Hirn | Der überschätzte Mensch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Hirn Der überschätzte Mensch

Anthropologie der Verletzlichkeit

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-552-07373-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was machen KI, Smartphone und ChatGPT mit uns als Mensch? Eine Neubewertung des Menschseins von der Philosophin Lisz Hirn

Was ist der Mensch? Lisz Hirn widmet sich in ihrem klugen Essay keiner geringeren als dieser Urfrage der Philosophie. Die Frage, was den Menschen vom Tier unterscheidet, hat von Platon bis Nietzsche oder Foucault die Denker beschäftigt. Wenn wir Tiere nun nicht mehr essen wollen, nicht mehr essen sollen, was bedeutet das für das menschliche Selbstverständnis? Nicht zuletzt Klimakrise und Pandemie haben das Konzept vom Übermenschen ins Wanken gebracht. Stiehlt ihm künstliche Intelligenz nun endgültig die Show? Lisz Hirn entwirft einen neuen Ansatz: eine Anthropologie der Verletzlichkeit - für den Metamenschen zwischen Smartphone und ChatGPT.
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Kapitel 2 STERBEN
In diesem Stück wenigstens wird kein Unterschied sein zwischen einer Fledermaus, einer Made und dem Leib des Menschen. Denn es ist dieselbe Materie und gleichermaßen vergänglich. (…) Die längst Gestorbenen sollen mit ihrem leibhaftigen Fleisch von der Erde wiederauftauchen: Das ist durchaus die Hoffnung von Würmern. Denn welche Menschenseele möchte noch nach einem verfaulten Leib sich sehnen? Kelsos im Streit gegen den Kirchenvater Origenes Der Mensch ist also das Tier, das nicht gegessen werden darf. Dieser »fleischliche« Hochmut ist aber nicht seine einzige Besonderheit. Was ihn wirklich von anderen zu unterscheiden scheint, ist das Wissen um den eigenen Tod. »Mors certa, hora incerta.« Aus diesem Grund mag der Mensch auch das einzige Lebewesen sein, das beerdigt. Es ist eine Möglichkeit, die Unverfügbarkeit des Todes zu bewältigen. Das Humane kommt wortwörtlich von Humus, von der Erde, aus der wir entstehen und zu der unser Fleisch wieder wird. Der personifizierte Tod lacht uns seit jeher als fleischloses Gerippe entgegen. Hätten wir ihn anders denken können, anders als entfleischt? Was dem Denken entgeht, ist dieser radikal-phänomenologische Vorrang des Lebens. »Dieses Vergessen erweist sich als besonders katastrophal, wenn es um das Denken des Körpers bzw. dessen geht, was mit ihm in einem unüberwindlichen Verhältnis verbunden ist: um das Fleisch, unser Fleisch.«1 Vielleicht ist der Hinweis auf die permanente Vulnerabilität entscheidend für die Bewältigung von Krisen, die sich am semantischen Riss der Begriffe Umwelt und Mitwelt aufspannen. In der anthropozentrischen Umwelt mag das menschliche Leben im Zentrum stehen, während in der biozentrischen Mitwelt das Gedeihen aller verhandelt werden muss. Die Vulnerabilität des Fleisches ist nicht mit der Vergänglichkeit alles Lebendigen gleichzusetzen. Dennoch ist die Zugehörigkeit zur Welt nicht heilbar. »Aber wenn man sich Mühe gibt, kann man sich vom Glauben heilen, daß man nicht dazugehört; daß das nicht das wesentliche Problem ist; daß, was mit der Welt geschieht, uns nichts angeht.«2 Bruno Latours Appell ist, die Ökologie nicht als Name einer Partei misszuverstehen, sondern als Aufruf, die Richtung zu ändern: »Hin zum Terrestrischen!«3 So außerirdisch dieser Aufruf scheint, so vertraut ist er anderen Philosophen. Sofort kommt ihnen Nietzsche in den Sinn. »Meine Brüder, bleibt mir der Erde treu!« Zarathustras Beschwörung war eine erste Kunde des terrestrischen Zeitalters. Mit diesen Worten tritt Nietzsches Prophet in den Ring, um den Sinn der Erde vor dem drohenden Nihilismus der »letzten Menschen« zu retten. Nietzsches Thesen entkommen freilich dem vorherrschenden Anthropozentrismus nicht. Wissen wirklich nur die menschlichen Tiere um ihre mögliche Vernichtung? Wissen nur sie von ihrem sicheren Tod, und fürchten nur sie sich vor einem qualvollen Sterben? Es ist nicht gleichgültig, wie wir über unser Fleisch denken, ob wir seine Vergänglichkeit als Teil unserer menschlichen Identität begreifen oder nicht. Ich möchte einem Verdacht nachgehen, der sich schnell aufzudrängen scheint. Nämlich, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, wie wir uns als fleischliche Wesen wahrnehmen, welches Fleisch wir verzehren und wie wir die Debatte um Themen wie die Sterbehilfe führen. Vielleicht wird deshalb auch in aktuellen Diskursen sowohl um das Verständnis als auch um den Wert menschlichen Lebens gerungen. Wer sind wir noch, nach allen ökologischen Exzessen und sozialen Verwerfungen, wer sind wir jetzt, die wir uns Menschen nennen? »Sagen wir: Erdbewohner statt Menschen. Wo befänden wir uns? Auf der ERDE und nicht in der NATUR. Und genauer gesagt auf einem Boden, den wir mit anderen, oft seltsamen Wesen mit vielförmigen Ansprüchen teilen.