Hoffmann Paula
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25788-7
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-25788-7
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paula muss einmal eine glückliche Frau gewesen sein, bevor ihr Bräutigam im Krieg stirbt. Eine Frau, die irgendwann aus Angst und Scham zu schweigen beginnt, die nie preisgibt, von welchem Mann das Kind stammt, das sie alleine großzieht, bis der Schutzraum des Schweigens zum Gefängnis wird, in dem Liebe und Empathie verkümmern. Ihre Tochter und ihre Enkelin werden nie erfahren, wer ihr Vater, wer ihr Großvater war. Sandra Hoffmanns Memoir "Paula" liest sich wie ein Familienroman. Mit Courage und Zärtlichkeit erzählt sie das Leben ihrer Großmutter, die ihr erdrückend nahe war und von der sie doch so wenig weiß. Der Macht des Schweigens setzt sie die Kraft der Sprache entgegen.
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Schweigen ist anders als still sein. Nirgends, auch nicht, wenn du tief in die Taschen greifst, um die Münze zu finden, die du zwischen den Fingern bewegst, oder ein Stück Papier mit den Notizen vom Einkauf, findet sich darin wirklich Halt. Du hörst von irgendwoher oder aus dir heraus die dunklen Geräusche der Stummheit, die sich gegen dich wenden, du hörst sie als Grollen, als Grummeln, als fortwährendes Gemurre, Gemurmel irgendwo weit entfernt und zugleich nah. Als suchten sich all die ungesprochenen Wörter Wege aus dem stummen Körper heraus und hinein in den Raum, hin zu dir. Sie bringen dich um die Ruhe und sie bringen dich um den Schlaf. Das Schweigen, wenn jemand nahe bei dir lebt und so schweigt, so unerbittlich jedes Wort auffrisst, dass nichts übrig bleibt für dich und für keinen. Das Schweigen am Tisch, wenn die Gabeln und Messer auf Tellern klappern, wenn jemand, nur einer, sagt, kann ich bitte das Salz haben, und jemand reicht es. Und über allem das Schweigen, das dir vorkommt, als verschlinge es dich und all deine guten Sommer und die wenigen guten Winter. So als käme die Fröhlichkeit nie mehr zurück. Und du hörst das Geräusch von Strumpfhosenbeinen unter dem Tisch und wie der Hund am Stuhlbein vorbeistreicht, ein Räuspern und das laute Schlucken beim Wassertrinken, wenn der Halsmuskel spannt. Wenn die Geräusche aus den Körpern sich im Zimmer so ausgebreitet haben, dass da nur noch Dichte ist, Verdichtung nach außen. Dieses Schweigen, das schließlich in jeder Ritze eines Hauses sitzt, das abstrahlt, ausstrahlt, das ein Haus zur Festung macht, kennt nur die Endgültigkeit als Erlösung. Du kannst bleiben und sterben oder gehen. In der Stille aber wäre auch nur ein Traktor, draußen auf der Straße, ein schönes Geräusch, wäre das eine Verheißung, jemand mäht die Wiese zum ersten Mal in diesem Jahr, es ist noch hell. Die Welt wäre wieder da. Helligkeit und Sprache. Am 10. November 1997 stirbt meine Großmutter Paula im Alter von 82 Jahren. Sie hat nicht über sich gesprochen, bis zum Schluss nicht. Sie hat ihr ganzes Leben, alle ihre Geheimnisse, aber auch alle ihre Nöte mit ins Grab genommen. Wenn ich morgens durch den Park laufe, den See umrunde und höre, wie die Schwäne und Enten schnattern, wenn ich den Mandarinenten zusehe, die wie bunte Punkte zwischen den anderen Enten leuchten, denke ich häufig an meine Großmutter, die seit achtzehn Jahren tot ist, und ich denke an meine Eltern. Ich würde ihnen gerne den Park zeigen, die Hunde, die mir regelmäßig auf meiner Laufstrecke begegnen, die schönen Stellen an den Nebenkanälen des Eisbachs, deren