E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-95869-434-7
Verlag: Calad
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ohne wirkliche Leidenschaft studiert Jakob an der Kunstakademie, bis der Prüfungsdruck seine scheinbar perfekte Welt ins Wanken bringt. Er erkennt, dass seine ziellose Suche nicht nur sein Talent, sondern auch seine wichtigsten Beziehungen zerstört hat. Verunsichert zieht er sich in die Isolation zurück, wo er in seinem Schreiben über den Renaissancemaler Giorgione Trost und Inspiration sucht. Doch die Einsamkeit treibt ihn an den Rand der Realität – zwischen psychotischen Fantasien und abstrusen Hoffnungen wird die Kunst sein einziger Halt.
In den faszinierenden Welten Düsseldorfs und Venedigs findet Jakob durch Giorgiones Leben und Werk einen neuen Zugang zu sich selbst und seinem eigenen Talent.
Ein fesselnder Roman über die Herausforderungen einer sensiblen Künstlerseele in der heutigen Zeit und eine Reise in die Welt der norditalienischen Kunstszene und der Malerei des 16. Jahrhunderts.
Autoren/Hrsg.
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3 - Freies künstlerisches Arbeiten Es ist der Mittwoch nach Beginn des Sommersemesters. Dieses ist sein achtes Semester. Er sollte sich auf den Weg zur Akademie machen. Lissy wird seit mindestens einer Stunde ihre Hälfte des gemeinsamen Atelierraumes unter Wasser gesetzt haben, während seine Hälfte im unberührten Weiß der getünchten Wände strahlt. Vor dem Spiegel im Flur stülpt er sich die schwarze Mütze so über den Kopf, dass seine Stirn frei ist und seine dunklen Haare, die er gewöhnlich im Nacken zusammenbindet, sein Gesicht umrahmen. Ein Selbstportrait könnte ein Schritt heraus aus der künstlerischen Lähmung sein, die ihn seit einem Jahr befallen hat. Professor Siggi Mandelarzts Ausspruch von neulich fällt ihm ein: Man schaut in den Spiegel und prüft ein paar Dinge. Zur Selbsterkenntnis? fragt er sich jetzt, zur Selbstvergewisserung? Zum Zwecke des neudeutschen Selbsterfindens? Das hat er nicht gesagt. Wenn Jakob sich überprüft, sieht alles an ihm aus, als hätte er zu lange darüber nachgedacht, während am Meister die weinrote Cordhose und der elfenbeinerne Pferdekopf an seinem Spazierstock keinen Moment lang wirken, als wären sie nicht angeboren. Bevor er seinen Werkraum betritt, späht er durch die angelehnte Tür, hört die Stimme von Sága Egilsdóttier, Lissys Professorin für Bildhauerei, Isländerin. Sie steht neben Lissy in deren Hälfte des fünf Meter hohen und fünfzehn Meter langen Atelierraumes, den sie der Länge nach zwischen sich aufgeteilt haben, damit beide vom Fenster an der Kopfseite profitieren. Lissy sitzt im hereinfallenden Licht des späten Vormittags und arbeitet an etwas Einsfünfzighohem mit weichen Rundungen, auf das sie in Abständen einen nassen Lappen niedergehen lässt, so dass die gipsgraue Brühe in alle Richtungen spritzt und Professorin Egilsdóttir zur Seite springt, über das schwarz-gelbe Absperrband hinweg in Jakobs Hälfte, um sich in Sicherheit zu bringen. »Und wie ist er denn so, der Jakob?« hört er die Egilsdóttir fragen, während Lissy ungerührt ihre gipsverschmierten Hände in einen Eimer taucht und über die kleinere, oberste Kugel gleiten lässt, mit einem zärtlichen Ausdruck im Gesicht, wie er ihn lange nicht mehr an ihr gesehen hat, wenn sie ihre Hände über etwas an ihm gleiten lässt. »Feinfühlig bis zur Überempfindlichkeit. Ängstlich.