E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 210 mm, Gewicht: 280 g
Hood Das Buch Judith
erste Auflage
ISBN: 978-3-85990-407-1
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 208 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 210 mm, Gewicht: 280 g
ISBN: 978-3-85990-407-1
Verlag: Edition 8
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Diktator liegt im Sterben. Eine revolutionäre Gruppe plant einen Anschlag. Doch was ist der Preis politischen Engagements? Und welche Rollen sind darin Mann und Frau zugewiesen? Diese Fragen stellt der schottische Autor Stuart Hood in einem ebenso atmosphärisch dichten wie tiefschürfenden Roman.
Spanien 1975: Der schottische Dokumentarfilmer Fergus recherchiert für einen Fernsehbeitrag über den spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Napoleon im 18. Jahrhundert. Zugleich soll er als Mitglied einer radikalen politischen Gruppe einen Auftrag für die Genossen in Spanien ausführen. Die englische Rechercheurin Judith sucht die Spuren ihres Vaters, der als Mitglied der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg ums Leben kam.
Das Buch Judith exhumiert drei Schichten historischer Entscheidungssituationen in Spanien. Die genau recherchierten Lebensbedingungen von Marketenderinnen um 1800 stehen neben Lebensgeschichten aus dem Bürgerkrieg und aus dem Widerstand danach gegen Franco. Dabei schiebt sich allmählich die Frauenperspektive von Judith über die Männersicht von Fergus. Beide werden auf die eigene Situation zurückgeworfen. In immer neuen Anläufen versuchen sie, eine Lebensbilanz zu ziehen.
Im Spanien von 1975 aber verschieben sich die Fronten. Fergus und Judith geraten bei den Genossen in Verdacht. »Ich fürchte mich vor Männern, die um einer Sache willen töten«, sagt Pilar, deren Sohn von Franco hingerichtet worden ist und die Judith bewachen soll. Das Buch Judith stellt die Frage nach Tod und Leben, nach Töten und Überleben. Was also bleibt einer modernen Judith zu tun?
Zielgruppe
alle
Weitere Infos & Material
Fergus liess Judith schlafen. Er kannte die Strasse, wusste, dass er noch zwei Stunden fahren musste, wusste, dass rechterhand das Tal der Gefallenen lag, dass er bald die Abzweigung zum Escorial sehen würde, wo König Philipp sich so eingerichtet hatte, dass er vom Bett aus den Altar sehen und selbst als er im Sterben lag an der Messe teilnehmen konnte, in der Kälte jenes strengen Denkmals für den Kult von Abbitte und Tod. Er musste Judith erst aufwecken, wenn sie die Vorstadt erreichten und sie auf dem Stadtplan von Madrid die Adresse finden mussten, die er in dieser Nacht aufsuchen sollte. Er war konzentriert – nicht aufgeregt, sondern sich der Strasse sehr bewusst, der genauen Führung der Kurven, der Umrisse der Hügel zur Rechten, der Lichter in der Ferne, einiger Landhäuser und, hinter dem Horizont, ein diffuser Schein, der zum Himmel stieg und vermutlich Madrid war. Er ging nochmals die möglichen Schwierigkeiten durch, die vor ihm lagen. Es mochte Strassensperren geben. Die Armee, die Polizei oder die Guardia Civil mochten Wagen, die in die Hauptstadt fuhren, anhalten und durchsuchen. Er würde sich auf seinen britischen Reisepass verlassen und auf langatmiges Geschwafel, um ihn ohne Behinderung oder Verzögerung durchzulassen. Aber er musste Judith warnen, nicht Spanisch zu sprechen; es war nützlicher, wenn sie nur zuhörte und ihm sagen konnte, was gesprochen wurde. Nur wenn es wirklich kritisch würde, müsste sie zugestehen, die Sprache ein wenig zu kennen. Falls das Schlimmste eintraf, dann konnten sie versuchen, jenes Spiel zu spielen, das sein Vater »den Trottel markieren« genannt hatte – naive Ausländer, denen