Hesse Achtung Denkfalle!
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-406-62205-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie man sie durchschaut
E-Book, Deutsch, 228 Seiten
ISBN: 978-3-406-62205-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf unser Bauchgefühl ist wenig Verlass. Selbst gute Allgemeinbildung und wissenschaftlicher Sachverstand schützen uns nicht vor schwerwiegenden Denkfehlern. Ehe wir uns versehen, schnappt die Denkfalle zu. Besser, gar nicht erst hineinstolpern. Denn Fehlervermeidung ist lernbar. Der Mathematiker Christian Hesse zeigt, wie. Die Welt, in der wir leben, ist komplex und uns nicht immer wohlgesinnt, zudem ist unser Leben kurz: Wir stehen unter Erfolgs- und Zeitdruck. Deshalb hat die Evolution unser Gehirn mit bestimmten Denkmustern ausgerüstet, die uns dabei helfen, Aufwand und Komplexität zu reduzieren oder aus der Menge der Informationen die relevante auszuwählen. Und in der Tat funktionieren diese Abkürzungsverfahren beim Alltagseinsatz in der Regel recht gut. Doch bei gehobenen Ansprüchen, zum Beispiel in der Wissenschaft, ist Vorsicht geboten. Denkfehler, die besonders subtil sind und so schwer zu durchschauen, dass ihnen sehr viele Menschen erliegen, bezeichnet Hesse als Denkfallen. In sie tappen die meisten Menschen fast zwangsläufig hinein. Sie sind dann oft der Grund für Fehleinschätzungen und Falschentscheidungen aller Art, von Diagnoseirrtümern bis hin zu Unfallauslösern. Es liegt in der Natur von Fallen, dass sie maskiert sind und sich nicht durch Warnzeichen zu erkennen geben. Doch so wie man optische Täuschungen in der Regel durch Messungen aufklärt, lassen sich Denkfallen mit konsequentem logischem Denken umschiffen.
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Fachgebiete
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Naturwissenschaften, Technik, Medizin
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Weitere Infos & Material
I. Paradoxes bei Mittelwerten
1. Wenn der Sieger jeder Teildisziplin nicht der Gesamtsieger ist
Kriminelle (Daten-)Vereinigung
Zahlen und Vergleiche mit Zahlen sind objektiv. Man kann eindeutig sagen, welche von zwei Zahlen – etwa welcher von zwei Prozentsätzen – größer ist oder ob beide gleich sind. Vergleiche werden im täglichen Leben fast pausenlos vorgenommen: Welches von zwei Unternehmen hat höhere Umsätze? In welchem von zwei Ländern ist die Arbeitslosenquote niedriger? Welcher von zwei Sportlern lief schneller, sprang höher, warf weiter? Fug und Unfug der Daten-Vereinigung. Das sind nur einige Streiflichter aus einer ganzen Vielfalt von Vergleichsfällen, denen wir auf Schritt und Tritt begegnen. Und oftmals gibt es zu ein und derselben Fragestellung – etwa der: «Welches ist besser, das herkömmliche Medikament oder ein neu entwickeltes?» – mehr als nur eine Studie, mehr als nur einen Datensatz, mehr als nur ein Ergebnis. Um zu einer Gesamteinschätzung zu gelangen, muss man die Daten in datenanalytisch seriöser Weise vereinigen. Um das letzte Beispiel fortzuspinnen: Angenommen, jede einzelne Studie belegt für sich genommen eindeutig, dass das neue Medikament besser ist als ein altes. Das ist erfreulich: Alle Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung und widersprechen sich nicht. Was aber, wenn bei Zusammenfassung der einzelnen Studienergebnisse sich das gegenteilige Gesamtergebnis einstellt und jetzt das alte (!) Medikament besser ist als das neue? Kann bei so präzisen und objektiven Größen wie Zahlen so etwas Ominöses überhaupt passieren, vorausgesetzt, die Daten werden korrekt zusammengefasst? Und wenn es passieren kann, wäre diese Datendoppeldeutigkeit nicht ein interpretatorisches Fiasko, das einem den Glauben an die Möglichkeit objektiver Datenanalyse eigentlich rauben müsste? Gar den Glauben an die Mathematik? Wir tasten uns an die Antwort auf diese Fragen heran. Ausgangspunkt ist eine leicht überschaubare medizinische Standardsituation, eine konkrete Ausformung des angesprochenen Medikamentenvergleichs. Sie demonstriert, wie uns bisweilen selbst Zahlen blenden können, und zeigt auf, welche Vorsicht bei der Aggregierung von Zahlen geboten ist. Abbildung 5: «Wie hätten Sie’s gern? Mit KristallkugelHokuspokus oder statistischer Wahrscheinlichkeitstheorie?» Cartoon von Sidney Harris. Neugierweckendes. Zwei Allergiemedikamente M1 und M2 werden in den Gebieten A und B einer Stadt getestet. In A, dem Industrieviertel, werden von 16 Patienten, die das Medikament M1 nehmen, 4 gesund, ebenso 11 von 40 Patienten, die Medikament M2 nehmen. In B, dem Nicht-Industrieviertel, werden 29 von 40 Patienten nach Einnahme von M1 und 12 von 16 Patienten nach Einnahme von M2 gesund. Aus diesen Zahlen lassen sich mit einfacher Bruchrechnung die Heilungsquoten errechnen. Die Heilungsquote