« Die Diagnose kommt wie aus der Pistole geschossen. Es kann hier nicht um ihn gehen. »Ah. Interessant. Auf mich macht er eher einen lethargischen, um nicht zu sagen faulen Eindruck – oberflächlich gesehen, natürlich … Jakob hält den Zeitpunkt für gekommen, diese private Unterhaltung zu beenden, die es so zwischen ihm und seinem Professor niemals geben würde. Er räuspert sich und schlendert, Hände in den Hosentaschen, herein. »Schwindt«, wendet sich wenig überrascht die Egilsdóttier an ihn und schüttelt Wassertröpfchen von ihrem grauen Arbeitskittel, ihrem anscheinend einzigen Kleidungsstück; Jakob hat sie nie in etwas anderem gesehen, obwohl sie sich in ihrem Prorektorinnen-Büro direkt neben Siggis wohl kaum die Hände schmutzig macht. »Professor Mandelarzt lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich einen Termin für eine Sprechstunde geben lassen sollen.«, und zu Lissy gewendet, indem sie sie kurz an der Schulter berührt: »Weiter so. Ich sehe, da kommt was.« Lissy blickt kaum auf, als er sich auf seinem Stuhl niederlässt und den Skizzenblock auf seine Knie legt. Weil er nichts Besseres mit sich anzufangen weiß, lässt er den Stift über das Papier gleiten und vermeidet sie anzusehen, denn eines weiß er: Ihre abwehrende Haltung wird sich verfestigen, wenn er sie sich zum x-ten Male als Modell vornimmt. Lissy will kein Portrait von ihm. Aber was will sie von ihm? Für die Umrisse ihres Gesichtes müsste er nicht einmal aufsehen, er hat sie viele Stunden lang aus nächster Nähe betrachtet, kennt jeden Quadratzentimeter. ihres es Manchmal wünscht er sich, ihr Gesicht hätte eine sanftere Linie, der er mit vielen zarten Farb-Schichten leuchtende Sinnlichkeit verleihen würde – falls er sich endlich für die heimliche Anfertigung eines Portraits aufraffen könnte. Aber ihr eckiges Kinn ist wie trotzig vorgeschoben und ihre, nur wenige Zentimeter langen Haare, sind tiefschwarz gefärbt. Im scharfen Kontrast zu ihrem blassen, fast weißen Teint, sucht er weiche Sinnlichkeit vergebens. So kerzengerade, wie sie hier sitzt, ist zwischen ihrem Rücken und der Stuhllehne ein Zehn-Zentimeter-Abstand. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals angelehnt oder gar mit hochgelegten Beinen gesehen zu haben. Aber immer noch ist er von ihrer martialischen Ausstrahlung angezogen. »Was ist? Solltest du nicht ins Sekretariat? Worum geht’s denn?« fragt sie, ohne ihre Arbeit am Oberteil der Figur zu unterbrechen, die aufgrund ihrer Größe und Anzahl der runden Wülste an die Venus von Willendorf erinnert. Am Ende wird sie sicher eine ihrer Figurinen sein, mit denen sie nicht Jemand darstellen möchte, wie sie sagt, sondern ähnlich, wie bei den Putten der Frührenaissance, lediglich ein Gefühl zum Ausdruck bringen möchte . In ihrer letzten Werkphase hatte sie Ausdruck noch realistisch umgesetzt, ihre Giacometti haften Langskulpturen mit einer echsenhaft schuppigen Oberfläche, zeigten im glattgeschmirgelten Gesicht ein eindeutiges Gefühl. Die letzte, eine weibliche Frauenfigur, die von oben herab auf ihre vor der Leibmitte zusammengelegten Hände blickt und an eine Agentin aus Zeiten des Kalten Kriegs erinnert, bewacht in seiner Belétage eine kleine feinziselierte Messing-Schatulle aus Marrakesch – Mitbringsel von Maman – in der er einige Tütchen mit ein paar Gramm Haschisch aufbewahrt. Damals hatte er Lissys wertvolles Geschenk mit dem Gefühl entgegengenommen, sie überreiche ihm den Schlüssel zur Tür in eine gemeinsame Zukunft, aber gleichzeitig war er vor der Zerbrechlichkeit der Figur zurückgeschreckt, von der er wusste, dass sie nur durch eine dünne Stahlstange im Inneren zusammengehalten wird. »Schwindt, da sind Sie ja.