Hoffmann | Jetzt bist du da | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Hoffmann Jetzt bist du da

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8270-8074-5
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8270-8074-5
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Claire liebt ihr einsames Leben im Wald. Als Pädagogin lehrt sie Schulklassen in einem Wildniscamp, wie aufmerksame Wahrnehmung das Verhältnis zur Natur verändern kann. Einige Kilometer von ihrer Arbeit entfernt, bewohnt die 42-jährige Frau zusammen mit der Hündin Nora ein Haus auf einer Waldlichtung. Hier ist ihr Körpergefühl das Barometer für ihr Wohlbefinden. Als jedoch nach einer Campwoche der 16-jährige Janis auf ihrem Grundstück auftaucht, verbirgt sie sich zuerst vor ihm. Erinnerungen an Momente sexuellen Verlangens werden in ihr wach. Bilder, die sie scheut. Sie spürt eine Angst, die sie erst, als der Junge da ist, wirklich verstehen kann. Literarisch brillant erzählt »Jetzt bist du da« von einem Tag und einer Nacht der Umkreisung und der Wucht menschlicher Sehnsüchte. »Sandra Hoffmann schafft es auf wundersame Weise, das reiche und geheimnisvolle Leben im Wald zu verbinden mit der Sehnsucht nach einem anderen Menschen, seinem Körper, seinem Geist, und danach, Teil eines größeren Ganzen zu sein.« Zora del Buono »Eine Expedition in die Wildheit unseres Menschseins, wo Alter und Geschlecht verwischen und nur eine Frage bleibt: Welche Verantwortung tragen wir für unser Verlangen?« Katharina Adler

Sandra Hoffmann, 1967 geboren, lebt als freie Schriftstellerin in München und in Niederbayern. Sie unterrichtet literarisches Schreiben unter anderem in Seminaren für das Literaturhaus München und an Universitäten. Sie schreibt für das Radio und Die Zeit. Für ihren Roman »Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist« (2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis und für ihren Roman »Paula« (2017) den Hans-Fallada-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman »Das Leben spielt hier«.

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Autoren/Hrsg.


