E-Book, Deutsch, 184 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 1 g
Eine Klippe für Grossbritannien und Europa
E-Book, Deutsch, 184 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-03810-410-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
sich London und Bern gegenseitig als Vorbild nehmen?
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Einleitung
«You could unleash demons of which ye know not.» David Cameron, früherer britischer Premierminister In Westminster, rund um den neogotischen Parlamentsbau, pocht das politische Herz des Vereinigten Königreichs. Der Londoner Bezirk ist auch gemeinhin ein Sinnbild für die Verschmelzung von Politikern, Medienschaffenden und Lobbyisten, die sich in einer Blase bewegen. Grossbritannien ist das Paradebeispiel einer repräsentativen Demokratie, in der politische Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgehen. Das Referendum zum Austritt Grossbritanniens aus der EU hat das politische System in zweifacher Weise erschüttert: Erstens durch das Ergebnis an sich und, zweitens, durch die Volksbefragung als selten gebrauchtes Instrument, um eine politische Entscheidung zu treffen. Was sich einst buchstäblich am Rand des politischen Systems befand, ist in die Mitte vorgedrungen. Das Westminster-Parlament ist nicht weit vom Büro von Stuart Wheeler im Londoner Stadtteil Mayfair entfernt. Nähe und Distanz zum Regierungsviertel zeichnen das politische Wirken des hochbetagten Wheeler aus, der im Jahr 2000 für eine der grössten Geldspenden in der Geschichte des Landes an die Konservative Partei verantwortlich war. Er wechselte danach zur Anti-Establishment-Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) und engagierte sich für eine der Bewegungen, die für den Austritt Grossbritanniens aus der EU warben. Wheeler half mit, die Finanzierung von «Vote Leave» zu sichern. Der mit spitzbübischem Charme ausgestattete Wheeler hatte sein Geld mit der Gründung eines Unternehmens verdient, das ein Wetten auf Finanztitel erlaubt. Er gilt als passionierter Spieler. Seit mehreren Jahren agitiert er gegen die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens. «Wir haben unser Land erfolgreich geführt, ohne dass wir seit 1066 erobert worden wären», sagte Wheeler mit der festen Überzeugung eines Inselbewohners wenige Monate vor dem Referendum im Juni 2016. Es sei frustrierend anzusehen, dass Grossbritannien von einer nichtgewählten und undemokratischen EU-Kommission gelenkt werde. Das bevorstehende EU-Referendum sei der Höhepunkt für einen Euroskeptiker wie ihn, meinte Wheeler. Was für die einen ein Höhepunkt war, schätzten die anderen als Tiefpunkt der britischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Am Anfang des Referendums stand die sogenannte Bloomberg-Rede des damaligen Premierministers David Cameron im Jahr 2013. Cameron wollte damit die Grabenkämpfe in der Konservativen Partei um die Europafrage beilegen. In der Rede stellte er die Idee eines Referendums über einen möglichen Austritt vor. Er versprach der britischen Bevölkerung, sie vor die Wahl eines Austritts oder einer Mitgliedschaft in einer nach britischen Vorstellungen reformierten EU zu stellen. Dass dies ein gewagter Schritt ist, war Cameron durchaus bewusst. Camerons Berater Craig Oliver erinnert sich in einem Buch über die Geschehnisse an ein Gespräch mit dem Premierminister auf dem Weg zur Rede. Oliver fragte Cameron nach einem guten Grund, keine Volksbefragung abzuhalten. Der Tory-Politiker antwortete: «Es könnten Dämonen von der Leine gelassen werden, die man noch nicht kennt.» Und Dämonen wurden losgelassen. Die politische Diskussion auf der Insel entfernte sich nach der Brexit-Entscheidung meilenweit davon, Ironie oder gar Selbstironie als Instrument einzusetzen, was sonst übliche Versatzstücke in Grossbritannien sind. Vielmehr wurden vonseiten der hartgesottenen Brexit-Anhänger überall Betrüger, Verräter und Meuterer vermutet, wenn nicht der härteste aller harten Brexits angestrebt würde. Und auf der anderen Seite wurde der tägliche Weltuntergang ausgerufen und jede negative Nachricht für Wirtschaft und Gesellschaft mit dem EU-Austritt in Verbindung gebracht. Positive Meldungen wurden häufig mit dem Zusatz «trotz Brexit» versehen. Das Land bleibt auch nach der Abstimmung mit wechselnden Mehrheiten gespalten. Das Bekenntnis zu einer Anschauung wurde wichtiger als die Diskussion über die realpolitischen Auswirkungen, die Leichtigkeit war schnell abhandengekommen. Die Europafrage war aber beileibe kein Schnellzug, der auf einmal durchs Land raste, sondern vielmehr ein Bummelzug, der schon lange Zeit unterwegs war. Als ich im September 2014 den Posten als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London angetreten hatte, war der Gedanke, dass ein EU-Referendum tatsächlich zustande kommen könnte, noch weit entfernt. Gleichzeitig war es der Zeitpunkt eines anderen Referendums in Grossbritannien, das in den vergangenen Jahren für Furore gesorgt hatte: die Volksbefragung