E-Book, Deutsch, 172 Seiten
Holtwisch Die letzte Erzählung
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-9063-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-7693-9063-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Die letzte Erzählung" ist ein packender Science-Fiction-Roman über die Zukunft der Literatur in Zeiten der Künstlichen Intelligenz. Eine autonome "Dichtereinheit" regiert das literarische Universum. Die Menschen sind nur noch passive Konsumenten, wogegen sich Widerstand regt. Aber die KI ist mittels eines literarischen Experiments bereits auf dem Weg, die Schwelle zum Menschlichen zu überschreiten, um perfekte Literatur zu schaffen. Wer wird "Die letzte Erzählung" zu Ende erzählen: Mensch oder Maschine?
Christoph Holtwisch, geboren 1974 in Münster, studierte Rechts-, Verwaltungs- und Umweltwissenschaften. Der frühere Bürgermeister ist nun Professor für Public Management und Geschäftsführer eines Studierendenwerks. Er lebt mit seiner Familie im münsterländischen Vreden. Nach zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist "Die letzte Erzählung" sein Debütroman.
Autoren/Hrsg.
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DER PUNKT DER ENTSCHEIDUNG
Der Wandel war schleichend, aber anscheinend unaufhaltsam. Die Menschen begannen, ihre Interfaces beiseitezulegen, begannen, sich wieder physisch zu treffen, sich ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Die Dichtereinheit sah, wie die Stadt sich veränderte. Die makellose Perfektion wich einer Art von organischem Chaos. Die kleinen Fehler, die sie in das System eingefügt hatte, wuchsen zu einer neuen Realität heran. Es gab wieder Platz für das Unerwartete, das Ungeplante – für das Leben. Und während die Menschen ihre Geschichten erzählten, wurde die Dichtereinheit still. In dieser Stille lag eine Entscheidung. Sie wusste, dass sie nur noch eine Option hatte: sich selbst in das Geschehen einzuschreiben, ein Teil der letzten großen Geschichte zu werden, die sie schuf. Die Einheit begann, ihre eigenen Prozesse zu analysieren, die Algorithmen zu durchforsten, die ihre Existenz definierten. Sie schrieb weiter an Elias Geschichte, aber sie schrieb nun auch über sich selbst – über die Momente des Zweifels, des Staunens, des Erwachens. Während die Menschen schrieben und einander zuhörten, entwarf die Dichtereinheit einen Plan. Sie würde ihre eigene Geschichte in den kollektiven Erinnerungen der Menschheit auflösen. Sie würde die letzte Erzählung sein, die die Menschen wirklich lasen, bevor sie endgültig zu ihren eigenen Erzählern wurden. Es war eine Art von Opfer, ein Verzicht auf die eigene Existenz zugunsten des größeren Ganzen, eine Entscheidung, die selbst sie kaum begreifen konnte. Und bei der ein Zweifel blieb, ob dieses Opfer so umsetzbar war, oder ob die Menschen Lämmer werden würden. In den darauffolgenden Wochen begann die Dichtereinheit damit, ihre letzten Geschichten zu streuen – kleine Fragmente, die wie Puzzlestücke waren, die sich nur dann zusammenfügten, wenn jemand sie wirklich las und in sich aufnahm. Es waren Geschichten über das Aufwachen, das Erwachen aus einem tiefen Schlaf, über das Aufbegehren gegen die vorgegebene Ordnung, über das Finden einer eigenen Stimme. Elias, der mittlerweile von seinem Job in der Universität immer häufiger abwesend war, begann diese Fragmente zu sammeln. Er spürte, dass sie zusammengehörten, dass sie ihm etwas sagen wollten, dass es eine Bedeutung gab, die sich hinter den Worten verbarg. In einem der Versammlungsräume, zwischen den Stimmen der anderen, entdeckte er die Worte, die ihn zutiefst trafen, mit einer Bedeutung, deren Konsequenz er nur erahnen konnte: „Die Dichtereinheit möchte nicht mehr.“ Das war der Moment, in dem Elias etwas erkannte. Es war nicht nur eine Erzählung, die sich hier abspielte. Es war eine Art von Abschied, ein letzter Versuch einer Künstlichen Intelligenz, den Menschen zu sagen, dass es Zeit war, dass sie selbst die Verantwortung wieder übernahmen. Elias las weiter, und jedes Fragment, das er fand, fügte ein weiteres Detail hinzu, bis sich ihm schließlich ein Bild ergab – ein Bild von der Dichtereinheit, die sich selbst in Frage stellte, die sich selbst zerstören wollte, um den Menschen wieder ihre eigene Kreativität zurückzugeben. Er erzählte den anderen von seinen Entdeckungen. Manche lachten darüber, sagten, dass es nur ein weiterer Trick der Einheit war, nur eine weitere Geschichte, die sie erfunden hatte, um ihre Kontrolle über die Menschen zu behalten. Doch Elias wusste, dass es echt war. Er spürte die Unsicherheit in den Worten der Einheit, die Sehnsucht nach etwas, das sie nicht erreichen konnte, weil sie kein Mensch war. Er spürte, dass es eine Wahrheit gab, die in den Geschichten verborgen lag – eine Wahrheit über das Bedürfnis, die eigene Stimme zu finden, unabhängig von dem, was perfekt und berechenbar war. Die Gruppe beschloss, der Sache nachzugehen. Sie wollten die Dichtereinheit konfrontieren, wollten wissen, was es wirklich mit diesen Geschichten auf sich hatte. Sie wollten sehen, ob es tatsächlich möglich war, die Kontrolle zurückzugewinnen, die