzu, sie beschreibt die Mikrowelt der Atome. Kurz darauf formulierte der Physiker Georges Lemaître erstmals die Grundidee der Urknalltheorie, der zufolge alle Materie und Energie des Universums einst in einem heißen und dichten Punkt konzentriert war und anschließend auseinanderflog. Vilenkin ist es gewohnt, ausgetretene Pfade zu verlassen. Als er in den Sechzigerjahren Physik studierte, wurde die Urknalltheorie immer populärer – und die Sowjetunion immer ungemütlicher. Der Student Vilenkin weigerte sich, dem Geheimdienst KGB als Informant zu dienen. Der KGB setzte ihn auf die Schwarze Liste, Bildungsberufe blieben ihm verwehrt. Vilenkin verdingte sich als Nachtwächter im Zoo von Charkow, einer Stadt im Norden der Ukraine. Er sollte einen Spirituosenkiosk bewachen. Er hatte ein Gewehr, aber er wusste nicht, wie man es benutzte. Die Tiere hinter Gittern taten ihm leid. In den Nächten, in denen er nicht betrunken war, dachte er über das Universum nach. 1976, im Alter von 26 Jahren, durfte Vilenkin auswandern. Zwei Jahre später wurde er als Professor an der Tufts University angestellt. Dort hatte er die unverschämte Idee der Vielen Welten. Als Vilenkin mit seinem russischen Kollegen Andrei Linde die Kraft berechnete, die das Universum nach dem Urknall aufgebläht hatte, gelangten die beiden zu dem Schluss, dass die Aufblähung außerhalb unseres Universums andauern muss. Das aber hieße: Jenseits unseres Universums bilden sich ständig neue Universen wie Blasen in einem Schaumbad. Pro Blase ein Urknall und damit ein neues Universum. Und weil es so eine unvorstellbare Vielzahl an Universen gibt, existieren in vielen von ihnen auch Lebewesen, Menschen und sogar Doppelgänger von uns. »Der Urknall, den wir in unserem Teil des Multiversums hatten, war kein einzigartiges Ereignis, wie wir bisher dachten«, sagt Vilenkin. »Es gibt unzählige Urknalle an entfernten Orten, viele in der Vergangenheit, aber auch viele in der Zukunft. Aus ihnen gehen Regionen hervor, die zum Teil unserem Universum gleichen, zum Teil aber auch ganz anders aussehen. Dieser Prozess hört nie auf.« Im neuen Bild des Kosmos wirkt unser heimisches Universum winzig wie ein Sandkorn in der Wüste. Einige der anderen Universen sind öd und leer, andere von fremdartigen Naturgesetzen beherrscht oder von überlichtschnellen Teilchen durchflutet. In manchen huschen phantastische Schattenwesen durch zusätzliche Raumdimensionen. Manche Universen ähneln unserem – nur ist John F. Kennedy noch am Leben und mit Marilyn Monroe verheiratet. In anderen, behauptet Vilenkin, gibt es Doppelgänger-Erden, auf denen Dinosaurier überlebt haben und große Autos fahren. In wieder anderen hat Nazi-Deutschland nicht den Krieg verloren, sondern die Weltherrschaft übernommen – »leider«, sagt Vilenkin. »Alles existiert, was nicht von den Naturgesetzen verboten ist.« Früher herrschte nach Vilenkins Vorträgen oft betretenes Schweigen. Heute klatschen die Zuhörer. Zugegeben, die Vorstellung vieler Welten ist unglaublich. Unglaublich war aber auch das kopernikanische Weltbild vor 500 Jahren. 150 Jahre später war es eine Selbstverständlichkeit. Die Theorie des Multiversums könnte eines der größten Rätsel der Menschheit lösen: unsere Existenz. Das Universum scheint seit dem Urknall wie geschaffen dafür, eines Tages Sterne, Galaxien, Planeten und Menschen hervorzubringen. Denn wären Naturkonstanten wie die Ladung des Elektrons oder die Schwerkraft nur ein bisschen anders, hätten nach dem Urknall niemals Atome oder Sterne entstehen können. Ist unsere Existenz ein glücklicher Zufall? Oder folgt sie zwingend aus den Naturgesetzen? Einstein formulierte es so: Hatte Gott eine Wahl, als er unser Universum schuf? Gott war für Einstein nur ein rhetorischer Kunstgriff. Er suchte nicht Gott, sondern eine Theorie für Alles, die genau unser, und nur unser Universum mit all seinen Eigenschaften beschreiben würde. Er fand diese Theorie nicht, aber die Physiker träumen bis heute davon. Leonard Susskind, Jahrgang 1940, Physikprofessor an der Stanford University in Kalifornien, ist einer von denen, die diesen Traum wahr machen wollten. Noch so ein Welterklärer wie Vilenkin und Linde. Susskind zog aus, eine allumfassende Theorie zu finden, die den Urknall ebenso wie die Nanowelt beschreibt, eine Synthese aus Relativitätstheorie und Quantentheorie – die Weltformel. Eines Tages, so hoffte er, würde man aus einer einzigen mathematischen Formel alle Naturgesetze und Naturkonstanten dieser...