von M1 im Industrieviertel ist 4/16 = 1/4, also 25 %. Eine von 4 Personen wird von den Allergiesymptomen geheilt. Die Heilungsquote von M2 im Industrieviertel ist 11/40 > 1/4 und damit größer als 25 %. In der Region A ist demnach M2 das wirksamere Medikament. In der Region B verhält es sich ebenfalls so: Die Heilungsquote von M2 ist 12/16 = 3/4, also 75 %, und die Heilungsquote von M1 ist 29/40 < 3/4, also kleiner als 75 %. So weit, so nichts Verwirrendes. Als Ergebnis kann man somit notieren: Die Heilungsquote von Medikament M2 ist in beiden Stadtgebieten größer als die von Medikament M1. Das erfolgreichere Medikament ist M2. Dieser letzte Satz als Fazit scheint sich nicht nur zwanglos, sondern sogar zwingend zu ergeben. Er wirkt ganz selbstverständlich und wie von selbst aufs Papier geschwebt. Wie kann man auch nur einen Hauch von Zweifel hegen, dass es so sein muss. Aber seien wir vorsichtig, geben wir den Zahlen die Ehre und rechnen nach. Was ergibt sich bei einer Zusammenrechnung der Daten aus beiden Gebieten der Stadt? Die Gesamtheilungsquote von M1 ist (4 + 29)/(16 + 40) = 33/56, was größer als 50 % ist. Die Gesamtheilungsquote von M2 ist (11 + 12)/(40 + 16) = 23/56, was kleiner als 50 % ist. Unglaublich! Nach ehrlicher Zusammenfassung der Daten erweist sich überraschenderweise das Medikament M1 gegenüber M2 als das erfolgreichere. Die Rechnungen stimmen übrigens und der Effekt ist real. Es ist kein rechnerischer Taschenspielertrick. Wir erleben ein Paradoxon in Aktion, das quantitativ ungefestigte Naturen leicht aus dem Gleichgewicht bringen kann. Wir sehen ein Parade-Paradigma eines Großparadoxons, das ohne Rest in scheinbar völlige Orientierungslosigkeit eingebettet ist. Charakterisiert es den Zerfall von Wirklichkeit minus Beliebigkeit? Kann es Vergleiche undurchführbar machen? Es ist offensichtlich möglich, lokal überall der Gewinner zu sein und trotzdem global zu verlieren. Die hohe Kunst der Verwirrung mit Zahlen und mit einfachsten Beziehungen wie größer oder kleiner, hier scheint sie bei sich selbst angekommen. Schon bei solchen Elementarobjekten und Einfachoperationen wie Anteilen und deren Zusammenfassung sind handfeste kontraintuitive Überraschungen möglich. Dies ist eine erste Kostprobe des sogenannten Simpson’schen Paradoxons. Die Paradoxie besteht in der Möglichkeit, dass bei einer Zusammenfassung von Daten aus verschiedenen Gruppen zu einer einzigen Gruppe sich die Richtung einer Beziehung umkehrt. Dieses Phänomen gekippter Effekte hat für die Interpretation von Daten ganz erhebliche Konsequenzen. Es führt häufig zu Fehlinterpretationen beziehungsweise wird bei mangelnder Gutwilligkeit absichtlich eingesetzt, um irreführende Aussagen mit Zähldaten zu untermauern. Dann ist es ein Kasus des Lügens mit der Wahrheit. Das obige Beispiel wurde am Reißbrett konstruiert. Das gilt auch für das folgende. Es ist nicht weniger spektakulär. Das Paradoxon in Schorle-Form. Tom und Jerry trinken je zwei Glas Apfelschorle mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen von Wasser und Apfelsaft sowie auch unterschiedlichen Füllmengen. Konkret sind die Daten folgende: Tom Inhalt ml Menge Apfelsaft ml Anteil Apfelsaft Glas 1 300 100 Glas 2 200 150 Gesamt 500 250 Tabelle 1: Füllmengen und Anteile Apfelsaft von Toms Gläsern Jerry Inhalt ml Menge Apfelsaft ml Anteil Apfelsaft Glas 1 250 80 Glas 2 250 180 Gesamt 500 260 Tabelle 2: Füllmengen und Anteile Apfelsaft von Jerrys Gläsern Die Schlussfolgerungen scheinen wieder leicht zu ziehen zu sein: Tom trinkt beide Male einen größeren Anteil an Apfelsaft (Anteil 1/3 gegenüber 8/25 in Glas 1 und Anteil 3/4 gegenüber 18/25 in Glas 2). Doch insgesamt ist es Jerry, der die größere Menge und den größeren Anteil Apfelsaft trinkt (260 ml von 500 ml gegenüber 250 ml von 500 ml). Paradox! Dreht sich Ihnen schon der Kopf? Ein bisschen? Dann versuche ich noch dies: Schulbeispiel. Noch abstruser und in der Realität mit gravierenden Folgen behaftet ist das nun beschriebene Lehrerzimmer-Szenario. Es dreht sich um die Korrektur einer wichtigen MatheKlausur, die nur aus zwei Aufgaben besteht. Das Korrekturergebnis des Erstkorrektors sieht wie folgt aus: Erstkorrektur 1. Aufgabe 2. Aufgabe Gesamtpunktzahl Erreichbare Punktzahl 30 60 90 Erreichte Punktzahl 8 29 37 Anteil in % 26,7 48,3 41,1 Tabelle 3: Erstkorrektur einer Mathe-Klausur Bei der ersten Aufgabe sind 30 Punkte erreichbar, bei der zweiten 60 Punkte. Wenn wir nun annehmen, dass für ein Bestehen der Klausur 40 % der Gesamtpunkte nötig sind, so hat der Schüler mit erreichten 41,1 % diese Hürde so gerade eben genommen. Wie etwa im Abitur üblich, wird jede Arbeit noch von einem Zweitkorrektor korrigiert. Im Fall der vorliegenden Klausur erhöht der Zweitkorrektor wegen einer ihm sinnvoll erscheinenden...