Buch, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 220 mm, Gewicht: 312 g
ISBN: 978-3-949262-01-2
Verlag: Edition.fotoTAPETA Berlin
ODESSA – TIFLIS – VILNIUS – BAKU – CZERNOWITZ: „Im Westen selten wahrgenommen und meistens unterschätzt, finden sich am Rande Europas Zeuginnen einer wechselvollen, dabei sehr europäischen Geschichte, die lange vor den extremen Verwerfungen und brutalen Zäsuren des 20. Jahrhunderts begann“, schreiben die HerausgeberInnen der vorliegenden Sammlung über Metropolen des Ostens. „Diese Städte sind jedoch weit mehr als ‚weiße Flecken‘ auf der kulturellen Landkarte unseres Kontinents, dessen geographische Mitte im Osten liegt…“ Sie waren oder sind „Hauptstädte, jedoch meist von Regionen oder politisch-territorialen Konstrukten, seltener von Staaten“ – und im eigentlichen Wortsinn Metropolen, „nämlich ‚Mutterstädte‘, wesentlich für ihre Heimatregionen, ihr Umland, dessen bisweilen beeindruckende Ausmaße übliche zentraleuropäische Dimensionen häufig sprengen.“
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Angela Huber / Erik Martin
METROPOLEN des Ostens?
Im Westen selten wahrgenommen und meistens unterschätzt, finden sich am Rande Europas Zeuginnen einer wechselvollen, dabei sehr europäischen Geschichte, die lange vor den extremen Verwerfungen und brutalen Zäsuren des 20. Jahrhunderts begann.
Diese Städte sind jedoch sehr viel mehr als „weiße Flecken“ auf der kulturellen Landkarte unseres Kontinents, dessen geographische Mitte im Osten liegt, und sie sind mehr als steinerne Mahnmale für Gewaltherrschaft, Ausgrenzung und Vernichtung. Ihre Wahrnehmung derart zu reduzieren hieße, ihren eigentlichen Charakter und ihr wahres Wesen zu ignorieren. Und damit würde man zugleich etwas Entscheidendes verpassen, denn diese hybriden Schönheiten, deren spröder Charme sich oft genug erst auf den zweiten Blick mitteilt, widersetzen sich vorschnellen Urteilen und banalen Gewissheiten: Sie sind stolz, wollen entdeckt werden, respektiert und verstanden. Diese Räume maximaler architektonischer Verdichtung lesen sich wie Palimpseste, die uns zur Suche nach den unterschiedlichen Schichten ihres Subtextes ermuntern, und sie sind zugleich auch ambivalente Projektionsflächen kultureller und sozialer, ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten. Einige dieser ungewöhnlichen Städte sind historisch gewachsen und ebenso alt wie ehrwürdig, andere entstanden auf dem Reißbrett und sind vergleichsweise jung, wieder andere mussten massive Eingriffe in ihre urbane Struktur verkraften. Ihre unverwechselbare historische Prägung zeichnet sich auf ihner „Oberfläche“ wie ein komplexes, fast verborgenes Vexierbild ab. Nicht zuletzt sind aber auch sie lebendige, pulsierende moderne Stadt-Konglomerate mit allen aktuellen Problemen und Herausforderungen für die Zukunft, mit denen sich Städte heute überall auf der Welt konfrontiert sehen.
Bekanntlich sind Randlage oder Zentralität vom jeweiligen Blickwinkel abhängig. Unsere METROPOLEN des Ostens waren oder sind Hauptstädte, jedoch meist von Regionen oder politisch-territorialen Konstrukten, seltener von Staaten. Mit „etablierten“ Weltstädten können sie kaum konkurrieren, weder mit ihren Maßen noch beim Glamourfaktor, selbst wenn gelegentliche Zuschreibungen wie „Kleines Wien“ für Lemberg, „Manhattan in der Steppe“ für Astana/Nur-Sultan oder gar „Babylon am Schwarzen Meer“ für Odessa das suggerieren wollen. Doch sie waren und sind im eigentlichen Wortsinn Metropolen, nämlich „Mutterstädte“, essenziell bedeutsam für ihre Heimatregionen, ihr Umland, dessen bisweilen beeindruckende Ausmaße übliche zentraleuropäische Dimensionen häufig sprengen. Für die Menschen dort sind diese Städte das Ziel ihrer großen Träume und kleinen Sehnsüchte, sie sind Orte der Selbstverwirklichung, der Zuflucht aber auch des Scheiterns. Diese Faszination, dieser magische Sog, sind allen Städten auf die eine oder andere Weise gemeinsam und machen sie unwiderstehlich.
Die im vorliegenden Band versammelte Auswahl an eigenwilligen Stadtporträts lädt zu einem ungewohnten Wechsel der Perspektive ein, zu einer Entdeckungsreise der besonderen Art: mit unverstelltem Blick für das Unbekannte, neugierig auf überraschend Fremdes und unerwartetes Eigenes.
Den Band eröffnet ein Essay von Jurko Prochasko zu LEMBERG. Abseits der üblichen k.u.k.-Folklore, stellt der Text geopoetische und geophilosophische Überlegungen über den ‚Geburtsort‘ dieser Metropole an und wirft die Frage auf, ob die historische Geschichte einer Stadt oder einer Region auch von ihrer geographischen Konstellation und vorhistorischer Tiefenzeit bestimmt sein könnte.
