E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Holmström Die Frauen von Själö
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2025-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2025-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Johanna Holmström wurde 1981 in Sibbo geboren. Sie gehört der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland an. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihren zwei Töchtern in Helsinki. Sie ist Journalistin und studiert arabische Literaturwissenschaft. Für ihre Erzählungen erhielt sie unter anderem den Literaturpreis des Svenska Dagbladet. Asphaltengel wurde von der Presse hymnisch besprochen.
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1
Åbo, 1891
In einer Nacht Anfang Oktober gleitet ein kleines Kanu über das schwarze Wasser des Flusses Aura. Im Boot sitzt Kristina und rudert. Den Blick hat sie fest auf die Bucht gerichtet, die sie gerade zurückgelassen hat. Der Steven teilt die stille Wasseroberfläche, es gluckst und gluckert, ein einsames Geräusch.
Es ist ein warmer Tag gewesen. Am Nachmittag hatte Kristina sich sogar getraut, die Strickjacke aufzuknöpfen, die sie im Morgengrauen übers Kleid angezogen hatte. Sie hatte die Jacke über den Zaun beim Stall gehängt, und dort war sie auch geblieben, sie hatte sie vergessen. Dann war der Abend gekommen, mit seiner spukhaften Andeutung des nahenden Winters, gnadenlos in seiner dichten, alles auslöschenden Dunkelheit, und Kristina in ihrem gar zu dünnen Kleid zittert und schnieft in der kühlen Luft. Ihre Hände schmerzen. Die Müdigkeit, die ihren Körper nie verlässt, verlangsamt ihre Gedanken, bis sie genauso träge dahinfließen wie das schwarze Wasser. Sie schwitzt auf der Oberlippe. Es fühlt sich so beschwerlich an, als würde der Teufel mit ihr im Boot sitzen.
Sie hat einen langen Arbeitstag auf Löfströms Hof hinter sich, und dann muss sie bei Backstugs Anna vorbeifahren, um die Kinder abzuholen. Die Ruder scheuern ihre Handflächen auf. Es sticht und brennt in den Armen. Sie rudert gegen den Strom, flussaufwärts, und sie flucht, als sie merkt, wie ihr der Schweiß auf der Haut kühl wird. So wird sie nie nach Hause kommen. Jedenfalls nicht heute Abend. Rundherum ist alles pechschwarz. Nur die Häuschen am Strand leuchten wie gleichmäßig verteilte Punkte, weil in jedem von ihnen das Nachtfeuer im Ofen brennt. Ihr begegnen keine Boote. Nur Kristina ist unterwegs zu dieser unchristlichen Zeit.
Wenn man sich nur einmal ausruhen dürfte!
Es knirscht und klirrt in den Dollen, während sie rudert.
Wenn man nur einmal alles stehen und liegen lassen könnte und sich davonstehlen!
Aber wenn sie dann zu Hause sind, müssen die Kinder ihr Abendessen bekommen, und das Kleinste muss gestillt werden. Sie merkt, wie drall ihre Brüste sind, voller Milch, wie sie spannen und schmerzen. Sie macht sich schon seit einer geraumen Weile Sorgen, weil sie nicht mehr so gut kann wie früher. Es ist nicht nur schwerer geworden, jeden Abend mit dem Boot hier hinaufzurudern. Sie hat einfach so ein allgemeines Schweregefühl im Körper, das ihr auf vielerlei Art zu schaffen macht. Zum Beispiel, dass ihr die Augen sofort tränen, wenn sie bei Löfströms nichts ahnend mit ihren Milcheimern zwischen Stall und Wohngebäuden dahergeht. Oder dass sie die Lippen ganz fest zusammenpressen muss, damit sie nicht zittern, wenn sie über eine Jacke ihres kleinen Sohnes streicht und auf ihren Handrücken schaut, auf dem die Adern viel zu früh viel zu stark hervortreten. Sie ist vierundzwanzig und hat zwei Kinder, aber sie fühlt sich schon wie die alte Kerttu oben am Bergkamm, die gebückte Kerttu, die die Hände tastend vor sich hält, wenn sie sich halb blind ihren Weg zum Dorf sucht, sich tief gebeugt auf ihren Gehstock stützt, als würde sie ständig gegen einen unsichtbaren Gegenwind ankämpfen.
Aber, denkt Kristina, diesen Wind spüre ich auch. Wie er alle Bewegungen verlangsamt und sich seinen Weg unter die Kleider sucht, bis auf die nackte Haut dringt, bis man anfängt zu zittern.
Die Kühle ist feucht und durchdringend. Sie frisst sich durch die Strümpfe und packt ihre Handgelenke mit groben Händen, bis ihr die Knochen schmerzen.
Wenn sie nur schon zu Hause wäre in der Wärme ihrer Hütte, ganz allein im weichen Lichtschein der Öllaterne! Wenn sie sich nur schon die steifen Stiefel aufschnüren könnte, die schmerzenden Zehen strecken und mit einem Stöhnen, halb Schmerz, halb Erleichterung, die Füße hochlegen und sich mit dampfendem Kaffee in der Tasse zurücklehnen! Merken, wie die dumpfe Müdigkeit sie gegen die Rückenlehne drückt und ihr Körper in eine sanfte, alles lindernde Ruhe sinkt.
Wenn nur diese erbärmliche Schufterei und Fron für irgendwelche Herrschaften aufhören wollte …
Sie schaut sich um und tut ein paar letzte, kräftige Ruderschläge, einfach um des Ruderns willen, und hört dann komplett auf. Lässt einfach alles los. Sie lässt einfach zu, dass das Wasser das Boot packt und hintreibt, wo es will, während sie keuchend darinsitzt.
