Im Familienclan ins bessere Leben - Roman über die arabische Clanwelt
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7519-9165-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Volker Himmelseher führt ein großes Unternehmen der Versicherungsbranche mit Sitz in Köln. Dem Ruhestand nahe, schreibt er Krimis und geschichtliche Romane. Eine Lebenserinnerung kommt hiermit hinzu.
Autoren/Hrsg.
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1947
Anatolien, Provinz Mardin im Südosten der Türkei
Der Sommermonat August hatte gerade begonnen. Zwölf Sonnenstunden bei 36 Grad Celsius bestimmten den Tageslauf. Tarek Omeirat war aus seinem Heimatdorf Rashdiye seit Langem mal wieder in die Provinzhauptstadt Mardin gereist. Er hatte vieles zu bedenken und wollte dabei von Familie und Nachbarn ungestört sein. Der drahtige Zweiundzwanzigjährige gehörte zu der arabischsprachigen Volksgruppe der Mhallami. Er war ein gutaussehender Mann. Sein männliches Gesicht, von der Sonne gegerbt und von einem dunklen Bart eingerahmt, strahlte Gelassenheit aus. Seine gebrochene Nase hingegen ließ die Lust an körperlichen Konfliktlösungen erahnen. Die Hitze des Tages hielt noch vor, es war immer noch warm. Tarek hatte sich in der Altstadt von Mardin, die sich an den alten Burghügel schmiegte, einen einsamen Platz gesucht und schaute versonnen in die Tiefenebene von Mesopotamien. Auch das mächtige Kalksteingebirge Tur Abdin am Oberlauf des Tigris hatte er im Blick. In seinem Kopf fand eine einseitige Konversation statt. Ihn trieben unzählige Fragen um. Heute wollte er die Antworten auf sie finden. Die Antworten zur Gegenwart lagen in der Vergangenheit, dessen war er sich bewusst: Die Mhallami hatten schon seit Langem unter den Türken einen schweren Stand. Dass sie als arabisch Sprechende unter kurdisch Sprechenden mit einem besonderen Dialekt lebten, stigmatisierte sie zusätzlich. Die Kurden beäugten sie wie die Türken mit Argwohn. Sie betrachteten sie, wegen der unterschiedlichen Sprache, trotz kurdischer Wurzeln nicht als Kurden. So wurden sie von ihren andersartigen Nachbarn immerzu geduckt. Eine besondere Rolle spielten dabei die Agas, die Steuerpächter. Sie waren aus den kurdischen Stämmen rekrutiert und benachteiligten sie ständig. Sie verhielten sich ausbeuterisch und korrupt. Um sich in diesem feindlichen Umfeld zu behaupten, hatten die Mhallami ihre Clanstrukturen immer enger geschnürt. Cousins heirateten Cousinen und Söhne von Freunden heirateten die Töchter aus dem Freundeskreis. Heiraten in fremde Stämme waren verboten. Schon Ende des Ersten Weltkriegs hatten die ersten Familien aus dieser misslichen Lage die Konsequenz gezogen und waren in den Libanon migriert. Mustafa Kemal Atatürk, der Schöpfer der modernen Türkei, hatte nicht nur Protestaktionen der Kurden blutig niedergeschlagen, sondern auch die Mhallami gezwungen, ihre arabischen Namen durch türkische zu ersetzen. Das ging gegen deren Ehre. … Nun verspürten Tarek Omeirat und seine Freunde ebenfalls den Wunsch auszuwandern, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen. Sie waren jung, voller Lebensmut und wollten für sich eine bessere Zukunft finden. Sie waren es leid, Jahr für Jahr dem kargen Land zu trotzen. Auf den wenigen Hektar harten, trockenen Bodens ließen sich keine Reichtümer erwirtschaften. Auch wenn es, trotz der Wasserarmut in jedem Frühjahr, als geschehe ein Wunder, wieder zu keimen begann, blieb man vom Wasser, vom Staubsturm und von anderen Wetterunbilden auf Gedeih und Verderb abhängig. … Diese Tage hatten die Freunde Tarek gefragt, ob er die Führung ihrer Gruppe übernehmen wolle. Er hatte dies wohl dem Umstand zu verdanken, dass ihr Mullah ihn früh protegierte. Tarek war im Koran überdurchschnittlich belesen und für einen Bauernjungen gut geschult in Schrift und Wort. Zudem war er körperlich stark und seelisch belastbar. Die Anfrage der Freunde galt es, gründlich zu überdenken. Er wusste, dass eine Rückkehr in die Türkei ausgeschlossen war. Sie würden von den Behörden ausgebürgert, schon weil sie sich dem Wehrdienst entzogen hatten. Die Emigration allein war schon Grund genug dafür. Dass er sich keinesfalls ohne Alia Yildirim auf den Weg machen würde, stand für ihn fest. Er liebte Alia, die Erhabene, wie ihr Vorname zu Recht preisgab. Sie war eine schöne Frau. Ihre zarte Gestalt, das edle Gesicht mit den sanften braunen Augen und die glänzenden schwarzen Haare traten sofort vor sein inneres Auge und ließen ihn wohlig erschauern. Mit ihr wollte er Kinder haben und den Familienstamm fortsetzen. Er glaubte, ihr Flüstern zu hören: »Tu es!