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1
Drüben auf dem Weg geht jemand. Mein Blick sucht nach einer Schneise im Dickicht der Haselbüsche, der jungen Erlen und Buchen, bis ich nach ein paar Atemzügen die Bewegungen einer schmalen Gestalt auf dem Waldweg ausmachen kann. Es ist nicht der Jäger, auch nicht der Förster und Achim erst recht nicht. Warum meine ich die Person zu kennen, die da geht? Nora schaut seit Minuten konzentriert in den Wald hinein, aber sie bellt nicht, was mich wundert. Ich kneife die Augen zusammen. Ein Mädchen, denke ich zuerst, und als ich das denke, glaube ich zu wissen, wer es ist. Ich springe auf. Nora erschrickt. Komm, sage ich, ohne mich zu ihr umzudrehen. Im selben Augenblick wird mir klar, dass es vollkommen sinnlos wäre, mich im Haus zu verstecken. Du hast mich gefunden. Jetzt bist du da. Ich schließe die Balkontür. Ich drehe mich um und betrachte den Raum, als wäre er plötzlich ein anderer geworden: Ofen, Tisch, die Stühle drum herum, alles ist mit irgendetwas belegt. Die Blumen welken. Ich verstehe das nicht. Wo kommst du jetzt her? Wie konntest du mich finden? Nora geht unruhig zwischen der Tür und mir hin und her, sie spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich gehe neben ihr in die Hocke. Was machen wir jetzt, frage ich, während meine Hand über ihr glattes schwarzes Fell streicht. Die Hündin leckt mir die Finger. Schon gut, sage ich und setze mich zu ihr auf die Dielen. Mein Puls ist hoch, als hätte ich eine volle Schubkarre das Grundstück hinaufgeschoben. Ich spüre die Herzschläge im Hals. Hast du uns schon entdeckt? Was für eine Frage, wir sind ja nicht zu übersehen vom Wald aus. Jeder sieht uns, bevor wir ihn sehen. Nora bellt nicht, wenn sie jemanden kennt. Sie hat den Kopf auf mein Schienbein gelegt, die Augen aber nicht geschlossen. Was machen wir jetzt, frage ich noch einmal. Sie schaut mich weiter aufmerksam an. Du musst uns gesehen haben, und dass das Auto da ist, hast du sicher längst bemerkt. Du wirst warten, vielleicht den Tisch betrachten. Die kleine Motorsäge. Daneben das Wasser im Bierkrug, halb ausgetrunken. Meine Arbeitshandschuhe. Alles sieht aus, als ob ich gleich zurückkomme. Für gewöhnlich steht der Wald da wie ein weiter, ruhiger See. Ich schaue in seine Tiefe hinein, bis mein Blick in der Verdichtung der Stämme oben an der Halde hängen bleibt. Dort, wo ich die Bäume nicht mehr unterscheiden kann, wo ich aufhöre zu sagen: Das ist die Rinde einer Eiche, das sind die Blätter einer Buche und das die Früchte einer Erle. Oder irgend so etwas. Mein Blick verweilt auf den Stämmen, an klaren Tagen im durch die Kronen schimmernden Licht der Sonne, in klaren Nächten im Mondlicht, das den Wald in hell und dunkel teilt. Ich kann mich darin verlieren, meinen Gedanken folgen oder sie freilassen. Im Wald spiegle ich mich. Im Laub höre ich mich ums Haus gehen, ich bin es, die alle Schritte macht, ich bin es, die hustet, sich schnäuzt; und wenn ich mit mir selbst rede, bin ich das auch. Ich bin der Klang der Axt, der Ton des Spatens in der Erde, am lautesten bin ich im Brüllen der Motorsäge, ich bin der Atem auf den Bohlen der Terrasse, bin die, vor der die Eidechsen sich nicht mehr fürchten, die barfuß ums Haus geht und in Gummistiefeln in den Garten. Und die, die manchmal vergisst, dass sie ein Geräusch ist. Nora folgt mir, aber sie ist leise, manchmal höre ich ihre Krallen auf den Holzdielen, sehr selten bellt sie oder gähnt betont. Manchmal sitzt der rote Kater auf dem Dach des Schuppens. Er lässt sich nicht stören. Der Wald hat seinen Rhythmus und jedes Geräusch seine Zeit. Das Rufen der Käuze, das Bellen der Rehe, das schnelle Schlagen der Wildschweinhufe, wenn die Rotte, vom Berg herabkommend, über den Forstweg zieht, hinunter zum Rand der Lichtung, wo die große Eiche steht. Der frühe Klang der Singdrossel, das Einstimmen der Amseln, der Meisen, des Zilpzalps, der Finken und schließlich aller anderen. Der Wald, wenn er das Erwachen feiert, bis es Tag ist. Als ich hier hinzog, in diesen Wald, hatte ich Angst. Nicht vor den Tieren. Und auch nicht vor dem Alleinsein, sondern davor, gesehen und gehört zu werden. Ich fühlte mich schwächer, angreifbar. Ich hatte Angst vor meinem Licht in der Dunkelheit, weil man es weithin sehen konnte. Ich hatte Angst vor meiner Gestalt