« Professor Mandelarzt zeigt mit seinem rechten Zeigefinger, auf dem ein Rubin im klarsten Taubenblutrot steckt, auf den Polstersessel, und Jakob folgt dem Aufblitzen des Facettenschliffs vor den Schreibtisch, einem erstaunlich unmodernen Büromöbel aus abgestoßenem Ahornholz, ein Anachronismus zu allem in diesem Raum, einschließlich zum Meister selbst. »Wie läuft`s?« fragt Siggi jovial, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander, seine rechte Hand streichelt den Pferdekopfgriff seines Spazierstocks, aber seine Augen sind prüfende Schlitze. »In der Galerie? Gut. Es gibt einen Käufer für die Kreuzigungen, ich gehe davon aus, dass er heute zusagt.« »Freut mich. Für Ihren Vater und natürlich für Vince Mayrhofer. Gratulation. Richten Sie es beiden aus.« «Mach` ich gern.« »Was halten Sie von den Bildern?« Jakob überrascht die Frage. Angesichts der überwiegend informellen Werke in der Galerie, verfolgt er die Strategie, das, was er sieht, in einem neutralen, sachlichen Ton so minutiös zu beschreiben, dass der Kunde in neunundneunzig Prozent aller Fälle darüber vergisst, was er ursprünglich hören wollte: Eine Interpretation. Aber Jakob hütet sich vor Spekulationen über mögliche Absichten und Vorstellungen des Künstlers. »Ich kenne die Räumlichkeiten nicht, in denen sie zukünftig hängen werden, keine privaten jedenfalls – soviel ich weiß, im Foyer des neuen Florence-Nightingale-Centers in Kaiserswerth, in dem Verwaltungs-und Architekturbüros sein sollen. Ein großzügiger Bau, angeblich mit viel Glas und viel Licht von oben … »Schön. Soviel zur Unterbringung der Bilder. Ich kenne von Vince natürlich die Kreuzigung III, sie war ja in allen Medien – aber wie sind I und II?« »Nun ja. Nummer I zeigt Holz oder Holzähnliches. Die ganze Palette holziger Farbtöne von Grau bis Ocker über tiefstes Braunschwarz an balkenartigen gleichlangen, gleichdicken Formen, die wie zufällig, etwa wie bei einem Mikadospiel, übereinander geworfen daliegen. Auf reinweißem Untergrund. Nummer Zwei ist ganz anders, da hat er sozusagen pointilistisch gearbeitet. Thema: Rot. Vom blassesten Rosé bis zum dunkelsten Purpur unterschiedlich geformte Punkte dicht nebeneinander über die ganze Fläche. Keine Hintergrundfarbe sichtbar. Ich würde sagen, ziemlich eindrucksvoll auf die Größe.« »Hm.« In Jakob steigt Ärger auf. »Sehen Sie, ich verkaufe lediglich die Bilder …Wenn ich sie nicht wertschätzen würde – und zwar nicht nur in geschäftlicher Hinsicht – gelänge mir das wohl nicht. Ich selbst male anders, wie Sie wissen.« »Da sind wir beim Punkt. Gut, dass Sie es von sich aus ansprechen. Ich habe lange nichts von Ihnen gesehen. Genau genommen seit einem Jahr. Ihre letzten Arbeiten in der Semester-Ausstellung von Ende Februar 2015, zusammen mit den Objekten von Elisabeth Engelhard, Klasse...