« Diese vermeintliche Aufforderung ließ in ihm den Entschluss reifen, Alia noch vor der Reise zu heiraten. Sie waren weitläufige Verwandte. Hochzeiten unter Verwandten waren in ihrem Stamm gang und gäbe, sogar gewünscht. Sie wurden von den Alten sogar gefördert, denn sie dienten der Stärkung der Großfamilie. Er hatte genaue Vorstellungen, wie das Fest ablaufen sollte: Sein Vater, Firat, würde Ehevormund, der Wali. Für den Abschluss des Ehevertrages wollte er seinen Onkel Mahmoud und seinen besten Freund Nidal um Hilfe bitten. Sie sollten ihre Zeugen sein. Für die Hochzeit schwebte ihm unter den gegebenen Umständen nur eine bescheidene Zeremonie vor. Das schöne Ereignis würde schließlich mit dem bevorstehenden Trennungsschmerz einhergehen. Es konnte keine übermütige Freude aufkommen. Danach würde keinem zumute sein. … Tarek war sich im Klaren, dass sich das Auswandern mühevoll und gefährlich gestalten würde. Der Weg über Syrien in den Libanon war weit. Allah sei Dank boten die Grenzübergänge, besonders in der Nacht, an den vielen einsamen Stellen keine größere Gefahr. Unruhig machte ihn, was ihm in diversen Berichten zu Ohren gekommen war: Auch der Libanon gelte für ihren Stamm nicht als gelobtes Land. Vom Hörensagen wusste er, dass man sie dort gern abfällig behandelte, besonders wenn sie nicht registriert waren. Dazu brauchte man aber viel Geld. Ohne Registrierung wurde es schwer, überhaupt Arbeit zu finden, erst recht Arbeit zu fairem Lohn. Kindern gestand man nicht mal einen Schulplatz zu. Auch soziale Leistungen, wie Versicherungsschutz bei Krankheiten, blieben den Migranten versagt. … Es gab, Allah sei es gedankt, auch positive Berichte über den Libanon. An die wollte sich Tarek klammern. Aber auf jeden Fall würden er und seine Freunde in der Fremde, wie hier zuhause, aufeinander angewiesen sein. Unbedingter Zusammenhalt war fürs Überleben vonnöten. Was ihn neben den Unkenrufen ängstigte, war, dass es keinen Weg zurückgab, wenn man erst einmal gegangen war. Die Älteren, aber auch einige Junge ihres Stammes, würden zurückbleiben und damit eigentlich einen Ort für die Heimkehr bieten. Doch die verbot die türkische Regierung! Wenn sie ausreisten, durften sie im Libanon also nicht scheitern. … Als die Sonne am Horizont unterging, hatte er die Entscheidung getroffen. Er würde das Wagnis eingehen und seine Freunde in die Fremde führen. Seine Hoffnung war groß, dass es für sie dort besser würde. Für die Nacht genoss er in der Altstadt die Gastfreundschaft einer befreundeten Familie. Nach einem üppigen Abendmahl und guten Gesprächen schlief er traumlos und fest. Am späten Morgen verabschiedete er sich mit Dank, »Salam aleikum«, Friede sei mit dir, und machte sich auf den Weg nach Rashdiye zurück. Der ließ ihm mit einer Dauer von über acht Stunden viel Zeit, Einzelheiten der bevorstehenden Reise zu bedenken. Zuhause war die Zeit reif, seine Führungsrolle anzunehmen und mit ersten Taten unter Beweis zu stellen. Tarek fühlte sich stark genug und war hoffnungsfroh. … Rashdiye am nächsten Tag
Als Tarek Omeirat den 7000-Seelen-Ort erreichte, tauchte die untergehende Abendsonne bereits die kleinen Häuser und Hütten in ein schläfriges Rot. Selbst die grünen Weintrauben auf den Feldern hatten einen rötlichen Glanz. Die Luft war etwas kühler geworden, und so saßen viele der Dörfler vor der Tür und genossen die beginnende Frische der aufziehenden Nacht. Tarek grüßte alle Bekannte beim Vorbeigehen mit freundlichem Nicken und erhobener Hand. Als er auf seinen Busenfreund Nidal Hammad traf, eilte der auf ihn zu. »Hast du deine Entscheidung getroffen?«, wollte er wissen. Tarek nickte und antwortete: »Ja, ich werde euch führen. Aber erspare mir heute Abend die Einzelheiten. Ich bin müde vom Weg. Ruft unsere Gruppe für morgen um 7:00 Uhr in der Früh am Marktplatz zusammen, dort werden wir alles beratschlagen.« Mit einem abschließenden »Salam« ging er weiter. … Am nächsten Morgen warteten einschließlich Alia fünfzehn Personen auf ihn. Die Neugierde, wie seine Entscheidung ausfallen würde, war ihnen in die Gesichter geschrieben. Tarek wollte seine Kumpane nicht auf die Folter spannen, er kam deshalb direkt auf den Punkt: »Ich werde euch in den Libanon führen. Aber unsere Ausreise müssen wir sorgsam vorbereiteten. Nichts soll dem Zufall überlassen bleiben. Die damit verbundenen Aufgaben müssen von mehreren Schultern getragen werden. Hat jemand von euch Vorschläge, welche Pflichten er übernehmen könnte?« Nach einem Moment der Stille...