zur Unabhängigkeit Schottlands. Die schottische Bevölkerung sollte die Frage beantworten, ob die seit 1706 bestehende Union mit England aufgelöst werden solle. Zu dieser Zeit erschien das Vereinigte Königreich als ein Hort der politischen Abgeklärtheit. Die Wucht des schottischen Nationalismus wurde in einen direktdemokratischen Rahmen gelenkt, Emotionen wurden in einen Urnengang gepresst. Dass die britische Regierung ein schottisches Referendum zuliess und gelobte, sich an das Ergebnis zu halten, zeugte von einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren, das anderen Ländern durchaus Vorbild sein könnte. Dazu gehört auch, dass sich die Bevölkerung mit 55,3 Prozent der Stimmen gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen hat. Ein wichtiger Grund für das Ergebnis waren die unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen einer Unabhängigkeit. Die Schotten entschieden sich so, wie man es sich erwartet hatte: mit dem Portemonnaie und pragmatisch. Was für das schottische Referendum noch gegolten hatte, wurde zwei Jahre später auf den Kopf gestellt. Die britische Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft deutete zudem auf Grösseres hin. Es erschien, als ob Agenten des Zeitgeists die Geschicke des Referendums führten. Die Brexit-Entscheidung wird häufig im selben Atemzug wie die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 genannt. In beiden reifen angelsächsischen Demokratien kamen Politiker an die Macht oder wurde für Ansichten gestimmt, die den Nationalstaat in den Vordergrund rückten, die Globalisierung infrage stellten und den sogenannten politischen und wirtschaftlichen Eliten die Legitimation absprachen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Finanzkrise, die langfristigen Auswirkungen offener Grenzen sowie ein im Untergrund schlummernder Kulturkampf waren Bestandteile eines neuen politischen Cocktails, der in vielen Ländern, durchaus auch erfolgreich, angeboten wurde. Aufgrund des politischen Systems in den Vereinigten Staaten und der Natur eines Referendums hatten die Urnengänge in den USA und in Grossbritannien den Charakter einer Schicksalsentscheidung. Haben Donald Trump und Theresa May nun denselben Stellenwert für eine Renaissance des Nationalstaats wie einst das frühere amerikanisch-britische Duo Ronald Reagan und Margaret Thatcher für eine marktwirtschaftliche Revolution? Ein Vergleich der Trump-Wahl und der Brexit-Abstimmung zeigt neben Gemeinsamkeiten auch grosse Unterschiede. Während der frühere amerikanische Immobilientycoon «America first» zu seinem Motto gemacht und eine protektionistische Politik an seine Fahnen geheftet hat, sind die Brexit-Anhänger breiter aufgestellt: Sogenannte Thatcher-Liberale denken, dass die EU das Vereinigte Königreich zurückhält und an seiner Entfaltung hindert. Ihre Position ist eher, dass sich das Land der Globalisierung noch nicht weit genug geöffnet habe. Für den EU-Austritt Grossbritanniens stimmten gleichzeitig viele konservative Nationalromantiker, die ein Zeichen setzen wollten gegen Globalisierung, Freihandel und Zuwanderung. Ihnen gemeinsam war die Klammer, die «Kontrolle zurückzubekommen». Die Entscheidung der Briten vom 23. Juni 2016 hinterliess bei vielen Europäern vom Kontinent, besonders bei denen, die sich selbst gerne als anglophil betrachten oder die im Königreich wohnten, ein Gefühl der Ablehnung, der Enttäuschung und der Täuschung. Wie kann nach mehr als 40 Jahren ein Bund aufgelöst werden, der mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft auch ein Bekenntnis zu europäischen Werten ist? Eine Antwort liegt darin, dass für die Briten Appelle an Gemeinschaftssinn und Solidarität, wie sie in Kontinentaleuropa gerne ins argumentative Feld geführt werden, schal klingen. Die europäische Integration ist für die Briten kein Selbstzweck, auch das Hohelied auf die Union als Friedensprojekt hat für ihre Ohren keinen besonderen Klang. Paul Collier, einer der bekanntesten britischen Ökonomen, nannte die EU einen «Traum alter Männer». Die Währungsunion und die Personenfreizügigkeit wertet der Ökonom als Symbolpolitik ab. Dies ist wahrlich kein neues Phänomen, sondern zeigt das schon immer unterkühlte Verhältnis Grossbritanniens zur EU auf. Selbst ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft ist keine Besonderheit. Das Land trat erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Zwei Jahre danach stimmten die Briten bereits über einen Austritt aus dem europäischen Verbund ab. Initiiert hatte das – erfolglose – Referendum die sozialdemokratische Labourpartei. 1984 setzte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt durch: Dem Nettozahler Grossbritannien wurde auf die EU-Beitragszahlungen ein Abzug gewährt. Das Königreich ist zudem weder Mitglied der Währungsunion noch des Schengenraums. Der Oxford-Ökonom Kevin O’Rourke spricht von einem halbherzigen Mitglied und führt dies auch auf das imperiale Vermächtnis zurück. Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag...