E-Book, Deutsch, 441 Seiten
Hülshoff Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik
4. aktualisierte Auflage 2022
ISBN: 978-3-8463-5835-1
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 441 Seiten
ISBN: 978-3-8463-5835-1
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Lehrbuch bietet eine breit gefächerte Übersicht über die medizinischen Aspekte von Entwicklungsprozessen, Entwicklungsstörungen und Behinderungen.
Es führt anschaulich in neurophysiologische Grundlagen ein und erläutert die Entwicklung des Zentralen Nervensystems und des kindlichen Gehirns. Krankheit, Behinderung und die daraus resultierenden Belastungen werden vom medizinischen Standpunkt aus definiert.
Unter heilpädagogisch relevanten Aspekten werden Funktionen und Störungen von zentralen Sinnesleistungen, Motorik, Sprache, Denken und Fühlen sowie die wichtigsten Interventionsformen beschrieben.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches 8
Vorwort zur 4 Auflage 9
Aus dem Vorwort zur 1 Auflage 10
Vorbemerkung zur Inklusionsdebatte 13
1 Neurophysiologische Grundlagen 15
1.1 Aufbau und Funktion des zentralen Nervensystems 15
1.2 Die Entwicklung des kindlichen Gehirns 30
1.3 Biochemische Grundlagen 37
1.4 Übungsfragen und Literaturhinweise 41
2 Sozialmedizinische Grundlagen 42
2.1 Was ist Krankheit? 42
2.2 Stress und Krankheit 52
2.3 Salutogenese und Resilienz 58
2.4 Soziale Dimensionen von Krankheit 60
2.5 Das kranke Kind 66
2.6 Ethische Dimensionen 80
2.7 Übungsfragen und Literaturhinweise 84
3 Basale Wahrnehmungsfunktionen 86
3.1 Grundlagen basaler Wahrnehmungsfunktionen 86
3.2 Die Entwicklung basaler Wahrnehmungsfunktionen 103
3.3 Basale Wahrnehmungsstörungen 117
3.4 Heilpädagogische Herausforderungen 122
3.5 Übungsfragen und Literaturhinweise 132
4 Auditive Wahrnehmung 134
4.1 Grundlagen auditiver Wahrnehmung 134
4.2 Entwicklung des Hörsinns 143
4.3 Hörstörungen 148
4.4 Heilpädagogische Herausforderungen 153
4.5 Übungsfragen und Literaturhinweise 169
5 Visuelle Wahrnehmung 170
5.1 Grundlagen des Sehens und der visuellen Wahrnehmung 170
5.2 Entwicklung des Sehvermögens 187
5.3 Sehschädigung 199
5.4 Heilpädagogische Herausforderungen 211
5.5 Übungsfragen und Literaturhinweise 221
6 Motorik 223
6.1 Grundlagen der Motorik 223
6.2 Motorische Entwicklung 233
6.3 Motorische Störungen 243
6.4 Heilpädagogische Herausforderungen 257
6.5 Übungsfragen und Literaturhinweise 272
7 Sprache 274
7.1 Grundlagen der Sprache 274
7.2 Sprachentwicklung 283
7.3 Sprech- und Sprachstörungen 290
7.4 Übungsfragen und Literaturhinweise 305
8 Kognitive Fähigkeiten 308
8.1 Entwicklung kognitiver Fähigkeiten 308
8.2 Lernschwierigkeiten und geistige Behinderung 316
8.3 Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom und Hyperaktivität 338
8.4 Heilpädagogische Herausforderungen 346
8.5 Übungsfragen und Literaturhinweise 359
9 Emotionen 361
9.1 Grundlagen des emotionalen Erlebens 361
9.2 Die emotionale Entwicklung 365
9.3 Emotionale und psychosoziale Störungen bei Kindern und Jugendlichen 373
9.4 Übungsfragen und Literaturhinweise 413
Glossar 415
Literatur 421
Sachregister 431
2Sozialmedizinische Grundlagen 2.1Was ist Krankheit? Gespräche von Menschen jenseits des 30. Lebensjahres drehen sich nicht selten um Gesundheit bzw. deren Fehlen, nämlich die Krankheit. Da wird von schweren Unfällen, Operationen oder chronischen Krankheiten bei Verwandten und Freunden und auch von den eigenen Malaisen berichtet. Alle medizinischen Fortschritte täuschen nicht darüber hinweg, dass wir nach wie vor im Laufe unseres Lebens erkranken und dass uns diese Thematik zutiefst beunruhigt. Auf den ersten Blick scheint es ganz einfach zu sein: Gesund ist, wer kein ärztlich festzustellendes Leiden aufweist, bei dem eine „Diagnose“ fehlt. Bei näherem Hinsehen stellen sich die Dinge komplizierter dar: Was ist mit den chronischen Rückenschmerzen, die sich weder röntgenologisch noch funktionsdiagnostisch zeigen? Sie führen dennoch dem Patienten erhebliches Leid