Ein Damona King Roman
E-Book, Deutsch, Band 26, 64 Seiten
Reihe: Hohlbein Classics
ISBN: 978-3-7325-1439-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Medusas Bruder
Gespensterkrimi von Henry Wolf Das Pferd war an diesem Morgen seltsam unruhig. Es tänzelte nervös, versuchte immer wieder auszubrechen und tat seinen Widerwillen mit lautem Schnauben kund. Seine Flanken zitterten, und seine Nüstern waren erregt geweitet, als wittere es eine unsichtbare Gefahr. Jim Purprose ließ die Zügel etwas lockerer, tätschelte den Hals des Tieres und murmelte leise, beruhigende Worte. Er ritt diesen Weg seit fast zwanzig Jahren jeden Morgen, aber er hatte sein Tier noch nie so erregt und übernervös erlebt wie heute. Es schien fast, als spüre es eine Gefahr, irgendetwas Fremdes und Unbekanntes. Die Bemühungen seines Herrn schienen es nicht zu beruhigen, im Gegenteil. Es warf den Kopf zurück, schnaubte erregt und versuchte, stehen zu bleiben. Unter seinen unruhig stampfenden Hufen flogen kleine Steine und feuchte Grasbüschel davon. Purprose fuhr fort, seinen Hals zu tätscheln und beruhigende Worte zu murmeln. Er sah sich dabei aufmerksam um. Er wusste, dass Tiere manchmal Gefahren witterten, ehe sie sichtbar wurden. Wenn er sich auch nicht vorstellen konnte, wovor das Pferd Angst hatte. Das größte Wild, das hier in der Gegend vorkam, waren Füchse und ein paar streunende Hunde und Katzen. Und sein Tier kannte genau wie er jeden Strauch und jeden Stein im Umkreis von zwanzig Meilen. Purprose richtete sich im Sattel auf und zog die Zügel ein wenig an. Das Tier beruhigte sich etwas. Aber seine Ohren zuckten wie immer noch nervös, und seine Hinterläufe stampften unruhig auf den Boden. Purproses Blick wanderte aufmerksam über das verfilzte Buschwerk, das den schmalen Waldweg flankierte. Aber da war nichts, was nicht dorthin gehörte. Purprose runzelte ärgerlich die Stirn, schlug dem Tier leicht auf den Hals und zwang es, vorwärtszugehen. Das Pferd schnaubte protestierend, aber es gehorchte. Die Bäume des Waldes ragten rechts und links des Weges steil in die Höhe und bildeten eine Art natürlichen, finsteren Tunnel, an dessen Ende das trübe Grau der hereinbrechenden Dämmerung schimmerte. Er presste dem Tier die Schenkel in die Seite und trieb es zu einer schnelleren Gangart an. Irgendwie war er froh, als sie aus dem Wald heraus auf das freie Feld ritten, ohne dass er einen Grund für dieses Gefühl hätte angeben können. Er hatte sich niemals im Wald gefürchtet. Die Natur in jeder Erscheinungsform war sein Freund. Er verbrachte viel Zeit hier draußen, fast jede Stunde, die er erübrigen konnte. Als staatlicher Forstbeamter gehörte es zu seinen Aufgaben, den Wald und die brachliegenden Wiesen und Äcker in der. näheren Umgebung von Marnockfearn regelmäßig zu inspizieren. Er hätte diese Aufgabe wesentlich bequemer und schneller mit dem Wagen erledigen können, aber er zog es vor zu reiten, manchmal sogar zu Fuß zu gehen. Er war an diesem Morgen noch vor Einbruch der Dämmerung aufgebrochen, um den Sonnenaufgang genießen zu können. Hier oben in den schottischen Highlands bot der Sonnenaufgang an einem klaren Tag wie heute ein besonders schönes Naturschauspiel. Das Pferd scheute wieder, schnaubte, tänzelte nervös auf der Stelle und warf den Kopf hin und her. Purprose musste sich einen Moment lang voll darauf konzentrieren, das scheuende Tier wieder in die Gewalt zu bekommen. Seine Beunruhigung wuchs. Sicher – auch Pferde hatten ihre schlechten Tage, aber er spürte ganz deutlich, dass das Tier Angst hatte. Seine Augen waren angstvoll geweitet, und vor seinen Nüstern stand dünner, flockiger Schaum. Purprose kraulte ihm beruhigend den Hals und sah sich dabei aufmerksam um. Der Boden fiel vor ihm sanft ab, um in einen lang gestreckten Acker überzugehen. Die schräg einfallenden Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die geometrischen Linien der frisch gezogenen Furchen krass und überdeutlich hervortreten. Von hier oben wirkten sie wie tiefe, bodenlose Gräben, die den Talgrund von einem Ende bis zum anderen durchzogen. Auf der anderen Seite des Tales stieg der Boden genauso sanft wieder an, um in eine weite, sorgfältig gemähte Wiese überzugehen. Dahinter erhob sich der schwarze Koloss von Kings Castle. Jetzt, durch den flammend roten Ball der Sonne, der hinter ihr emporstieg, zu einer schwarzen Silhouette reduziert, wirkte die Burg fast bedrohlich. Ihr Schatten fiel fast bis auf den Talgrund hinunter, und der Anblick erinnerte Purprose unwillkürlich an eine riesige, gierig ausgestreckte Klaue. Purprose schüttelte den Kopf und lächelte nervös. Der Schatten dort unten war ein Schatten, mehr nicht. Die Nervosität seines Tieres begann sich allmählich auf ihn zu übertragen. Es hatte keinen Sinn, sich verrückt zu machen. Und doch ... Das Pferd wieherte, ging mit den Vorderläufen ein