Auch Sylwia Chutniks Aufsatz zu WARSCHAU ist eine Reflexion über den Ort, doch eine sehr moderne und persönliche: Die junge Schriftstellerin erinnert sich an die Stationen ihrer eigenen Geschichte und Familienchronik, die sie der traumatischen Geschichte der Stadt Warschau gegenüber stellt. So erscheint die polnische Hauptstadt nicht nur als Mahnmal der Geschichte, sondern wie selbstverständlich auch als Ort einer chaotischen Moderne, der einen Lebensraum für kommende Generationen bietet.
Um eine Hauptstadt, die sich ständig neu erfindet, geht es ebenfalls im nächsten Beitrag. Ingeborg Baldauf bietet einen Panoramablick auf ASTANA (ab 2019 firmiert die Stadt unter dem Namen Nur-Sultan, zu Ehren des langjährigen Präsidenten Kasachstans Nursultan Nasarbajew) und zeichnet die wechselvolle Geschichte der heutigen Planstadt von den Anfängen in der Wüste zur (hyper-)modernen Metropole.
Dass Städte nicht nur Orte, sondern auch Visionen sein können, zeigt Artur Klinau in seinem Beitrag zu MINSK. Er setzt die kommunistische Utopie einer gleichen und freien Gesellschaft mit dem Traktat Die Sonnenstadt (1602/23) des italienischen Philosophen Tommaso Campanella in Verbindung. Anhand von Minsk zeigt Klinau aber auch, wie eine Idee durch die (schlechte) Umsetzung pervertiert und in ihr Gegenteil gekehrt werden kann.
Vor diesem Hintergrund scheint die Stadt KAZAN schon fast als konkrete Utopie denkbar. Wie Jörn Happel zeigt, lässt sie sich nicht nur als geographischer Kreuzungspunkt zwischen Europa und Asien, zwischen Ost und West sowie Nord und Süd denken, sondern auch als produktiver Treffpunkt der Kulturen und Religionen. Diese fruchtbare Koexistenz lässt den Namen Kazans als „dritte Hauptstadt Russlands“ (nach Moskau und der zeitweisen Hauptstadt St. Petersburg) plausibel erscheinen.
Guido Hausmann untersucht in seinem Beitrag den Mythos des Kosmopolitismus der ukrainischen Hafenstadt ODESSA, der sich bereits kurz nach der Stadtgründung 1794 etabliert hat und bewusst verbreitet wurde. Gegen die beiden möglichen Extreme, einerseits den positiven Odessa-Mythos zu arg zu strapazieren und andererseits diesen Mythos zu entzaubern, liefert Hausmann den Aufweis eines „regional geprägten Kosmopolitismus“, der die heterogene einheimische Bevölkerung und ihre Interaktion mit der europäischen Elite vor Ort beschreibt.
Wie Kasan und Odessa ist auch TIFLIS Treffpunkt der Kulturen. In seinem Essay lässt Zaal Andronikashvili die Sprache der Musik und Poesie als Verbindung von Kulturen aufscheinen. Der Text wirft ein Schlaglicht auf die georgische Kultur vom Mittelalter mit ihren damaligen engen Verbindung zur arabischer Tradition, bis hin zur georgischen Avantgarde, die eine ebenso schillernde Erscheinung wie die europäische Avantgarde war. Den Autor liest den Ort als Stadtkultur, die keine nationale und keine imperiale war, sondern es vermochte, Kulturerscheinungen von Isfahan bis Paris produktiv zu verarbeiten.
Natürlich ist die Koexistenz der Kulturen nicht immer friedlich. Ein grauenhaftes Beispiel für ein gescheitertes Zusammenleben ist die Vernichtung jüdischen Lebens in Mittel- Osteuropa, wofür - auch - die Stadtgeschichte von VILNIUS steht. Doch Joachim Tauber zeigt auch die andere Geschichte der Stadt: von ihrer Gründungslegende, über ihre Zeit als Metropole eines des größten europäischen Staatengebildes des Mittelalters bis zu ihrer jetzigen Rolle als Touristenmagnet.
Neben der Geschichte und dem Raum können auch Rohstoffe die Gestalt und die Ästhetik einer Stadt prägen. Clemens Günther und Torben Philipp untersuchen den literarischen und kinematographischen Ölmythos der Sowjetunion anhand von BAKU, dessen jüngere Geschichte wie auch sein jetziges Aussehen – etwa die ikonischen Flame Towers (2013) – vom Erdöl mitbestimmt sind.
Im letzten Beitrag der Sammlung geht es um Erinnerung und die materielle Erinnerungskultur, sowie deren soziale und politische Deutungsmacht über die Vergangenheit, die eine Stadt (auch für ihre Einflussregion) setzen kann. Steffen Höhne analysiert die Denkmalpolitik der Stadt CZERNOWITZ, die in ihrer wechselvollen Geschichte sowohl Auslöschung der Erinnerung als auch Erfindung der Erinnerung an Ereignisse und Herrschaftsverhältnisse bezeugt.