zu und lassen ihn möglicherweise vorübergehend arbeitsunfähig sein. Hier müssen wir von „Störungen der Befindlichkeit“ und dem (meist naturwissenschaftlich) objektivierbaren Befund unterscheiden. Das ist aber eine spezielle, oft zu kurz gegriffene Sichtweise, wenn man nur dem objektiven Befund „Krankheitswert“ zuweist. Umgekehrt: Einem medizinischen Bonmot zufolge sind gesunde Menschen lediglich solche, die noch nicht ausreichend untersucht wurden. Irgendetwas, so könnte man sarkastisch formulieren, findet sich immer. Gerade die Möglichkeiten neuerer Gentests, aber auch eine immer detaillierter ausfallende biochemische oder durch bildgebende Verfahren gestützte Diagnostik können kleine Abweichungen des „Normzustandes“ zeigen. Man scheint somit nicht gesund, sondern „noch nicht krank“ zu sein. Wenn man aber Krankheit als einen „regelwidrigen“ Zustand versteht, bei dem körperliche Funktionen, Messgrößen oder Befunde nicht im Normbereich stehen, so muss man sich fragen, was denn unter einer solchen Norm zu verstehen ist. Der Arzt und Anthropologe Schiefenhövel berichtet beispielsweise von Gebieten Afrikas, in denen Würmer in der menschlichen Blase als „Norm“ zu betrachten sind – zweifellos lästig, zweifellos unangenehm, angesichts ihrer Alltäglichkeit aber letztlich „normal“. Messgrößen und Befunde, so führt er weiter aus, werden maßgeblich von trendsetzenden Medizinern und Bevölkerungsschichten etabliert. Manche solcher Befunde unterliegen auch bestimmten Moden und dem „Zeitgeist“. So war um 1900 in den meisten internistischen Lehrbüchern ein niedriger Blutdruck weder als Symptom noch als Krankheitseinheit zu finden. Um 1950 herum maß man diesem Symptom eine große Bedeutung bei, die mit ihm verbundenen Schwindelattacken oder das „Unwohlsein“ galten nun als krankhaft. In der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts hingegen relativierte sich das Bild wieder. Erschöpfungssyndrome unterschiedlicher Ausprägung werden nicht in jeder Gesellschaft gleichermaßen als Krankheit angesehen. Wenn, dann werden sie kulturell bedingt oft unterschiedlich attributiert: Engländer scheinen eher an „nervösen Leiden“ zu erkranken, bei Franzosen finden wir die „crise du foie“ – also eine Art Leberbeeinträchtigung, während Deutschen chronischer Stress und Erschöpfung „auf’s Herz schlägt“ und vermehrt zu funktionalen Herzbeschwerden führt. Was wir für krank oder gesund, für normal oder bedenklich halten, ist also keineswegs nur ein objektiv gegebener, naturwissenschaftlich zu messender Befund. Es richtet sich auch stark nach kulturellen Begebenheiten. So kann man im „Struwwelpeter“ Heinrich Hoffmanns, erschienen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zahlreiche Verhaltensweisen finden, die damals als Charakter- oder Erziehungsschwäche klassifiziert (und von Hoffmann entsprechend bestraft) wurden. In den vergangenen 160 Jahren hat eine derartig starke „Medikalisierung“ stattgefunden, dass von den ehemaligen Charakterschwächen nicht mehr allzu viel übrig geblieben ist: Paulinchen wurde zur Pyromanin, der Struwwelpeter ist ebenso wie der bitterböse Friedrich eher depressiv-depriviert, Hans-Guck-in-die-Luft könnte an einer Absence leiden, der Suppenkasper weist eine Anorexie auf, und im Zappelphilipp erkennen wir das hyperkinetische Syndrom. Ob mit einem solchen Paradigmenwechsel allerdings viel gewonnen wurde oder lediglich ein (wertend-normatives) Stigma durch ein neues (medikalisiertes) ersetzt wurde, sei dahingestellt. Erfahrungsgemäß erkennt man die Kultur- bzw. Epochenabhängigkeit von Krankheitsauffassungen erst aus der Distanz. So wurde angesichts der enormen Fortschritte in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts und des seinerzeit vorherrschenden Paradigmas einer Industriegesellschaft der Körper häufig als eine Art Fabrik vorgestellt, bei der die Leber entgiftet, das Herz pumpt, der Darm Nahrung transportiert und das Gehirn steuert. Dies war ebenso richtig wie kurz