Oberfläche ab und zu eine Weide streift. Die Männer, die vor ihrer Personaltrainerin auf der Erde liegen und anstrengende gymnastische Übungen machen oder gegen kleine Boxsäcke schlagen, die in den Bäumen hängen, wieder und wieder und wieder, damit sie stark werden, für was auch immer. Ich würde ihnen gerne die Yogis beim Sonnengruß zeigen, die Japanerin, die merkwürdig schwingende Armbewegungen macht beim Gehen. Ich sehe die Surfer an der Eisbachwelle, und ihretwegen halte ich manchmal an. Ich schaue den fremden Menschen zu und ich bin froh, dass es sie gibt, dass ich mich zwischen ihnen hindurchbewegen darf und, ohne mit ihnen zu sprechen, weiß: Ich mag, dass sie da sind. Ich würde gerne zu meiner Familie sagen: Schaut, hier lebe ich jetzt. So ist es geworden und es ist gut. Aber meine Großmutter ist tot. Und meine Eltern haben kein großes Interesse an einem Leben, das mit ihnen nicht unmittelbar zu tun hat. Ich spreche beim Laufen mit ihnen, ich zeige ihnen in Gedanken diese Welt, und immer gerate ich darüber in eine Traurigkeit. Das Schweigen hat sich über die Generationen verschleppt. 1915 gilt im chinesischen Kalender als das Jahr des Holzhasen. Franz Josef Strauß wird geboren, Ingrid Bergman, Edith Piaf auch; Frank Sinatra, Pinochet. Der Erste Weltkrieg ist im zweiten Kriegsjahr, in Den Haag findet der erste Internationale Frauenkongress für den Frieden statt, Albert Einstein spricht öffentlich über die Relativitätstheorie, und Virginia Woolfs Romandebüt erscheint. Da wird an Allerheiligen, in einem kleinen Dorf, mitten im katholischen Oberschwaben Paula geboren. Sie ist das erste Kind der Familie. Die Verhältnisse, in die Paula hineingeboren wird, sind einfach, viel Geld hat die Familie nicht. Sie wächst mit zwei Schwestern und einem Bruder auf, der im Zweiten Weltkrieg an der Front stirbt. Von seinem Tod erzählte sie. Wieder und wieder, öfter, als ich es hören wollte. Er ist gestorben, im Krieg. Das war ihre Erzählung. Sie bestand aus fünf Wörtern. Als sie starb, endete das Leben einer Frau, von deren Geschichte ich nicht viel weiß. Sie hat einen Weltkrieg erlebt, zwei Kinder geboren. Sie hat vom deutschen Wirtschaftsboom profitiert, sie war ohne Ausbildung und deshalb Gastarbeiterin im eigenen Land. Reinemachefrau hieß der Beruf, den sie ausübte. Manchmal spüre ich ihre Stimme. Ich höre ihr zu, so wie ich ihrer Schwester Marie zugehört habe; auch sie ist bereits tot. Ich höre ihr zu, so wie ich meiner Mutter zugehört habe, die längst schon aufgehört hat über das Schweigen ihrer Mutter zu sprechen. Alle ihre Stimmen höre ich; sie bilden keine Einheit, sie kommen und gehen, sie verbergen sich gerne. Wenn ich ihnen zu nahe komme, flüchten sie; jedenfalls kommt es mir so vor. Ich denke, dass es möglich sein könnte, mit ihrer Hilfe das Leben von Paula zu erzählen. Ich will es ergründen. Sie war meine Großmutter. Ich bin eine unzuverlässige Erzählerin. Ich lag auf der analytischen Couch. Ich habe mein Leben reflektiert. Ich habe versucht, die Wege, die ich gegangen bin, nachzuvollziehen, die vergangenen Stürme in mir zu verstehen, um die kommenden besser aufhalten zu können. Ich bin gut darin geworden. Man kann sich hier auf mich verlassen. Ja. Man kann sich darauf verlassen, dass ich alles, was ich nicht mehr weiß, alles, was ich nie gewusst habe, alles, was ich unbedingt wissen will, erfinden werde. Wie anders soll es möglich sein, das zu entfalten, was ich nie wusste, neben dem, was ich noch sehr genau weiß. Wie erzählt man, was in Träumen immer