E-Book, Deutsch, Band 76, 64 Seiten
Reihe: Mythor
E-Book, Deutsch, Band 76, 64 Seiten
Reihe: Mythor
ISBN: 978-3-8453-9828-0
Verlag: Perry Rhodan digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
Nur hin und wieder rissen die Wolken auf und gaben den Blick frei auf den wieder zur vollen Scheibe gewachsenen Mond. Dies war Zedras Mond – der Seelenmond. Heftige Winde peitschten das Meer und blähten die mächtigen Segel der Sturmbrecher, trieben sie weiter gen Süden, auf jene Gewässer zu, von denen selbst Hexen und Amazonen nur im Flüsterton sprachen. Doppelt mannshohe Wellen rollten gegen den Rumpf des gewaltigen Schiffes. Silbrige Gischt spritzte über die Reling und in die Gesichter der Kriegerinnen, die Winden und Wetter trotzten und Ausschau hielten nach kleinen Inseln und gefährlichen Klippen. Tertish, Gorma und Gudun standen eng beisammen neben dem Steuerruder, das von zwei Amazonen gehalten werden musste, und starrten finsteren Blickes in die sturmdurchtoste Nacht. Nicht nur Klippen und Untiefen hatten sie zu fürchten. Blitze rissen die Finsternis auf, und mit jedem Lichterspeer konnte das Grauen wiederkehren. Es lauerte in der Tiefe und in der Luft, griff blitzschnell und so ungestüm an, dass jede Gegenwehr immer um einige Herzschläge zu spät kommen musste. Tertish drehte den Kopf und blickte am Mast hinauf, an dem zwei zerfetzte Segel flatterten. Und zwei Kriegerinnen waren es auch gewesen, die der Entersegler mit in den Tod genommen hatte. Die heftig schaukelnden Öllampen warfen gespenstische Schatten über das Deck. Überall kauerten Amazonen hinter schützenden Aufbauten, die Schwertlanzen mit beiden Händen umklammert. Tertish wandte sich wieder den Gefährtinnen zu. Sie nickte grimmig. »Wenn wir Zaem und Burra zu Hilfe kommen und das Unheil bannen wollen, das sich im Nassen Grab für ganz Vanga zusammenbrauen soll«, rief sie laut, um das Tosen des Sturmes zu übertönen, »wird es Zeit, den Kurs zu ändern!« Gorma und Gudun antworteten nicht. Wie Tertish hatten sie ihre Ungeduld zu bezähmen. Tertishs Worte waren ein Vorwurf, der Sosona galt, die sie nun schon viel zu lange warten ließ. Immer noch befand sich die Hexe in ihrer Unterkunft und wartete auf eine weitere Nachricht von Zaems Kampfhexe Niez. Dabei reichte den Amazonen völlig, was Niez sie hatte wissen lassen, kurz nachdem die Lumenia mit all ihren Bewohnern und Burras Feinden gesunken war. Nur Gorma und Gudun waren von der Sturmbrecher aufgefischt worden. In Niez' Nachricht hieß es, dass Zaems Regenbogenballon Zaemora im Gebiet des Nassen Grabes von Enterseglern angegriffen und zum Absturz gebracht worden sei. Diese Botschaft kam einem Hilferuf für die Zaubermutter gleich – und einer eindringlichen Warnung vor den Gefahren, die Vanga vom Nassen Grab drohen sollten. War es für die Amazonen zunächst kaum vorstellbar gewesen, dass Zaem von Enterseglern derart bedrängt werden konnte, so mussten sie ihre Meinung rasch ändern, als sich die ersten Bestien aus den Fluten hoben und in ungezügelter Wildheit das Schiff angriffen. Sie waren kaum noch mit den Enterseglern zu vergleichen, die die Sturmbrecher schon vorher überfallen hatten. Hatten sie dort, in den Gewässern vor Gavanque, eine Größe von sechs, sieben Körperlängen