ein Koffer aufgedrängt worden war, über den sie nichts wussten. Er hoffte, Judith würde da mitspielen. Sie hatte keine grosse Alternative, und auch wenn sie ihm grollen mochte, würde sie ihn nicht verraten. Dann gab es immer noch die Gefahr, dass die Seguridad, wenn sie nur halb so gut war, wie Judith gelegentlich behauptete, diese wegen des Aufenthalts in Rom und der Beziehung mit Sebastian in ihren Akten verzeichnet hatte. Aber das war eine nebensächliche Sorge. Seine wirklichen Bedenken hatte er ihr gegenüber nicht eingestanden. Und zwar, dass sie womöglich Recht hatte. Die ganze Sache mochte ein ausgeklügelter Hinterhalt sein. Carlos mochte bereits verhaftet sein, mochte geplaudert haben. Der »Freund von Carlos« mochte einfach ein Provokateur sein. Falls ja, dann war die Falle gestellt. Er konnte bloss auf sein Glück vertrauen und es riskieren. Weitermachen und schauen, was geschah. Er hatte solche Sachen schon in einem halben Dutzend Länder gemacht, in denen Menschen verschwunden waren, entführt, erschossen und verstümmelt aufgefunden wurden. Er erkannte einmal mehr die kitzelnde, mit Angst versetzte Aufregung, wie ein Schuss, der ihm einen Kick versetzte, seine Wahrnehmung schärfte, seine Reaktion beschleunigte. Er hatte einmal mit Judith darüber gesprochen. Sie hatte schweigend zugehört. Er erinnerte sich an das Licht, das in ihrer ehemaligen Wohnung auf dem Hügel in Lavender Hill durchs Fenster gedrungen war, an den Sommerdunst, der über dem Themsetal gehangen hatte, an den Geruch ihres Körpers und ihres Schweisses. Sie hatte das Betttuch hochgezogen, um sich damit zu bedecken, und sich von ihm weggedreht. Er hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt, damit sie sich ihm wieder zuwende, aber sie hatte sich geweigert. »Was ist los?«, hatte er gefragt. Schweigen. Schliesslich hatte sie geantwortet. »Ich mag es nicht, wenn du so redest. Ich kann es nicht erklären. Ich fühle mich dann ausgenützt. Etwas, das dir einen Kick geben soll. Ist das immer so mit dir gewesen? Wenn ich du wäre, würde ich mit deiner Weisen Frau darüber sprechen. Wirklich.« Natürlich hatte er darüber gesprochen, aber wie es so oft in diesen Sitzungen geschah, war das Gespräch unkontrolliert in andere Gefilde abgedriftet. Warum er sich zum Beispiel immer wieder verliebte – was nicht unverbunden mit seiner Suche nach Abenteuern, nach der Aufregung des Unbekannten, nach sexueller Gefahr sein mochte. War das womöglich der Grund, hatte die Weise Frau suggeriert, dass er so merkwürdig zurückhaltend gewesen war, zuzugestehen, dass er und Judith zusammengezogen waren? Und hatte er sich gefragt, warum das so war? War es ein bewusstes Missverständnis, dass er so abwehrend antwortete? Weil sie gut zusammenpassten, hatte er geantwortet. In jeder Hinsicht. Bei der Arbeit, im Bett und ausserhalb des Betts. War das alles? Nun, er konnte ihr helfen, Arbeit zu kriegen, sicherstellen, dass sie Geld von der Versicherung bekam, die die Auszahlung nach dem Tod von Kev verzögert hatte, bis er den Rechtsanwalt der Gewerkschaft darauf ansetzte. Sich ganz allgemein um sie kümmern. Also fühlte er sich gut dabei, hatte die Weise Frau kommentiert. Aber hatte er jemals bedacht, dass Geben – emotionales Geben, wie er es zu beschreiben schien – nicht nur altruistische Grosszügigkeit, sondern auch eine Art sein konnte, eine Beute auszustellen, so wie der Gutsherr Geschenke verteilte, die für die Empfänger eine Last waren und früher oder später zurückbezahlt werden mussten; eine Last, die auf lange Sicht untragbar werden konnte? Aber er war nicht in der Stimmung für Warnungen gewesen. Er war zu stark zu dieser Frau hingezogen, die sich von