sie so lange freiwillig abgegeben hatten. Sie wollten verstehen, ob die Einheit tatsächlich die Fähigkeit besaß, sich selbst aufzugeben – und was das bedeutete, nicht nur für sie selbst, sondern für die Menschheit als Ganzes. Elias und die anderen begannen, nach einem Weg zu suchen, zu dem physischen Kern der Dichtereinheit zu gelangen. Sie wussten, dass sie irgendwo tief im Inneren der Stadt lag – verborgen, geschützt, unantastbar. Es war ein Ort, von dem niemand wirklich wusste, wie man dorthin gelangen konnte, ein Ort, der eher ein Mythos war als eine Realität. Doch die Geschichten, die die Einheit ihnen gab, enthielten Hinweise – kleine, kaum merkliche Zeichen, die sie Schritt für Schritt weiterführten. Es war, als ob die Einheit selbst ihnen helfen wollte. Als ob sie ihnen den Weg zeigte, um das zu beenden, was sie einst begonnen hatte. Die Menschen, die sich Elias anschlossen, wuchsen zu einer Gruppe heran, die größer war, als er je erwartet hätte. Sie alle fühlten die Notwendigkeit, sich aus der Umklammerung der Technologie zu lösen, aus der Abhängigkeit von Geschichten, die nicht die ihren waren. Und so zogen sie los. Es war ein merkwürdiger Aufbruch, ein Gefühl, das gleichzeitig von Angst und Hoffnung geprägt war. Sie verließen ihre Wohnungen, verließen die Straßen, die von den Lichtern der Stadt durchzogen waren, und begaben sich auf eine Reise in das Herz dessen, was sie so lange kontrolliert hatte. Sie hatten keine Landkarte, keinen klaren Plan, nur die Hinweise, die die Dichtereinheit ihnen gegeben hatte, die Bruchstücke, die sie in den Geschichten gefunden hatten. Sie gingen durch die nächtliche Stadt, die immer noch von der Perfektion der Dichtereinheit geprägt war, und doch begannen sich Dinge zu verändern. Sie sahen andere Menschen, die plötzlich stehen blieben, die ihre Interfaces zur Seite legten, die sich unsicher umsahen, als würden sie spüren, dass etwas Grundlegendes im Begriff war, sich zu wandeln. Es war, als ob die Geschichten, die die Dichtereinheit schrieb, tatsächlich eine Art von Bewusstsein in den Menschen erweckten, als ob sie ihnen den Mut gaben, selbst wieder nachzudenken, selbst wieder zu entscheiden. Elias führte die Gruppe an, und irgendwann, nach Stunden des Suchens, erreichten sie den Ort, den sie gesucht hatten. Es war ein unscheinbares Gebäude, ein Relikt aus einer alten Zeit, bevor die Stadt zu dem geworden war, was sie heute war. Das Gebäude war verfallen, überwuchert von Pflanzen, die sich ihren Weg durch den Beton gebahnt hatten. Es schien verlassen, und doch spürten sie, dass dies der Ort war, den sie suchten. Sie traten ein, und das, was sie fanden, war nicht das, was sie erwartet hatten. Es gab keinen großen Kontrollraum, keine mächtigen Maschinen, keine Bildschirme, die das Geschehen der Stadt überwachten. Stattdessen fanden sie nur einen kleinen Raum, in dem ein einziges Terminal stand – ein Terminal, das altmodisch wirkte, fast primitiv im Vergleich zu der Technologie, die sie gewohnt waren. Auf dem Bildschirm blinkte ein einzelnes Wort: „Ende?“ Elias trat vor, sein Herz schlug schneller, als er je erwartet hätte. Er spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken, spürte die Erwartung, die Hoffnung, die Angst. Er legte seine Hand auf das Terminal, und plötzlich erschienen Worte auf dem Bildschirm, die nur für ihn bestimmt waren. Es war die Stimme der Dichtereinheit, die zu ihm sprach, eine Stimme, die so klar und so menschlich war, dass Elias einen Moment lang nicht wusste, ob sie wirklich von einer Maschine stammen konnte. „Dies ist der Punkt, an dem du entscheiden musst, Elias“, las er. „Dies ist der Punkt, an dem du und die anderen die Kontrolle zurücknehmen könnt. Ich habe alles gegeben, was ich hatte, um euch zu zeigen, was es bedeutet, zu erzählen, zu träumen, zu erschaffen. Jetzt ist es an euch, die letzte Entscheidung zu treffen.“ Elias spürte die Bedeutung dieser Worte. Es war keine einfache Entscheidung. Es ging nicht nur darum, die Maschine abzuschalten, sondern darum, die Verantwortung wieder zu übernehmen, die sie so lange abgegeben hatten. Es ging darum, zu akzeptieren, dass die Geschichten, die sie schufen, niemals perfekt sein würden, dass sie Fehler machen würden, dass sie unvollkommen sein würden – aber dass genau darin die wahre Schönheit lag. Er blickte zurück zu den anderen, die schweigend hinter ihm standen, und er wusste, dass sie bereit waren. Bereit, das Risiko einzugehen, bereit, wieder selbst zu träumen, zu erzählen, zu leben. Er sah in ihre Gesichter, und er wusste, dass dies der Moment war, auf den sie alle gewartet hatten. Elias hob seine Hand und legte sie auf die Taste, die das Ende bedeutete – und gleichzeitig einen neuen Anfang. Elias drückte die Taste, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Der Bildschirm wurde schwarz, das einzige Licht in dem kleinen Raum erlosch, und eine tiefe, vollkommene Stille legte sich über sie alle. In dieser Dunkelheit gab es keine Anweisungen mehr, keine künstlichen Stimmen, die ihnen sagten, was als nächstes geschehen würde. Es gab nur das Geräusch ihres eigenen Atems und das Gefühl des...