auf dem Grundstück, die mir wie eine Einladung erschien an jede imaginierte Männerfigur hinter jedem möglichen Baum. Ich wäre am liebsten unsichtbar gewesen, gar nicht da als Mensch mit einem Körper. Wenn ich menstruierte, glaubte ich, man könne mich riechen. Förster, Jäger, Holzarbeiter. Schon meine Großmutter hatte Angst vor dem Wald, meine Mutter hatte Angst vor dem Wald, und schließlich hatte auch ich sie. Weil Angst sich vererbt. Als ob der Wald einem Böses wollte, als ob die Gefahr hier größer wäre als in der Stadt. Für eine Frau. Als ob im Wald hinter jedem Busch einer lauert, als ob der Mann ein Wolf ist und die Frau ein Reh. Es ist möglich, sich diese Angst abzutrainieren, ich führe den Beweis selbst. Das sage ich den Mädchen, die das Camp besuchen, und ich sage es auch den Jungen: Dieses Camp ist ein Ort, an dem ihr Dinge üben könnt, von denen ihr vielleicht vorher gar nicht wusstet, dass es euch hilft, sie zu können. Sie machen euch nicht zu besseren Menschen, aber zu bewussteren. Ihr nehmt euch mehr wahr, und ihr nehmt die Natur mehr wahr. Damit seid ihr auf der besseren Seite. Ich sage nicht: Inzwischen lebe ich sogar allein im Wald, und dort ist es mindestens so einsam wie hier im Camp. Ich sage nur: Ihr müsst vor dem Wald weniger Angst haben als vor eurer Fantasie, sie ist mächtiger, als ihr glaubt. Die meisten Jungs lachen, wenn sie das hören, bis heute wird ihnen schon im Kindergarten erzählt, dass sie stark zu sein haben. So sind anscheinend auch ihre Fantasien.   Jede Bewegung fühlt sich unsicher an. Ich sitze noch immer auf dem Boden, Nora atmet ruhig gegen meinen Schenkel. Wenn du auf die Terrasse kommst, wenn du zum Fenster hereinschaust, wenn du vor der Terrassentür stehst, wirst du mich sehen. Ich spüre, wie meine Finger sich einkrümmen wollen, aber so leicht geht das nicht, ich stütze mich mit den Händen auf den Dielen ab. Unter der Treppe hat sich eine Spinne eingenistet, sie bewegt sich schnell, arbeitet an einem langen Faden zwischen den Stufen. Ich könnte sie stören, aber ich lasse es; irgendwann wird sie das Netz von selbst aufgeben, dann kann ich es entfernen. Ich mische mich nur ungern in die Angelegenheiten der Tiere. Wir könnten nach oben gehen, sage ich zu Nora. Und dann denke ich: Unsinn. Das ist mein Grundstück, mein Gelände, das ist mein Haus, mein Zuhause, ich bin hier, und ich entscheide, wer hier sein darf und wer nicht. Und dann: Bin ich verrückt, warum fürchte ich mich vor dir? Eigentlich weiß ich es. Aber das macht es nicht besser, das macht es nicht leichter. Mein Körper verharrt, will sich nicht rühren, ich sitze fest. Ich kann doch nicht, sage ich zu Nora, und ich weiß nicht, wie der Satz zu Ende geht. Und ich weiß es doch. Aber ich kann es nicht sagen. Nora rührt sich nicht. Ich lausche nach draußen, nichts ist zu hören, nicht einmal ein Vogel. Doch, ich höre die Rabenkolonie oben am Kamm. Sind nicht alle Fenster zu, alle Türen? Ich erschrecke, die Tür oben zum kleinen Balkon hin ist geöffnet. Wie einen Einbrecher sehe ich dich über den Brennholzstapel hinaufklettern, fast nicht möglich, das schafft nur eine Katze. Aber du bist ein guter Kletterer, das hat sich schnell herausgestellt im Camp. Es muss nicht immer so sein, nur weil jemand leicht und feingliedrig ist, ist er noch lange nicht so beweglich wie du. Nein, du wirst nicht ins Haus eindringen, dazu bist du viel zu gut erzogen. Nora hebt den Kopf, und wie sie zu lauschen beginnt, schwillt auch mein Puls wieder an, ich spüre ihn links am Hals, ein Klopfen fast bis zum Ohr. Ist er da, frage ich sie, ich flüstere, spüre meinen harten Nacken, ich sitze vollkommen eingesunken da, das merke ich jetzt. Und nichts will sich aufrichten in mir.   Bilder. Ich selbst als Fünfzehnjährige auf der Sommerfreizeit der Pfadfinder im Zimmer des melancholischen Betreuers. Freiwillig. Ich weiß nicht, was ich da suchte, ich mochte ihn, er unterhielt sich anscheinend gern mit mir, er meinte nur mich, wenn ich da war. Er sah mich. Jedenfalls dachte ich das. Nichts passierte, außer dass ich am falschen Ort war, vor falschen Augen, mit falschen Gesten. Einmal, es war Fasching, wie ich nach dem letzten Saisonspiel meines Sportteams eine Piratin war. Wie ich im Gasthaus die Laternenmaßkrüge nicht an...



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