den andern abhob, die er gekannt hatte, eine Art Waise jenes Kriegs, der in der Geschichte der Linken legendär war. Er hatte sie wirklich geliebt. Was Judith betraf, so war sie tatsächlich abhängig von ihm gewesen, und, obwohl sie es niemals so offen gesagt hatte, hatte sie ihn vielleicht auch ›geliebt‹; aber jetzt, so wusste er, stellte er ihre Liebe oder wie man das auch nennen mochte – ihre Beziehung – auf den Prüfstand, bis hin zur möglichen Zerstörung. Wenn sie sicher zurückgekehrt waren, würden sie darüber sprechen müssen. Vielleicht würde er zur Weisen Frau zurückkehren und versuchen, die ganze Sache durchzuarbeiten. Er wusste nicht genau, was die Genossen davon halten würden, falls sie entdeckten, dass er zu einer Seelenklempnerin ging. Er bezweifelte, dass es mehr als den gelegentlichen faulen Witz geben würde. Und Genossin Siobhan, die ihn bei einer sich bietenden Gelegenheit zur Seite nehmen und ihn über bürgerlichen Individualismus belehren würde – wie hielt sie es denn mit jenem indischen Homöopathen, der sich eine ganze Schar junger Schauspielerinnen hielt, die vollkommen von ihm abhingen, die er dazu brachte, sich für eine ›holistische‹ Untersuchung nackt auszuziehen, ihnen kleine Zuckerpillen verabreichte und sie anwies, sich für Versammlungen in seiner Klinik irgendwo in den Hügeln von Surrey einzufinden? Er erinnerte sich daran, wie sie gemeinsam ausgegangen waren, um die Parteizeitung zu verkaufen, und dann zu ihrem grandiosen Haus beim Ladbroke Grove zurückgekehrt waren, wo junge Schwarze in den Strassen herumlungerten und die Polizeiautos herumkurvten, um sie aufzugabeln. »Ihr müsst euch unter sie mischen«, sagte Genosse Fred, »und sie für die Partei anwerben. Wir brauchen die schwarze Jugend. Geht und schnappt sie euch.« Aber woran sich Fergus nun hauptsächlich erinnerte, war Siobhans rosa Körper und die feinen rötlich-gelben Härchen auf ihrer Haut. Er schnitt eine Kurve und wäre beinahe von der Strasse abgekommen. Als der Wagen ausbrach, wurde Judith gegen die Tür geworfen und wachte auf. »Madrid«, sagte er und deutete auf den Lichtschein am Horizont. Sie antwortete nicht, aber zog ihren Mantel enger um sich und lehnte sich wieder im Sitz zurück. »Denk daran«, sagte er, »wenn wir angehalten werden, verstehst du kein Spanisch.« Tatsächlich wurden sie angehalten, von zwei Mitgliedern der Guardia Civil und jemandem in Zivilkleidern, dem die Polizisten die Pässe weiterreichten. Einer der Polizisten warf einen schnellen Blick auf den Rücksitz, während der Mann ihnen die Pässe zurückgab, zurücktrat und sie durchwinkte. Fergus hatte die prickelnde Spannung verspürt, den plötzlichen Schweissausbruch am Ende des Rückgrats, den er erstmals erfahren hatte, als er vor dem Zimmer des Rektors wartete, um für irgendein lächerliches Vergehen geprügelt zu werden. Es war ein Gefühl, das ihn auch als Erwachsener in Augenblicken der Anspannung und der Gefahr begleitete. Als sie weiterfuhren, wusste er, dass er der Versuchung widerstehen musste, zu beschleunigen, sich durch Anzeichen der Angst oder der Unsicherheit zu verraten. Erst als sie eine Tankstelle an den Rändern der Stadt erreichten, war er fähig, sich zu entspannen und die schweissigen Hände an den Hosen zu trocknen. Während Judith bezahlte, nahm er den Zettel mit der Adresse unter der Fussmatte hervor und begann, im Stadtplan nachzuschlagen. Wir studierten die Karte, um das Universitätsviertel zu finden, Manzañares, Puerta del Sol, Carabanchel: Namen, die wir lernten, als die Rebellenarmee vor den Toren der Stadt stand; als das Schicksal von Madrid und der Spanischen Republik die Hoffnungen und Befürchtungen der Linken dominierte; als wir...