gegriffen. Am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden, gesellschaftlich bedingt, neue Paradigmen, die auch in der Medizin Einzug hielten. Momentan wird der Mensch eher mit einem Netzwerk verglichen, bei dem vor allem die Interaktion unterschiedlicher Funktionseinheiten im Vordergrund des Interesses stehen. Psychoneuroendo-krinoimmunologie Neue Paradigmen gehen von Wechselwirkungen verschiedener Systeme aus, wie sie eine neue und sehr erfolgreiche Fachrichtung, die Psychoneuroendokrinoimmunologie, postuliert. Demzufolge gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen Phänomenen (also Gefühlen, Vorstellungen und kognitiven Prozessen, die in unserem Gehirn repräsentiert werden), neurophysiologischen Phänomenen, die sich als Aktivität unseres Nervensystems beschreiben lassen, endokrinen Prozessen, die durch Hormonausschüttung charakterisiert sind und immunologischen Prozessen, die maßgeblich von den Zellen unseres Abwehrsystems abhängen und dafür sorgen, dass wir uns vor pathogenen Keimen schützen können. Nach neueren Erkenntnissen gibt es zwischen diesen Systemen zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge. Darauf wird weiter unten noch näher eingegangen. WHO Auch die Weltgesundheitsorganisation, derzufolge Gesundheit „ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (Waller 2013, 10) ist, formuliert in diesem zugegeben hohen Anspruch einen Gesundheitsbegriff, der eine Verknüpfung körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren intendiert. Unterschiedliche Krankheitsmodelle können mehr oder weniger dazu beitragen, Krankheiten und die von ihnen betroffenen Kranken, also Patienten (wörtlich: „Leidende“), zu verstehen und ihnen beizustehen. Im Folgenden sollen acht solcher Krankheitsmodelle kurz mit ihren Möglichkeiten und Grenzen vorgestellt werden. Medizinisches Krankheitsmodell: Ein klassisch-medizinisches, vorwiegend naturwissenschaftlich orientiertes Krankheitsmodell definiert Krankheit als einen regelwidrigen Funktionszustand körperlicher Organe, der eine spezifische Ursache, bestimmte Grundstörungen, typische Symptome und eine beschreibbare Prognose aufweist. So wäre z. B. ein Diabetes mellitus zu definieren als ein Mangel des Blutzucker steuernden Hormons Insulin, der auf einen Zelluntergang in der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen ist. Er ist durch Durst, Benommenheit, vermehrtes Wasserlassen u. a. spezifische Symptome von geschulten Therapeuten zu erkennen und erlaubt unter bestimmten therapeutischen Prämissen eine normale Lebenserwartung. Ein solches Krankheitsmodell ermöglicht die Erforschung von Ursachen und Verlaufsform ebenso wie gezielter, oft naturwissenschaftlich begründeter und hinsichtlich ihres Erfolges objektivierbarer Behandlungsmethoden. Der rasante Fortschritt der Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts beruht zum größten Teil darauf, dass sich Ärztinnen und Ärzte dieses naturwissenschaftlichen Paradigmas bedienten. Als es gelang, Insulin als Hormon zu identifizieren und zu synthetisieren, war die bis 1920 immer tödlich verlaufende „juvenile Zuckerkrankheit“ behandelbar. Sie ermöglichte, wenigstens im Prinzip, eine bedingte Gesundheit und normale Lebenserwartung. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass ein ausschließliches Beachten naturwissenschaftlich orientierter Kriterien möglicherweise nur Teilaspekte einer Erkrankung erfasst. Dass es außerdem die Dominanz von Ärzten stärkt und bei strenger Auslegung diätetische, psychologische, pädagogische und sozio-kulturelle Aspekte ebenso wenig berücksichtigt wie die dem Patienten und seinem unmittelbaren Umfeld innewohnenden Potenziale, ist ebenfalls ein des Öfteren angebrachter Kritikpunkt. Evolutionsbiologische Krankheitsmodelle: Eine etwas andere, gleichwohl biologische Facette bieten die Krankheitsmodelle der „Evolutionsmedizin“. Der zufolge lässt sich zumindest ein Teil von Krankheiten mit der Conditio humana, der menschlichen Beschaffenheit, die sich in...