E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7296-2028-5
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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2.4¦Ein schizophrener Lebenskünstler? Die Geschichte des Ansgar B.
Dinge werden komplizierter, je genauer man sie anschaut. Das ist auch in der Psychiatrie nicht anders, wobei es hier nicht um Dinge, sondern um psychisch kranke Menschen geht. Eben das sollen die fünf Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, illustrieren. Die erste handelt von Ansgar B. Er ist 58-jährig und leidet seit Jahrzehnten, genauer gesagt: seit seinem 19. Lebensjahr, an einer schizophrenen Erkrankung. Mit Blick auf die Fakten ist seine Lebensgeschichte, die zu einem beträchtlichen Teil eine Krankengeschichte ist, rasch erzählt. Sie klingt fast lehrbuchmässig und scheint keine besonderen Fragen aufzuwerfen – aber eben nur auf den ersten, oberflächlichen Blick. Ansgar B. wächst als zweites Kind in stabilen und finanziell gesicherten Verhältnissen in einer Grossstadt auf. Über Probleme in der Entwicklung, die über das Mass hinausgingen, das jeder Mensch in der Kindheit und Jugendzeit erlebt, wissen weder der Patient noch sein älterer Bruder etwas zu berichten. Gleiches gilt für die Eltern, die aber beide vor einigen Jahren verstorben sind. Kurz nach der Matura erkrankt Ansgar B. erstmalig an einer heftigen psychotischen Episode. Er wähnt den Weltuntergang nahe, sieht sich im Mittelpunkt einer Verschwörung, ist hin- und hergerissen zwischen Angst und Grössenideen, redet wirr und gerät schliesslich in einen derart angespannten und verbal aggressiven Zustand, dass der Notarzt ihn gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik einweist. Der Verlauf seiner Erkrankung, die bald als schizophrene Psychose diagnostiziert wird, ist sehr wechselhaft. Sie kommt und geht, wie es die Lehrbücher meist nennen, in Schüben: Seit seinem 19. Lebensjahr hat Ansgar B. mehr als 30 psychotische Schübe durchgemacht. Die meisten davon führen zu einer Krankenhauseinweisung, einige Male auf unfreiwilliger Basis. Der Patient wird später berichten, er habe schon früh irgendwie gespürt, dass die Psychose sein Leben massgeblich prägen werde. Und so kommt es auch: Er spricht zwar auf die jeweiligen Behandlungen recht gut an, so dass die akuten Episoden meist innerhalb weniger Wochen abgefangen werden können. Doch erreicht er, wie er selbst rückschauend feststellt, schon nach der ersten Episode, mit 19 Jahren, nicht mehr das Niveau von Lebhaftigkeit, Kontaktfreude und Spontaneität, wie es sein Umfeld zuvor von ihm gekannt hat. Vielmehr zieht er sich mehr und mehr zurück, wird einzelgängerisch und zeitweise missmutig. Die wenigen Freunde, die er noch hat, beginnen, ihn einen Misanthropen zu nennen. Sie tun dies zunächst spöttelnd, um ihn zu provozieren, bald aber wird ihre Irritiertheit zu Verärgerung und Ablehnung. Ein Germanistikstudium, das ihm in den ersten Semestern trotz der Unterbrechung durch mehrere Krankheitsschübe Spass macht, wohl auch, weil es ihm ein wenig Selbstbewusstsein gibt, bricht er auf halber Strecke ab. Seither, also in den letzten 30 Jahren, sucht und findet er nur noch kurze Gelegenheitsjobs. Vor zwei Jahrzehnten erhält er eine Invalidenrente zugesprochen und bezieht eine winzige 1,5-Zimmer-Wohnung am Rande der Stadt. Ansgar B. kenne ich seit über zehn Jahren. Er kommt selten, alle 6 bis 8 Wochen, aber regelmässig in meine Sprechstunde. Nur ein einziges Mal – ich werde darauf zurückkommen – muss er in diesem Zeitraum nochmals stationär behandelt werden. Bei einem unserer ersten Gespräche übergibt er mir mit der Bemerkung, er sei selbst für psychiatrische Verhältnisse ein «harter Knochen», mehrere zerknitterte Arztbriefe. Der älteste berichtet über die initiale Behandlung mit 19 Jahren. Nicht nur vom Aussehen, auch von der Diktion her hat er schon fast psychiatriehistorische Qualitäten. Die Diagnose stimmt immer überein: paranoid-halluzinatorische Schizophrenie mit schubweisem Verlauf. Nach einigen Jahren findet sich wiederholt der Hinweis auf eine zwischenzeitlich eingetretene Veränderung in der Persönlichkeit des Patienten, die der behandelnde Arzt als schizophrenen Residualzustand mit ausgeprägtem sozialem Rückzug und allerlei Bizarrerien im Verhalten bezeichnet. Eine konsequente medikamentöse und sozialpsychiatrische Weiterbehandlung wird dringend empfohlen. So weit, so gut – und so lehrbuchhaft. Doch wie gestaltet sich, jenseits der Lehrbuchtexte, die konkrete therapeutische Beziehung zu diesem Menschen, der einige Jahre länger mit dem Fach Psychiatrie in Kontakt ist als ich? Sie gestaltet sich spannend und spannungsreich: Ansgar B. ist zuverlässig. Pünktlich, ja überpünktlich erscheint er alle paar Wochen zum Termin. Kann er einmal nicht kommen, weil er Grippe hat oder ihm das Winterwetter zu ungemütlich ist, so meldet er sich telefonisch ab. Es sei