Eine Familie zwischen Magersucht und Autismus
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-7460-0277-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ursula Hofer ist eine 58jährige Frau, verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Nach Stationen in Südtirol und im Zürcher Weinland lebt sie nun seit vier Jahren mit ihrem Mann in Bern. Im ersten Buch "Täghüfeli und Madäneli" verarbeitete sie die Lebensgeschichte ihrer Mutter.
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Das zweite Mal
DONNERSTAG, DEN 28. APRIL 05 Es ist Abend. Marco und Andrina sind in ihrem Zimmer. David ist unterwegs. Ich freue mich auf eine gemütliche Zeit mit dem neuen Krimi von Donna Leon. Kaum habe ich mich hingesetzt, ertönt Andrinas Stimme. „Mami, kommst du bitte rasch zu mir?“ Widerwillig lege ich das Buch zur Seite und steige die Treppe hoch. Was will sie wohl? Ich betrete ihr Zimmer. Andrina sitzt im Bett mit einem vor Angst verzerrten Gesicht. Sie schluchzt: „Mami, in mir ist eine Stimme, die sagt mir, dass ich heute viel zu viel gegessen habe und dass ich zu dick bin. Jetzt habe ich so ein schlechtes Gewissen.“ Mein Herz krampft sich zusammen. In mir schreit es: „Nein, nein, nein!“ Ich weiss doch aus Erfahrung, dass jemand schon mitten in einer Magersucht steckt, wenn er diese Gedanken äussert. So erlebten wir es auch bei Martina. Zu Andrina sage ich nur: „Nein, du hast nicht zu viel gegessen, diese Stimme lügt und dick bist du sowieso nicht.“ Zweifelnd schaut sie mich an. Erst nach längerem Gespräch beruhigt sie sich. Nachdem wir zusammen gebetet haben, schläft sie endlich ein. Ich schleppe mich die Treppe hoch in unser Schlafzimmer, falle aufs Bett und die Tränen laufen über mein Gesicht. „Nein, Gott, nicht diese Krankheit! Ich will nicht noch einmal solch eine Zeit erleben. Warum ist auch Andrina magersüchtig geworden? Sie ist doch erst elf Jahre alt! Warum lässt du das zu?“, klage ich ihn an. Diese Nacht schlafe ich unruhig. Meine Gedanken drehen und drehen. Wird Andrina so krank werden wie Martina? Haben wir Anzeichen der Magersucht übersehen? Oder haben wir sie nicht wahrgenommen, aus Angst, nochmals solch eine schwierige Zeit wie mit Martina zu erleben? FREITAG, DEN 29. APRIL 05 Ich erzähle David beim Frühstück vom nächtlichen Gespräch mit Andrina. Er ist genauso geschockt und will es fast nicht glauben. Aber auch ihm ist klar, dass wir sofort Hilfe organisieren müssen. Wir hoffen, dass wir mit schnellem Eingreifen die Katastrophe verhindern können. Ich rufe die Psychologin an, die uns auch während Martinas Magersucht begleitet hat. Wie bin ich erleichtert, dass wir schon nächste Woche zu einem Gespräch gehen können. FREITAG, DEN 6. MAI 05 Seit dem nächtlichen Gespräch habe ich Andrina beobachtet und musste tatsächlich feststellen, dass sie schon noch isst, aber konsequent zu wenig. Vieles lässt sie weg. Vor allem fettige Sachen, wie Wurst oder Saucen. Mein Herz wurde von Tag zu Tag schwerer. Heute können wir endlich zur Psychologin gehen. Die erste Viertelstunde bin ich auch dabei, um aus meiner Sicht zu erzählen, weshalb wir Hilfe brauchen. Doch dann werde ich ins Wartezimmer verbannt. Wie ich mich nach Lektüre umschaue, fällt mein Blick auf einen Spruch an der Wand. „Es isch, wies isch!“ Ja, das ist einfach gesagt. Eine tolle Wahrheit. In mir sträubt sich alles dagegen, die Situation so anzunehmen, wie sie ist. Vorsichtshalber schreibe ich mir den Spruch aber trotzdem ab. Kann ja nicht schaden! Zum Abschluss werde ich noch einmal ins Besprechungszimmer gebeten. Die Psychologin erzählt, wie sie sich unsere Zusammenarbeit vorstellt: „Andrina ist einverstanden damit, dass sie regelmässig zu mir kommen wird. Aber ich werde auch mit eurem Hausarzt Kontakt aufnehmen, damit er Andrinas Gewicht und ihren Gesundheitszustand regelmässig kontrolliert. So können wir vielleicht das Allerschlimmste – einen körperlichen Zusammenbruch oder einen Spitalaufenthalt – vermeiden!