Thriller
E-Book, Deutsch, 720 Seiten
ISBN: 978-3-608-11043-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Osaka, 1973: Der Pfandleiher Kirihara wird ermordet in einem verlassenen Gebäude aufgefunden. Der unerschütterliche Detektiv Sasagaki nimmt sich des Falls an, der von nun an sein Leben bestimmt. Schnell findet er heraus: Ryo, der wortkarge Sohn des Opfers, und Yukiho, die hübsche Tochter der Hauptverdächtigen, sind in das Rätsel um den Toten verwickelt. Beinahe zwanzig Jahre lang versucht Sasagaki mit zunehmender Verzweiflung, den Mord aufzuklären, in dessen Netz sich Täter, Opfer und Polizei verfangen haben. Bis über alle Grenzen hinaus, bis hin zur Obsession.
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Kapitel 2
1
Es klingelte, und ein paar Minuten später wurde es laut. Geduckt, den Fotoapparat in seiner rechten Hand, beobachtete Yuichi Akiyoshi die Schülerinnen, die aus dem Tor der Seika-Mädchenschule strömten. Er nahm jede Einzelne ins Visier. Sein Versteck war ein Kleinlaster, der etwa fünfzig Meter entfernt vom Tor am Straßenrand geparkt war. Genau an der richtigen Stelle. Die meisten Schülerinnen mussten auf ihrem Heimweg an ihm vorbei, und die Plane über der Ladefläche des Lasters bot eine geeignete Deckung. Für sein Vorhaben an diesem Tag war es das beste Versteck, das Yuichi sich hätte wünschen können. Könnte er diesmal die Aufnahmen ergattern, auf die er es abgesehen hatte, hätte es sich gelohnt, sechs Mal hierherzukommen. Die Schulmädchen trugen Matrosenuniformen. Im Sommer waren es weiße Oberteile mit hellblauen Kragen und adrette Faltenröcke in der gleichen Farbe. Yuichi beobachtete, wie die Röcke um die Beine der vorübergehenden Mädchen flatterten. Einige von ihnen sahen aus, als wären sie noch in der Grundschule, während andere bereits wie junge Frauen wirkten. Sooft eine der Letzteren an seinem Laster vorbeikam, drängte es ihn, ein Foto zu machen, aber er hielt sich zurück. Er wollte nicht, dass ihm vor dem Hauptereignis der Film ausging. Er beobachtete die Mädchen bereits ungefähr seit einer Viertelstunde, als er Yukiho Karasawa entdeckte. Hastig hob er seinen Apparat ans Auge und verfolgte sie durch den Sucher. Wie üblich war Yukiho mit ihrer Freundin unterwegs, einem schlaksigen Mädchen mit Nickelbrille, spitzem Kinn, Pickeln auf der Stirn und einer unglücklichen Figur. Yukiho hingegen war hinreißend. Sie hatte üppiges braunes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel und glänzte, als wäre es mit irgendetwas überzogen. Immer wieder strich sie es mit einer sehr natürlichen Bewegung ihrer Finger zur Seite. Sie war schlank, aber ihre Brüste und Hüften waren die einer erwachsenen Frau. Wahrscheinlich war es dieser Vorzug, der ihre Verehrer besonders betörte. Ihre rassigen Katzenaugen waren ihrer Freundin zugewandt. Auf ihren vollen Lippen lag ein liebliches Lächeln. Yuichi richtete das Objektiv auf sie und wartete, dass sie näher kam. Er wollte eine Großaufnahme, denn ihre Nase hatte es ihm besonders angetan. Das Haus von Yuichis Familie lag am Ende einer Zeile einstöckiger Häuser in einer schmalen Gasse. Es war dreißig Jahre alt. Rechts, wenn man hineinkam, lag die Küche, der Geruch von Misosuppe, Curry und vielem mehr hatte Wände und Balken gebeizt. Der ärmliche Geruch der Altstadt, fand Yuichi. »Fumihiko Kikuchi wartet oben auf dich«, rief seine Mutter, die sich in der Küche über das Spülbecken beugte. Sie war dabei, das Abendessen zuzubereiten. Er warf einen Blick auf das Schneidebrett und seufzte. Schon wieder Kartoffel-Tempura! Seit Verwandte vom Land ihnen Kartoffeln geschickt hatten, gab es das jeden dritten Tag. Oben in seinem Zimmer saß sein Freund im Schneidersitz auf dem Boden und schaute sich den Kinoprospekt des Films Rocky an, den Yuichi vier Tage zuvor gesehen hatte. Fumihiko schaute auf. »War der Film gut?«, fragte er. Der Prospekt zeigte Sylvester Stallone in Großaufnahme. »Ja, ziemlich gut. Viel Action.« »Ja, das sagen alle.« Fumihiko beugte sich wieder über den Prospekt. Wahrscheinlich hätte er ihn gern gehabt, aber Yuichi sagte nichts, denn er wollte ihn ihm nicht geben. Wenn er unbedingt einen wollte, konnte er ja selbst ins Kino gehen und von dort einen mitbringen. »Schade, dass Kino so teuer ist«, sagte sein Freund bedächtig. »Stimmt.