ihm wichtig, so sagt er, die Termine wahrzunehmen. Die Gespräche verlaufen meist in freundlicher Atmosphäre, wobei der Patient streckenweise recht distanziert wirkt, selten auch einmal misstrauisch. Ohne erkennbaren Anlass, mindestens aus meiner Sicht, kann es zu schroffen, ja rechtwinkligen Kurskorrekturen seitens des Patienten kommen: So richtet er eines Tages nach einer halbstündigen ruhigen Unterhaltung, die sich um seine aktuelle Wohnsituation und einen Konflikt mit dem Vermieter dreht, ganz unvermittelt den Blick fest auf mich, seinen langjährigen Therapeuten, und stellt kategorisch fest: «Auch Sie sind Teil dieses verbrecherischen Systems, das mich verfolgt, bedroht und ausgrenzt, auch wenn Sie es selbst nicht immer merken. Vergessen Sie das nicht!» Mich irritiert das. Zwar weiss ich, dass Ansgar B. seit vielen Jahren einen systematisierten Wahn hat, über den er allerdings – klugerweise vielleicht – mit fast niemandem spricht. Doch ist das fachkundige Wissen um den paranoiden Zustand des Gesprächspartners nun einmal nicht dasselbe wie das konkrete Erleben einer solchen Wahnwelt in der therapeutischen Situation. In der geschilderten Passage unseres Gespräches wird fast schon körperlich spürbar, dass mein Patient nicht nur einen Wahn «hat» (so, wie man Schnupfen «hat»), sondern, gerade umgekehrt, die enorme emotionale Dynamik des Wahnes ihn, den Patienten, «hat». Zumindest streckenweise dominiert sie nämlich sein Erleben und Verhalten fast vollständig. Angst kommt bei diesen abrupten und emotional meist negativ getönten Wendungen im Gespräch bei mir, der ich Ansgar B. lange kenne, nicht auf. Sein Verhalten erscheint befremdlich, es verblüfft und mag verunsichern; bedrohlich wirkt es auf mich nicht. Im Grunde sagt der Patient ja nur, was für ihn real und wichtig ist. Er betont, selten zwar, dann aber klar, seine spezielle Sicht der Dinge. Ist das nicht, kann man einwenden, das Normalste von der Welt? Tun das nicht alle Menschen gelegentlich? Durchaus. Aber ist es auch dann noch etwas Normales, ja Gesundes, wenn die betreffende Person schizophren ist? Die psychopathologische Symptomatik des Patienten verändert sich über die Jahre, die ich ihn kenne, vergleichsweise wenig. Ausserdem spricht er darüber nicht gerne. Meist drehen sich die Gespräche um die konkrete Lebenssituation. Und hier findet sich manches, das man pathologisch nennen kann: Ansgar B. lebt seit vielen Jahren sehr zurückgezogen, er gilt in seinem Quartier als verschrobener Sonderling, die Kinder verspotten ihn auf der Strasse oder haben Angst vor ihm. Seinen kleinen Haushalt versorgt er weitgehend selbst. Wenige Male im Jahr schaut sein Bruder nach ihm, bringt ihm Dinge, die er dringend braucht, und räumt zusammen mit ihm die Wohnung auf. Auf der Strasse wird er hin und wieder von Bekannten angesprochen, die ihn lange kennen und von denen manche ähnlich leben wie er selbst. Mit ihnen trinkt er auch einmal ein Bier. Diese Kontakte bleiben aber, wie er regelmässig betont, «bewusst oberflächlich». Er wolle die Menschen nicht nahe an sich heranlassen. Im Grunde möge er Menschen nicht, er habe Angst vor ihnen. Ob er denn unter dieser Art von Einsamkeit nicht leide, will ich eines Tages wissen. Ansgar B. scheint die Frage als kitschig zu erleben, jedenfalls antwortet er, schlagfertig, wie er in seinen guten Zeiten häufig ist, eine Spur indigniert und mit sanftem Spott: «Ihre Definition von Einsamkeit ist nicht meine.» Gut, fährt er fort, es sei schon so, dass er wenige Kontakte habe. Er sei eben ein Eremit, die anderen gingen ihm gewaltig auf die Nerven. Wenn er wolle, könne er wohl kommunizieren, tue das aber indirekt. Was er damit meine? Er schreibe – und dies war mir nun wirklich neu – regelmässig Leserbriefe an Tageszeitungen, in denen er sich dezidiert über politische Themen äussere. Zweimal, sagt er nicht ohne Stolz, seien sie sogar abgedruckt worden, wenn auch deutlich verkürzt und, wie es Ansgar B. nennt, «entgiftet». Eines Tages, als er in aufgeräumter Stimmung in die Sprechstunde kommt, jovial geradezu, erwähnt Ansgar B. beiläufig, dass er es im Grunde gar nicht schlecht habe. Seine Lebensqualität sei nicht herausragend, aber für ihn stimme es irgendwie. Natürlich wisse er, dass viele ihn für verrückt hielten, und vielleicht sei er das ja auch. Er habe es sich aber trotzdem einigermassen eingerichtet im Leben. Was er einzig gar nicht vertrage, seien unerwünschte und vor allem penetrante Störungen. Genau eine solche tritt leider wenige Wochen später ein. Der Hausarzt des Patienten, der seit Jahren einen labilen Bluthochdruck hat, überweist ihn wegen Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen in eine internistische Klinik. Dort gelingt es rasch, den tatsächlich massiv erhöhten Blutdruck zu senken, doch geht es dem Patienten psychisch immer schlechter. Der unerwartete Ortswechsel, die vielen unbekannten Menschen, die sich, wie...