Teneriffa-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 3, 202 Seiten
Reihe: Ramón Martín & Teresa Zafón
ISBN: 978-84-941501-3-5
Verlag: Zech Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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12 Pater García Talavera war froh, wieder alleine zu sein. Das stundenlange Streitgespräch hatte auch ihn sehr angestrengt. Er hatte zwar keinerlei Schuldgefühle entwickelt, aber der Dauerbeschuss mit Vorwürfen hatte ihn genervt. Hoffentlich kam dieser Jordi Serrat nun zu Sinnen, nachdem er sich alles von der Seele geredet hatte. Der Priester wollte hier weg, und er musste es auch, schon aus medizinischen Gründen. Er hatte Serrat bewusst verschwiegen, dass er in seinem Kulturbeutel noch einige seiner lebenswichtigen Tabletten hatte. Mit dieser geheimen Ration wollte er auf der sicheren Seite sein. Sein Entführer hatte davon entweder nichts gewusst, oder er hatte sein Wissen zurückgehalten. Jetzt, als der Priester wieder allein war, wollte er seine Medizin zu sich nehmen. Er hatte sowieso in der Aufregung einen Tag ausgesetzt und vergessen, gestern eine Tablette zu schlucken. Das war schon schlimm genug und würde ihn aus dem Tritt bringen. Der Kulturbeutel stand vor der Matratze direkt zu seinen Füßen. Nach kurzem Suchen in den verschiedenen Taschen klaubte er den einzigen schmalen Streifen heraus, in dem noch vier Tabletten eingeschweißt waren. Er machte sich in der Dunkelheit langsam und tastend auf den Weg zum Spülbecken, in dem ein Glas stand und daneben der Wasserkanister. Die Kette an seinem Arm rasselte mit jedem Schritt und ärgerte ihn zunehmend. Am Becken angekommen und mit dem Tablettenstreifen zwischen den Fingern, versuchte er, nach dem Glas zu greifen. Da verhakte sich die Kette am Rand der Spüle, und unwillkürlich ließ er die Tabletten los, um den Druck der Kette zu mindern. Pater García hörte ein merkwürdiges Geräusch, als der Streifen fiel. Der Tablettenstreifen schlug nicht im Becken auf, sondern rasselte weiter abwärts. Kalte Angst legte sich um das Herz des Priesters, denn er ahnte, was geschehen war: Seine letzten Tabletten waren in das Abflussrohr gerutscht! Mit zitternden Händen suchte er den gesamten Beckenboden ab. Die Kette an seinem Handgelenk schlug einen bedrohlichen Takt dazu. Pater García fand in der Spüle, wie erwartet, nichts außer dem Glas. Seine Finger fuhren nun ein kurzes Stück in die Öffnung des Rohres hinein, es war sehr eng, und er erfühlte nur gähnende Leere. Die Tabletten waren also viel tiefer gefallen! Seine eiserne Reserve war verloren. Nun wurde es ernst! Noch einmal lehnte sich der Priester gegen die bedrohliche Erkenntnis auf. Er packte das Spülbecken und versuchte es abzureißen. Wie ein Wahnsinniger rüttelte er daran. Doch weder das Becken noch das eingelassene Rohr gaben nach. Beide waren fest im Felsen eingemauert. Pater Garcías Verzweiflung nahm zu, aber gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er nun mit seinen Kräften haushalten musste. Langsam arbeitete er sich zu seiner Bettstatt zurück und ließ sich zermürbt darauf nieder. Seine Hand ging noch einmal suchend durch den Kulturbeutel. Hatte er vielleicht einen weiteren Streifen übersehen? Diese Hoffnung zerrann wie Sand im Stundenglas. Und damit begann sein zweiter Tag ohne die lebenswichtige Medizin. 13 Lola Amaya war unruhig und in Sorge. Seit mehr als sieben Jahren war sie als Haushaltshilfe bei Hochwürden García Talavera beschäftigt. Zweimal wöchentlich putzte sie bei ihm, wusch seine Wäsche und übernahm Botengänge. Heute war solch ein Tag, und sie hatte ihn schon zum zweiten Mal nicht angetroffen. Auch ihre Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, waren vergeblich geblieben. Als der Priester auch beim dritten Versuch auf ihr Klingeln an seiner Wohnungstür nicht reagierte, schellte sie bei den Nachbarn im ersten Stock. Das ältere Paar, das dort wohnte, war ihr flüchtig bekannt. Tatsächlich wurde der Türöffner betätigt, und Lola Amaya stieg schnaufend die Stufen hoch. Die Zugehfrau wurde neugierig begrüßt. Der betagten Nachbarin war nicht aufgefallen, dass der Priester schon mehrere Tage nicht nach Hause gekommen war. Erst jetzt, nach den besorgten Fragen der Haushaltshilfe, hielt sie das für möglich. »Ihm wird doch nichts passiert sein? Ganz gesund wirkte er nicht in der letzten Zeit, so wie er sich immer die Treppe hinauf geschleppt hat«, meinte sie besorgt. Lola Amaya wiegte zweifelnd den Kopf und ging die Treppe weiter hinauf unters Dach. Dort klopfte sie mehrmals fest an die Wohnungstür des Priesters. Es rührte sich nichts. Als sie den Briefkastenschlitz hoch hob, sah sie im Inneren des lichtdurchfluteten Flures eine Vielzahl von Briefen auf dem Boden liegen. Der Priester musste sie schon längere Zeit nicht aufgehoben haben, war also wohl nicht zu Hause. Ihre Unruhe