«4 Es möge uns Menschen die »Fähigkeit zum Wohl« gegeben sein, eine Fähigkeit, die wir mit pflanzlichem und tierischem Leben teilen. Wir wollen, so das Dogma, uns um jeden Preis selbst erhalten. Um das Leben als höchsten aller Werte zu postulieren, wird der Selbsterhaltungstrieb ins Feld geführt. Aber wo ist dieser »Überlebenstrieb« situiert? Wo sitzt dieser mythische Conatus, der sich noch immer in dem Mythos des unbedingten Strebens eines Organismus nach Weiterbestehen, nach »Überlebenwollen« hält? Im Intellekt, im Seelenleben wohl nicht, denn nicht nur Pubertierende liebäugeln hin und wieder, wenn auch unterschiedlich intensiv, mit der Möglichkeit eines Suizids. Oder ist der Conatus etwa in unserer Fleischlichkeit festgeschrieben? Dann müssten wir klären, wieso sich der Mythos der Arterhaltung anhand einfacher Beispiele seitens der Psychologie widerlegen lässt. Von wegen Selbsterhaltung als Form des reinen Überlebens gleich einer unsichtbaren Kraft. Das überzeugendste Gegenbeispiel ist der Freitod. »Dieses hartnäckige Sterbenwollen, das so fremd war und doch so regelmäßig und beständig auftrat und darum nicht durch individuelle Besonderheiten oder Zufälle zu erklären war, war eines der ersten Rätsel einer Gesellschaft, in der die politische Macht eben die Verwaltung des Lebens übernommen hatte.«5 Michel Foucaults Zitat scheint die aus der Antike überlieferte Anekdote übersehen zu haben, in der der mythische Silen zu König Midas über das menschliche Schicksal spricht: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.«6 Der Tod wird darin nicht als das größte Übel, sondern als die Erlösung von allen Übeln gezeichnet. Die Geworfenheit, die bei Existenzphilosophen wie Heidegger eine zentrale Rolle spielen wird, klingt in dieser mythischen Erzählung an: »Daß es ist und zu sein hat.« Ich habe weder mein Leben noch seine Bedingungen gewählt, wurde in diese Zeit und an diesen bestimmten Ort geworfen. Die einzige Möglichkeit, über das eigene Leben verfügen zu können, ist, es freiwillig zu beenden. Dieses Sterbenwollen transformiert sich in der Debatte rund um die Sterbehilfe zu einer Frage des Sterbenlassens. »Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen. So erklärt sich vielleicht die Disqualifizierung des Todes, die heute im Absterben der ihn begleitenden Rituale zum Ausdruck kommt.«7 Foucault schließt daraus, dass wir dem Tod nicht aus Angst ausweichen, sondern weil er für uns als Gesellschaft unerträglich wäre. Vielmehr ist das Ausweichen der Tatsache geschuldet, dass sich die »Machtprozeduren« von ihm abgewendet haben. Ihr Interesse gilt nun dem Leben und nur dem Leben. Auch wenn die Möglichkeiten zur Kontrolle sich wesentlich gesteigert haben, die Regulierung des Lebens, im Sinne einer Regulierung der Bevölkerung, ist schon immer ein wesentlicher Aspekt gewesen. Über lange Zeit erlangte der Souverän nur durch das Töten die Macht über das Leben. Doch wem schuldet man heute das eigene Leben: den Eltern, den Vorfahren oder Gott? Wen muss man um Erlaubnis fragen, um sterben zu dürfen? Das Rätsel dieses Sterbenwollens konnte nicht gelöst, sondern im Laufe der Zeit lediglich pathologisiert werden. Nicht nur die Medizin, sondern auch die Politik nahm sich seiner Lösung an. »Heute verwenden wir unsere besten Kräfte darauf, das Leben zu verlängern. In Wirklichkeit verkürzt sich das Leben zum Überleben. Wir leben, um zu überleben. Die Hysterie der Gesundheit und der Optimierungswahn sind Reflexe auf den herrschenden Seinsmangel. Wir versuchen, das Seinsdefizit durch Verlängerung des nackten Lebens zu kompensieren.«8 Dabei gibt es allerdings ein Problem für den Herrschenden. Während man das Sterben anordnen konnte, indem man einfach das Leben nahm, konnte man das Leben nicht anordnen. Giorgio Agamben beschreibt in seinem »Homo sacer« lang und breit dieses entscheidende Ereignis der Moderne als Politisierung des nackten Lebens. »Entstanden um des Lebens willen, bestehend um des guten Lebens willen.« Im Angesicht von Biologismen, die den öffentlichen Diskurs beherrschen, scheint diese antike Formel obsolet. Das nackte Leben, das Leben der Lust und des Schmerzes, hat das...


Hirn, Lisz
Lisz Hirn, geboren 1984, studierte Philosophie und Gesang in Graz, Paris, Wien und Kathmandu. Sie arbeitet als Publizistin und Philosophin in der Jugend- und Erwachsenenbildung, u. a. am Universitätslehrgang »Philosophische Praxis« der Universität Wien. Artikel in diversen österreichischen Medien. Bei Zsolnay erschien 2023 Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit. Weitere Publikationen: Wer braucht Superhelden (2020) und Macht Politik böse? (2022).


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