paar Zentimeter in die Luft und schüttelte ärgerlich den Kopf. Purprose zog wütend an den Zügeln. Er wusste, dass das dem Pferd Schmerzen bereitete, aber es ließ sich nicht verhindern. Er hatte genug Erfahrung im Umgang mit Tieren, um zu wissen, dass man ihnen von Zeit zu Zeit zeigen musste, wer der Herr war. Das Rezept schien auch diesmal zu funktionieren. Das Tier beruhigte sich zusehends und stand nach einer Weile vollkommen still. Nur seine Nüstern blähten sich noch erregt. Purprose ritt langsam weiter. Sein Blick wanderte immer wieder zu dem schwarzen, gezackten Schatten der Burg hinunter, und jedes Mal machte sich die gleiche, unerklärliche Beunruhigung in ihm breit, wenn er die lichtlose Fläche anstarrte. Er griff nervös in seine Satteltasche, zog Zigaretten und Streichhölzer hervor und zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise rauchte er hier draußen niemals, aber er hatte plötzlich das Bedürfnis, seine Finger mit irgendetwas zu beschäftigen. Er sog den Rauch tief in die Lungen, schloss für einen Moment die Augen und wartete darauf, dass die beruhigende Wirkung des Nikotins einsetzte. Als er die Augen wieder öffnete, sah er den Mann. Er bewegte sich mit langsamen, ungelenken Schritten den gegenüberliegenden Hügel hinunter. Die Entfernung war noch zu groß, um irgendwelche Einzelheiten erkennen zu können, aber irgendetwas an der Art, wie er sich bewegte, warnte Purprose. Er überlegte einen Moment, ehe er seinem Pferd die Absätze in die Flanken trieb und den Hang hinuntergaloppierte. Der Mann schien von seiner Annäherung nichts zu bemerken – jedenfalls zeigte er keine sichtbare Reaktion, sondern ging ruhig weiter, ohne auch nur den Kopf zu heben. Seltsamerweise bewegte er sich zielstrebig am Rande des Schattens entlang, den das Schloss warf. Es kam Purprose vor, als scheue die Gestalt davor zurück, in den hellen Sonnenschein hinauszutreten, sondern als liefe sie zielsicher durch einen Korridor der Schwärze, den der grotesk verzerrte Schatten in den erwachenden Morgen gegraben hatte. Er schnippte seine Zigarette fort, beugte sich über den Hals des Pferdes und galoppierte so schnell los, wie es der unebene Boden zuließ. Der Mann ging ruhig weiter. Er schien Purprose überhaupt nicht zu bemerken, obwohl der Hufschlag des Pferdes überlaut durch die Stille des Morgens dröhnte. Seine Bewegungen wirkten seltsam ungelenk und eckig, kaum wie die eines Menschen, sondern fast wie die Bewegungen einer Marionette, an deren Fäden ein unsichtbarer Spieler zog. Purprose schüttelte den Gedanken ärgerlich ab und zügelte sein Pferd wenige Meter vor dem Mann. Der Fremde blieb stehen. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass Purprose sein Gesicht nicht sehen konnte. Seine Haltung wirkte verkrampft. Purprose begann sich allmählich unbehaglich zu fühlen. Gleichzeitig kam er sich unbeschreiblich albern vor. Der Mann ging hier spazieren – na und? Es war nicht verboten, sich den Sonnenaufgang anzusehen. Das Gelände hier war zwar Privatbesitz, aber es gab niemanden, der es mit den diesbezüglichen Bestimmungen allzu ernst nahm. Außerdem war es gut denkbar, dass er von Kings Castle kam – Miss King hatte oft Besuch, und so genau wusste niemand in Marnockfearn, wer eigentlich alles dort oben wohnte. Er räusperte sich unbehaglich. Das Schweigen wurde allmählich peinlich. Und der Fremde schien nicht geneigt, es zu brechen. »Guten Morgen«, sagte Purprose unbehaglich. Der Fremde antwortete nicht. Seine Hände zuckten leicht, aber sein Blick blieb starr auf den Boden gerichtet. Purproses Pferd tänzelte unruhig. Er spürte, wie seine Flanken unter seinen Schenkeln zu zittern begannen. Der Schwanz peitschte nervös, und die Ohren hatten sich spitz aufgestellt. Das Tier schien am Rande der Panik zu sein. »Sie ... Sie gehen sicher spazieren«, begann Purprose lahm. »Es ist ein ...« Der Mann drehte sich langsam um und hob den Kopf. Der Blick seiner großen, dunklen Augen schien sich bis in Purproses Seele zu brennen. Purprose erstarrte. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen, als er das Gesicht des Mannes sah. Eine riesige, eisige Hand schien plötzlich nach seinem Herzen zu greifen und es erbarmungslos zusammenzupressen. Er wollte schreien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Das Pferd kreischte in irrer Panik auf. Es scheute, stieg auf die Hinterläufe und schlug in blinder Angst mit den Vorderhufen um sich. Purprose verlor das Gleichgewicht und stürzte hintenüber aus dem Sattel. Der Aufprall raubte ihm fast das Bewusstsein. Für einen Moment lag er reglos da, kämpfte gegen die aufwallende Übelkeit und die unerträglichen Schmerzen in seinem Rücken an und versuchte verzweifelt, nicht ohnmächtig zu werden. Vor seinem inneren Auge stand noch immer das Bild dieses grauenhaften, entstellten Gesichts, dieser unbeschreiblichen, bösen Karikatur...