gehabt, so maßen sie nun bereits fast das Dreifache. Zaem befand sich in einer unbekannten Gefahr – und mit ihr Burra, die sie auf dem Weg zum Hexenstern begleitete, wo es galt, Fronja zu töten. Die Zaubermutter selbst hilflos zu wissen, war etwas Ungeheuerliches und gab den Amazonen eine Ahnung von den Kräften, die nach ihrer Welt griffen. Betroffener aber waren sie von Burras Schicksal, denn Burra war ihre Anführerin. Seite an Seite mit ihr hatten sie zahllose Kämpfe ausgefochten und allen Gefahren zu trotzen verstanden, die diese unruhige Zeit voller böser Omen gebar. »Wie lange wollen wir noch warten?«, fragte Tertish. Bevor Gudun oder Gorma ihr antworten konnten, schälte sich eine Gestalt aus den tanzenden Schatten. In ihrem gelben Mantel war Sosona schon durch den peitschenden Regen zu erkennen, als sie noch gute zehn Schritte von den Amazonen entfernt war. Sie sah sie und kam zielstrebig auf sie zu. Ihr Gesicht verriet, dass sie nichts mehr von Niez gehört hatte. Sie nickte finster, als die Amazonen auseinanderrückten und Platz für sie in ihrem Kreis machten. »Es bleibt uns keine andere Wahl«, sagte sie, »als nun gen Westen zu segeln.« »Du scheinst nicht sehr begeistert davon zu sein!«, rief Gudun in das Rollen des Donners hinein. Sie fluchte und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Natürlich bleibt uns keine Wahl!« »Wir fürchten die Verbannten nicht!«, schrie Gorma. »Sie nicht und nicht die Entersegler!« Die Verbannten ... Nicht viel mehr war den Kriegerinnen über das unheimliche Gebiet bekannt, das vor ihnen lag, als dass dort Frevler, Abtrünnige und Verbrecher ausgesetzt worden waren, von denen man nie wieder gehört hatte. Außerdem schien es nun von Enterseglern verseucht zu sein. Aus Gründen, die sich ihrer Kenntnis entzogen, aber nur mit der ganz Vanga drohenden Gefahr zu tun haben konnten, schienen sich alle in der Schwimmenden Stadt Gondaha geschlüpften Kreaturen der Finsternis dort gesammelt zu haben. Sosona jedoch brach nun ihr Schweigen. »Schiffe und Schwimmende Städte«, sagte sie laut, »meiden dieses Gebiet seit undenklichen Zeiten. Jene, die die Verbannten zum Nassen Grab bringen, segeln kaum bis an die Inseln heran, sondern übergeben die Verdammten in kleinen Booten der See, auf dass sie so ihr Ziel erreichen. Selbst die Zaubermütter umfliegen diese Gewässer in ihren Ballons, denn sie wissen um die alten Legenden, um geheimnisvolle Mächte, die jenseits von Licht und Schatten liegen und selbst mit Magie nicht zu erfassen sind.« »Legenden?«, fragte Tertish. »Erzähle uns davon, Sosona!« Der Sturm riss der Hexe die Worte von den Lippen. Blitze teilten die Finsternis, und mächtiger Donner rollte unheilverkündend über das Meer. Sosona machte den Kriegerinnen ein Zeichen, dass sie ihr folgen sollten. Nur widerstrebend gehorchten sie. Der Bug der Sturmbrecher teilte das Wasser, und niemand vermochte zu sagen, ob nur die Winde die Wellenkämme peitschten und weiße Gischt hoch aufspritzen ließen, oder ob Schwärme von Enterseglern sich aus der Tiefe hoben. In Sosonas Unterkunft war es ruhiger. Ungeduldig, jederzeit bereit, ihren Kampfgefährtinnen auf Deck zu Hilfe zu eilen, postierten sich die drei Amazonen vor der Tür. Sosonas Gesicht wirkte