wuchs. »Sicher hat der Hausmeister einen Schlüssel«, meinte die Alte von unten, die ihr bedächtig nachgestiegen war und nun mit hochrotem Kopf und schwer atmend neben ihr stand. Sie trafen den Hausmeister in seiner Wohnung an. Der zögerte nicht, den beiden Frauen die Tür des Priesters zu öffnen. Zu dritt gingen sie hinein. Pater García Talavera war nicht zu Hause, das wurde schnell klar. Auf dem Dielenboden lag Post verstreut, ansonsten herrschte keine Unordnung. Erst im Schlafzimmer stutzte Lola Amaya. Der Kleiderschrank stand offen, und sie sah sofort, dass nicht nur mehrere Kleidungsstücke fehlten, sondern auch der Reisekoffer. Sie eilte ins Badezimmer. Auch dort fehlten der Kulturbeutel und die üblichen Pflegemittel, die sonst auf der Konsole standen. Lola Amaya erklärte den anderen, was sie festgestellt hatte. Der Hausmeister brummte in seinen Bart: »Dann ist der Pater wohl auf Reisen gegangen und hat vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen, wie das eben bei älteren Leuten schon mal passiert. Wahrscheinlich ist er einer der vielen Karnevalsflüchtlinge auf unserer Insel!« »Das ist in all den Jahren noch nie vorgekommen«, entgegnete Lola Amaya empört, aber nachdem auch die Nachbarin beruhigend auf sie eingeredet hatte, gab sie sich fürs erste geschlagen. Dann warf sie nochmals einen Blick ins Badezimmer. Eine geschlossene Packung Schilddrüsenhormon-Tabletten stand zwar noch da. Sie wusste, dass der Pater diese immer als eiserne Reserve hielt. »Das bedeutet aber auch, dass Pater García eine angebrochene Packung mitgenommen haben muss«, befand sie erleichtert. Mit ihren beiden Begleitern verließ sie die Wohnung und beschloss, mit einer Vermisstenanzeige noch etwas zu warten. Als sie am Tag darauf immer noch keine Nachricht von dem Pater hatte, beschloss sie, zur Polizei zu gehen. Der Beamte belehrte sie mürrisch, dass nach den polizeilichen Richtlinien noch lange kein Vermisstenfall vorläge. Der Priester sei nach ihren eigenen Worten voll zurechnungsfähig, nicht suizidgefährdet und auch nicht in besonderer Gefahr, da er ja seine Medikamente bei sich habe. Lola Amaya ließ jedoch nicht locker, sie erklärte nochmals, dass sie seit Jahren bei Pater García Talavera Dienst täte und dieser immer zuverlässig seine Verabredungen eingehalten habe. Eine Abwesenheit des Priesters an den Tagen, an denen sie zum Saubermachen kommen sollte, sei noch niemals vorgekommen. »Einmal ist immer das erste Mal«, beschwichtigte sie der Beamte nochmals. Lola Amaya wiederholte gebetsmühlenartig ihre Befürchtung: »Es muss etwas geschehen sein!« »Pater García hat doch sogar Kleidungsstücke, Toilettenartikel und seinen Koffer mitgenommen. Er ist bestimmt verreist, eine Spontanreise, in seiner Wohnung gibt es keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, Sie haben es noch selbst festgestellt«, entgegnete der Beamte. Die Putzfrau insistierte trotzdem so lange, bis der Wachhabende sich entschied, eine Vermisstenanzeige vorzubereiten. Noch am selben Tag ging die Anzeige in Bearbeitung. Sie wurde Alfonso Ruega zugeteilt, der schon über zehn Jahre in der Abteilung »Vermisste« arbeitete und mit der Zeit eine gute Intuition für die Wichtigkeit von Fällen entwickelt hatte. Diese Vermisstensache erschien ihm jedenfalls äußerst auffällig. Es gab für ihn keinerlei befriedigende Erklärung dafür, warum der Priester seinen Lebensumkreis so plötzlich und unangekündigt verlassen haben sollte. Alfonso Ruega beschloss, sich selbst einen Überblick zu verschaffen. Er telefonierte mit Lola Amaya, um die Einzelheiten von ihr direkt zu hören. Die verängstigte Frau bestärkte ihn in seinen Befürchtungen. Seine Frage, ob der Priester mit irgendjemandem Streit gehabt haben könnte, verneinte sie vehement. Mehrmals wiederholte sie im Brustton der Überzeugung: »Der Pater ist allseits beliebt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Feinde hat.« Zweifel kamen Alfonso Ruega erst, als die Haushaltshilfe erzählte, die Wohnungstür sei zweimal verschlossen gewesen, als sie mit dem Hausmeister und der Nachbarin in die Wohnung gegangen war. Alfonso Ruega folgerte daraus: Der Letzte, der die Wohnung verlassen hat, muss einen Schlüssel gehabt haben. Es war für den Ermittler kaum vorstellbar, dass ein Fremder mit dunklen Absichten die Tür nach dem Fortgehen zweimal zugeschlossen hätte. Hatte vielleicht doch der Priester die Tür vor seiner Abreise selbst doppelt gesichert, für die Zeit der Abwesenheit? Ruega beschloss, die Wohnung noch einmal persönlich in Augenschein zu nehmen. Als der Beamte mit dem Streifenwagen vor Pater García Talaveras Wohnung auftauchte, erregte er Aufmerksamkeit. Rasch versammelte sich eine Traube Neugieriger auf der Straße. Den Nachbarn fiel ebenfalls erst jetzt auf, dass sie den Priester schon längere Zeit nicht gesehen hatten. Sie hätten alle miteinander...