wiederkehrt, Alp oder Angst oder die dunkle Ahnung einer Bedrohung, die bis in mein heutiges Leben reicht. Wie erzählt man, was am Tag als Bild heranhuscht und wieder weg? Und warum ich seit sieben Jahren nicht mehr auf dem Friedhof war – oder nur einmal, heimlich? Was ich zum Beispiel nicht erfinden muss: Wie sich die Haut meiner Großmutter im Gesicht angefühlt hat, wie ein Veilchenblütenblatt, fast durchscheinend, wie unberührt. Keine Furchen mäanderten hindurch, nur feine Linien, Spuren, Zeichen, wie Vögel sie im Schnee hinterlassen. Und ihren Geruch kenne ich noch heute. Warm und nicht sauer. Mild und nicht grob. Ihr Duft war besser, als sie selbst war. Weicher, zärtlicher. Niemals roch sie alt. Wenn ich will, spüre ich den warmen Großmutterleib und die Wand mit der Raufasertapete. Dazwischen sehe ich mich selbst liegen in den Nächten nach den Alpträumen. Zwischen Großmutters Händen bewegt sich ihr Rosenkranz und sie zündet geweihte Kerzen an. Manchmal streift mein Gesicht das ihre. Ich liebe dich und ich hasse dich, das sagen Kinder nicht in einem Satz. Kinder sagen das eine oder das andere. »Ich liebe dich« ist kein Satz aus meiner Kindheit. »Ich hasse dich« jedoch auch nicht. Nichts war eindeutig außer der Angst vor dem Sterben. Und dass ich meiner Großmutter irgendwann nicht einmal mehr die Hand geben wollte. In einer Schublade ihrer Kommode lagen unter den Gesangbüchern mit und ohne Goldschnitt und allerlei kleinen Heftchen und Heiligenbildchen eine bunte Pappschachtel aus einer Confiserie, eine stabile Strohschachtel, ein wahrscheinlich selbstgemachtes blaues Album mit rotweißen Applikationen auf der Vorderseite. Alle waren voller Fotos. Darauf Menschen verschiedenen Alters, sehr viele Männer, davon wiederum einige Soldaten. Männer auf Motorrädern, Mann vor Auto, Männer auf dem Feld, Männer vor Schiffen, vor Panzern, vor Wald und Feld, Männernamen auf Kreuzen. Männer mit Männern in schicken Autos. Seltener Männer mit Frauen im Auto. Manche der Männer tragen Arbeitsanzüge, wie ich sie aus Dokumentationen über Zwangsarbeiter kenne. Viele tragen Uniform. Es gibt Männer in eleganten Anzügen, Männer mit Krawatte, mit Fliege, Männer mit Monokeln, lässig gekleidete smarte Männer. Auch dunkelhäutige Männer in Uniform, vermutlich marokkanische Männer, recht sicher sogar. Männer mit fröhlichen Gesichtern, Priester, schwarze und weiße im Gewand. Ministranten. Mein Vater strahlend und gutaussehend bei der Hochzeit mit meiner schönen Mutter. Keine echten Familienfotos. Außer jenen von Familien, die mir vollkommen unbekannt sind. Frauen. Die Schwestern von Paula: Marie und Theresia. Die drei Schwestern mit einem Kind. Die Tochter von Theresia. Die Tochter von Theresia und meine Mutter. Meine Großmutter Paula mit einem Schwimmreif in einem kleinen See. Paula neben einem schönen Mann in der Wiese, lange weiße Handschuhe zum geblümten Kleid, Paula mit dem gleichen Mann auf einem großen Motorrad, Paula am Grab eines Mannes, der einmal ihr Bräutigam war, Paula und fünf andere Frauen an einem Küchentisch, fröhlich. Frauen in Gruppen, aufgestellt wie der Gymnastikverein. Paula mit ihrer Mutter, Paula mit einer fremden Frau und fremden Kindern. Und so weiter. Paula, wie sie bei der Hochzeit ihrer Tochter auf die märchenhaft schöne Braut schaut: düster, freudlos, am düstersten die Augen in ihrem strengen Gesicht. Paula mit Handtasche in der Blumenwiese, finsterer Blick, Margeriten in der Hand. Der graue Dutt streng geknüpft. Das eingebundene Bein unter dem Kostüm. Daneben...