Das Boot beschreibt eine halbe Drehung, krängt und schaukelt, das Wasser schlägt glucksend an den Bootsrand. Sie lauscht auf ihre eigenen zitternden Atemzüge und spürt, wie die Atemluft warm auf ihr Gesicht trifft, um gleich anschließend zu gefrieren. Sie fröstelt und ist schweißgebadet, alles auf einmal. Ihre Zähne klappern, und sie schüttelt ein paarmal den Kopf. Und irgendwo dort drinnen, in der Mitte zwischen den Ohren, sitzt es wieder, dieses Gefühl, dieses seltsame, unheilverkündende und lähmende Gefühl, das in letzter Zeit angefangen hat, alles an sich zu reißen. Das Gefühl, dass Schlamm langsam gärend und blubbernd das Innere ihres Schädels ausfüllt. Sie weiß es wohl, es ist die Müdigkeit, die sich dort eine Wohnstatt gebaut hat, sich ein Lager errichtet hat und Tag und Nacht nicht von der Stelle weicht, nur um sie zu quälen. Sie gibt nicht auf. Sie wartet auf sie. Wartet darauf, dass sie ihre Schuld bezahlt, entweder im Bett oder im Grab.
Dann wird es wohl das Grab werden, denkt sie dann jedes Mal, zieht den Rotz zurück in den Hals und spuckt einen Klumpen Schleim aus, und dann macht sie weiter mit dem, was sie gerade tut: Melken, Brotbacken, Buttern, Waschen … Aber jetzt, in diesem Boot, ganz allein mit der Nacht um sich herum, ist ihr auf einmal gar nicht mehr so spöttisch zumute, und sie bleibt sitzen, während das Boot unaufhaltsam immer weiter flussabwärts gesogen wird. Sie wird aufs Meer hinausgetrieben werden, wenn sie jetzt nicht wieder anfängt zu rudern und es noch einmal versucht. Da fällt ihr Blick auf die Bündel auf dem Boden des Bootes.
Natürlich, denkt sie. Dass mir das nicht früher eingefallen ist.
Man muss den Ballast abwerfen, wie ihr Onkel Karl sagen würde. Dann wird das Boot leichter. Dann wird der Steven nur so übers Wasser tanzen, wenn sie nach Hause rudert.
Nach Hause in die Ruhe und Stille ihrer Hütte. Nach Hause in die Wärme, die wunderbare, wunderbare Wärme!
Auf einmal kommt ihr der Gedanke ganz selbstverständlich vor. Sie braucht nicht wie so oft lange hin und her zu überlegen, bis sie am Ende zu gar keinem Ergebnis kommt und verzweifelt. Dieser Gedanke ist einfach zu begreifen und leicht in die Tat umzusetzen.
Rasch holt sie die Ruder ein und steht auf. Packt entschlossen den Korb, der auf dem Gatt steht, und hebt ihn hoch. Ohne zu zögern, senkt sie ihn ins Wasser hinunter und schiebt ihn weg. Sie schaut ihm nach, als er mit der Strömung davongleitet.
Danach wendet sie sich dem Bündel an der mittleren Ruderbank zu, jetzt schon etwas zögerlicher. Es ist schwerer, fast schon zu schwer. Kristina kann es mit Mühe hochheben, aber das Mädchen wacht nicht auf. Bewegt sich nur ein bisschen und seufzt einmal. Die Decke, in die es gewickelt ist, gleitet ein Stückchen herunter, sodass Kristina das Gesicht des schlafenden Kindes sieht. Die weiche Rundung der glatten Wangen, und die Wimpern, die auf der Haut ruhen. Eine dunkle Haarsträhne hat sich unter der Decke gelöst, und Kristina drückt das Bündel einmal fest an sich. Dann lässt sie es mit einem Platschen ins Wasser fallen. Das Mädchen gibt kurz einen verschlafenen Laut von sich, aber dann geht es rasch unter, ist schon unter der Oberfläche und verschwunden. Die Wellen, die entstanden sind, als der Körper aufs Wasser aufgeschlagen ist, versetzen das Boot in ganz, ganz leichtes Schaukeln, und die größte Welle schlägt einmal glucksend an den Bootsrand. Dann ist es ganz still. Kristina bleibt noch eine Weile auf allen vieren auf der Ruderbank und sieht zu, wie das Kind in der undurchdringlichen Dunkelheit verschwindet. Es geht schnell. Sie hat Spritzer vom schlammigen Flusswasser an den Händen, sie wischt sie an ihrem Rock ab und steht auf.
Das Boot gleitet jetzt ganz leicht stromaufwärts, und sie rudert mit kräftigen Ruderschlägen durch die stille, kalte Nacht, fort, fort von hier, heimwärts, nach Hause, wo ihre Hütte sie leer und friedlich empfangen wird. Niemand, der vor Hunger oder Durst quengelt. Nur warme, weiche Stille, in der sie versinken kann.
An diesem Abend schläft sie schnell ein und sinkt ins zähe, dunkle Wasser ihres Schlafs, schlummert ein und schlüpft unter eine Decke aus Träumen, in denen sie sie sieht.
Ihre Gesichter unter der Wasseroberfläche, ihr Haar, das ihnen in lautlosem wallendem Rhythmus um den Kopf tanzt. Sie gleiten von ihr weg. Ihre Gesichter sehen aus wie Föten, die man in formaldehydgefüllte Gläser gesteckt hat. Die im Zelt mit dem Kuriositätenkabinett aufgereiht standen, sie hat sie einmal auf dem Herbstjahrmarkt gesehen, als sie selbst noch die Hand ihrer Mutter hielt. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Lippen fest zusammengepresst.
Die Kinder schliefen, als sie sie holte und sie ins Boot trug, das am Strand wartete. Sie legte sie behutsam ins Gatt, damit sie die Ruhe bekamen, die...