« Yuichi nahm die Kamera aus seiner Tasche, legte sie auf den Schreibtisch, setzte sich rittlings auf den Stuhl und legte die Arme um die Lehne. Fumihiko und er waren zwar gut befreundet, aber er sprach nicht gern über Geld mit ihm. Fumihiko lebte allein mit seiner Mutter, und man sah ihm an, dass es ihnen nicht allzu gut ging. Yuichi war froh, dass sein Vater noch bei der Eisenbahngesellschaft angestellt war. »Hast du wieder Fotos gemacht?«, fragte sein Freund mit einem Blick auf die Kamera. Er grinste, weil er genau wusste, was Yuichi fotografierte. »Ja«, sagte Yuichi und grinste zurück. »Hast du ein paar gute machen können?« »Weiß noch nicht, ich glaube schon.« »Das bringt gutes Geld.« »So viel auch wieder nicht. Die Entwicklung kostet ja auch etwas. Aber vielleicht bleibt ein bisschen was übrig.« »Klasse, wenn man so was kann. Darum beneide ich dich.« »Na ja, können … Ich kenne ja nicht mal alle Funktionen von dem Apparat. Ich mache es eben, so gut ich kann.« Das Zimmer, das jetzt Yuichis war, hatte früher der jüngere Bruder seines Vaters bewohnt. Fotografieren war sein Hobby gewesen, weshalb er mehrere Apparate besessen hatte und sogar das notwendige Zubehör, um Schwarzweißfilme entwickeln zu können. Als der Onkel schließlich geheiratet hatte, hatte er Yuichi einiges davon überlassen. »Super, wenn man jemanden hat, der einem so was schenkt.« Yuichis gute Laune war verflogen, da er weitere missgünstige Bemerkungen von Fumihiko befürchtete. Eigentlich vermied er dieses Thema, doch sein Freund kam bewusst oder unbewusst immer wieder auf seine ärmliche Lage zu sprechen. Aber heute war es anders. »Du hast mir doch vor Kurzem diese Fotos gezeigt, die dein Onkel gemacht hat.« »Die aus dem Viertel?« »Ja, genau. Hast du die noch?« »Klar.« Yuichi machte eine halbe Drehung mit dem Stuhl und nahm ein Album aus dem Regal. Es gehörte ebenfalls zur Hinterlassenschaft seines Onkels. Darin waren mehrere Schwarzweißfotos, die dieser in der Nachbarschaft aufgenommen hatte. Er reichte Fumihiko das Album, und dieser betrachtete jedes einzelne Bild mit großem Interesse. »Was ist denn eigentlich damit?«, fragte Yuichi seinen rundlichen Freund. »Nichts Besonderes«, sagte dieser und nahm eins der Fotos aus dem Album. »Kannst du mir das hier leihen?« Yuichi betrachtete das Foto, das Fumihiko vor sich hielt. Es zeigte eine Gasse, durch die Hand in Hand ein Paar ging. An einem Strommast flatterte ein zerrissenes Plakat im Wind, und im Vordergrund stand ein Plastikeimer, auf dem sich eine Katze zusammengerollt hatte. »Was willst du denn damit?«, fragte Yuichi. »Ich möchte es jemandem zeigen.« »Wem denn?« »Irgendwem.« »Warum?« »Das kann dir doch egal sein.« »In Ordnung, aber ein bisschen komisch finde ich das schon«, sagte Yuichi, woraufhin sein Freund das Foto behutsam in seine Tasche schob. Nach dem Abendessen ging Yuichi auf sein Zimmer, um die Fotos zu entwickeln, die er am Nachmittag gemacht hatte. Sein Wandschrank diente ihm dabei als Dunkelkammer. Dort nahm er den Film aus der Kamera, legte ihn in einen speziellen Behälter und konnte so den Rest bei Licht machen. Sobald die Fotos entwickelt waren, nahm er den Film aus dem Behälter und ging damit nach unten, um ihn abzuspülen. Dabei hielt er ihn in das Neonlicht über dem Waschbecken. Er war sehr zufrieden, als er auf einem der Negative sah, wie perfekt er den Glanz von Yukiho Karasawas Haaren eingefangen hatte. Das Bild würde seinen Kunden zweifellos glücklich machen. 2
Eriko Kawashima hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend vor dem Schlafengehen Tagebuch zu schreiben. Sie hatte in der fünften Klasse damit angefangen, führte es also jetzt seit fünf Jahren. Daneben hatte sie noch andere Gewohnheiten. Bevor sie in die Schule ging, goss sie die Pflanzen im Garten, und sonntagmorgens räumte sie ihr Zimmer auf. Der Trick beim Tagebuchschreiben, hatte Eriko während dieser fünf Jahre gelernt, bestand nicht darin, nur Dramatisches festzuhalten, sondern auch von weniger aufregenden Ereignissen zu berichten. Es reichte schon zu notieren, dass an einem bestimmten Tag nichts Besonderes passiert war. Heute jedoch hatte sie etwas Aufregendes zu berichten. Sie war zum ersten Mal bei Yukiho Karasawa zu Hause gewesen. Sie war erst jetzt, in der neunten, in der gleichen Klasse wie Yukiho, kannte sie aber schon seit der siebten. Yukiho hatte ein intelligentes Gesicht und war überhaupt eine anmutige, makellose Erscheinung. Eriko spürte, dass sie etwas besaß, das ihr selbst und auch den anderen Mädchen, mit denen sie befreundet war, fehlte. Sie schwärmte für Yukiho und überlegte ...