entrückt, als sie zu sprechen begann. »Diese Legenden«, sagte sie gedämpft, als fürchtete sie, allein durch ihre Erwähnung schreckliche Geister heraufzubeschwören, »berichten von einem ehemals mächtigen Reich in jenem Teil der Welt, der heute das Nasse Grab genannt wird. Es war das Reich Singara, dessen Volk weite Teile der Meere beherrschte, bis es eines Tages den Zorn der Zaubermütter erregte. Dies geschah vor langer Zeit, und niemand weiß mehr zu sagen, worin der Frevel bestand. Die Zaubermütter aber taten sich zusammen und straften Singara fürchterlich. Sie ließen das gesamte Reich im Meer versinken. Seit dieser Zeit sind die ehemals prächtigen Städte von Singara in den grundlosen Tiefen verschwunden, als da waren Mnar, die Hauptstadt, Helleas, die Strahlende, und Koram-Phar, die Stadt der Gelehrten. Nur die höchsten Berge reichen noch mit ihren Gipfeln aus den Fluten, und es heißt, dass zu ihnen auch die Inseln Kuron, Almariba, Taufion, Maskin-Ebrin, Husvard und Ibrillan gehören. Auf ihnen jedoch herrscht seit Menschengedenken Ruhe, und nichts erinnert heute noch daran, dass sie einst zu Singara gehörten.« Sosona machte eine Pause und beobachtete, wie ihre Worte auf die Amazonen wirkten. Tertish und Gudun blickten sie erwartungsvoll an. Es war schwer zu erkennen, ob sie betroffen oder nur neugierig waren. Gorma hatte das Ohr an das Holz der Tür gelegt und lauschte. Sie haben keine Angst!, dachte Sosona bitter. Und sie sollten sie haben! Konnten sie an nichts anderes denken als an Burra, an Zaem und an Kampf? Hatten sie zu oft gesiegt, um noch wirkliche Furcht empfinden zu können? Sosonas Stimme wurde noch leiser, so dass sie nur mit Mühe zu verstehen war, als sie fortfuhr. Sie sprach langsamer, noch bedeutungsschwerer, und vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild des unbekannten Grauens. »Die Inseln Asingea, Nida, Mnora-Lór und Ngore aber begrenzen das wirkliche Nasse Grab, und zwischen ihnen liegt die letzte Ruinenstätte, die man bei klarem Wetter auch heute noch von den Booten der dorthin Verbannten aus sehen kann. Es ist dies die Ruinenstadt Ptaath, die einstmals auf einem Hochplateau erbaut wurde. Fünfzig, an einigen Stellen nur dreißig Schritt tief, liegt sie unter dem Meeresspiegel. Niemand außer der hier ansässig gewordenen Ausgestoßenen wagt sich in dieses tückische, an Untiefen reiche Gewässer, und selbst diese befahren nur die altüberlieferten Routen. Es geht die Kunde von unheimlichen Vorkommnissen dort über Ptaath. Fischer und Seefahrer, so heißt es, sollen von Ungeheuern in die Tiefe gerissen und nie mehr gesehen worden sein. Und dort unten, in der versunkenen Stadt, sollen noch Nachfahren des Alten Volkes von Singara leben, die den Bewohnern der Oberwelt nachstellen, um sie ihrer Göttin, der Anemona, zu opfern.« Die Stimme der Hexe war nun kaum mehr als ein Flüstern. Selbst Gorma hatte sich von der Tür entfernt und war ganz nahe an Sosona herangetreten. »Und weiter heißt es, dass die Ausgestoßenen der Inseln sich mit der Zeit immer mehr von diesem schrecklichen Leben im Meer in den Bann schlagen ließen und dem Göttinnenkult frönen.« Sosona blickte die Kriegerinnen der Reihe nach an. »Es heißt«, schloss sie mit bebender Stimme, »dass die...