“ Das beruhigt mich einigermassen. MONTAG, DEN 16. MAI 05 Zehn Tage sind seit dem Gespräch bei der Psychologin vergangen. Andrinas Essverhalten hat sich verschlechtert. Zum Frühstück Konfitürenbrötchen, zum Nachtessen Konfitürenbrötchen. Natürlich ohne Butter und die Konfitüre muss man mit der Lupe suchen. Auch beim Mittagessen werden die Portionen kleiner. Ich schaffe es nicht, mit Andrina zu streiten, um keinen Bissen mag ich kämpfen. Das habe ich zur Genüge bei Martina gemacht, und was hat es gebracht? Nichts! Andrinas regelmässige Kontrollen beim Arzt zeigen einen alarmierenden Gewichtsverlust. David und ich haben zusammen mit der Psychologin, dem Arzt und Andrina ein Gewicht von 36 Kilogramm festgesetzt. Wenn sie diese Grenze unterschreitet, muss Andrina ins Spital, da es lebensgefährlich werden kann. Dieser Punkt kommt näher und näher. Das Thema Magersucht nimmt mich erneut gefangen und beherrscht meine Gedanken. Von den anderen Kindern ist nur Marco zu Hause. Der muss jetzt einfach funktionieren. Er bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor und ist am Abend häufig mit seinen Kollegen unterwegs. Naemi ist immer noch in Amerika und mit dem Abschluss ihres Aufenthaltes beschäftigt. Sie hat uns von der Maturfeier ein Foto geschickt. Alle Frauen tragen Ballkleider. Diese elegante junge Frau soll unser Mädchen sein? Martina ist ausgezogen und wohnt seit einem Monat bei einer Freundin. Zu Andrinas Gewichtsverlust kommt eine immer grösser werdende Erschöpfung. Am Morgen steht sie wohl auf, frühstückt, aber wenn es ums Losmarschieren geht, brechen die Dämme. „Mami, ich will nicht in die Schule gehen, ich schaffe es nicht. Ich bin so müde!“, jammert sie. Manchmal bringe ich sie mit Zureden dazu, die Schuhe anzuziehen und zu gehen. Manchmal hilft alles nichts und sie bleibt zu Hause. Heute hat sie es geschafft, aber gegen zehn Uhr – ich bin gerade beim Staubsaugen – schlägt die Türe auf und eine tränenüberströmte Andrina stürmt herein. „Mami, ich werde von den Buben geplagt. Vor allem einer will immer mit mir kämpfen. Das halte ich nicht mehr aus!“ „Ja, bist du einfach weggerannt?“, frage ich sie. „Ja, s hät mi verchlöpft.“ Ich rufe die Lehrerin an, damit sie weiss, wo Andrina ist. Am Nachmittag begleite ich unsere Tochter in die Schule, damit wir mit der Lehrerin über das Vorgefallene reden können. Sie begrüsst uns knapp, schickt Andrina ins Schulzimmer und meint: „Am besten beachten wir das Geschehene gar nicht. Sonst bauschen wir es nur unnötig auf.“ Diese Worte erschlagen mich buchstäblich. Ich bin unfähig, darauf zu reagieren. Auf dem Heimweg dreht vor allem ein Gedanke in meinem Kopf: Warum habe ich nicht auf einem Gespräch beharrt? Das wäre doch so wichtig gewesen, um zusammen herauszufinden, was genau abgelaufen ist und warum unsere Tochter so reagiert hat. Da kommt mir wieder einmal meine Doppelrolle als Mutter und Schulpflegerin im Schulhaus in den Weg. Schon einmal habe ich den Vorwurf kassiert, ich würde meine Stellung zu Gunsten unserer Kinder missbrauchen. Gebranntes Kind scheut das Feuer. MITTWOCH, DEN 18. MAI 05 Heute kann Andrina an einem Fussballturnier teilnehmen. Eigentlich macht sie das sehr gern. Aber irgendetwas mit den Schuhen stimmt nicht und die Turnhose – die einzige, die sie noch anziehen will – ist nass. Als ihre Freundinnen sie abholen wollen, müssen sie unverrichteter Dinge weiterziehen. „Mach dich jetzt bereit! Sie brauchen dich in der Mannschaft!“, sporne ich Andrina an. Ich versuche es mit Strenge, mit Zureden, mit Güte, mit Toben; aber die Schuhe passen immer noch nicht. Andrina liegt auf dem Boden und heult nur noch. Erst Martina, die zu Besuch kommt, bringt es fertig, dass sie sich anzieht. Zu zweit gehen sie endlich los. Eine bis aufs Mark erschöpfte Mutter lassen sie zurück. Ich hole mir Rat bei der Psychologin von Andrina. Nachdem ich ihr die Situation geschildert habe, sagt sie: „Ursula, du musst streng sein mit Andrina und dich durchsetzen. Sie braucht das. Das gibt ihr Halt!“ Ich könnte sie umbringen, diese gescheite Frau. Das lässt sich am Telefon so einfach sagen. In mir tönt es: „Du genügst nicht, Ursula, du bist eine Versagerin. Mit einer strengeren Mutter wären Martina und Andrina nicht erkrankt!“ Schuldgefühle übermannen mich und erdrücken mich fast. Es ist zum Verzweifeln! Trotz allem gibt es noch einen Aufsteller: Andrina schiesst das entscheidende Tor, das ihrer Mannschaft zum Sieg verhilft! DONNERSTAG, DEN 19. MAI 05 Marco hat vor einer Woche die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gemacht. Ob er wohl heute das Ergebnis bekommt? Um zwölf Uhr wirft der Pöstler meistens die Post ein. Also, Mutter, du musst dich noch gedulden! Endlich! Ich renne hinaus und reisse dem Pöstler alles aus der Hand. Ja, es ist ein Brief für Marco dabei. Soll ich wirklich warten, bis er von der Schule nach Hause kommt? Die Versuchung ist gross … Zehn nach zwölf Uhr trudelt er ein. Gemütlich öffnet er den Brief und beginnt zu strahlen! Geschafft! Knapp, aber geschafft! Das werden wir heute Abend feiern! Am Nachmittag fahren Andrina und ich zu einem Gespräch mit der Psychologin. Ich geniesse die Zeit im Wartezimmer mit einem Buch in der Hand. Nach dem Gespräch darf ich Andrinas Sandkastenbild bewundern. Spannend, wie sie unsere Familie mit verschiedenen Tieren dargestellt hat. Ich bin eine...