E-Book, Deutsch, 180 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
Wie Sachsen die Welt sehen
E-Book, Deutsch, 180 Seiten, Format (B × H): 120 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-374-05939-3
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Antje Hermenau, die bekannte ehemalige sächsische Grünen-Chefin, erklärt mit Mutterwitz und weltoffenem Patriotismus die sächsische Seele samt den Missverständnissen und ernsthaften Meinungsverschiedenheiten zwischen Ost- und Westdeutschen, Ost- und Westeuropäern. Sie wagt Ausblicke in die Zukunft und liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Bürgerverantwortung. Garantiert unideologisch und ohne Sprachzensur. Ein Buch für Sachsen, vor allem aber auch für Nichtsachsen!
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Vorwort
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an Sachsen, Deutschland und Europa. Exakt in dieser Reihenfolge. Seine Ich- oder Wir-Perspektive speist sich aus der Verarbeitung sehr vieler Gespräche mit ganz verschiedenen sächsischen Bürgerinnen und Bürgern. Uns eint die Wertschätzung einer über Jahrhunderte entwickelten Arbeits- und Lebensweise, die immer den jeweils neuen Bedingungen angepasst wurde. Flexibilität und eine gewisse »Wendigkeit« sind für Sachsen nicht untypisch. Denn wir wollen, dass »es läuft« – auf der Arbeit, in der Familie und in der Freizeit. Dieses grundlegende Prinzip ist uns wichtig und muss als sächsischer Beitrag zur Rettung der Welt genügen. Seit einiger Zeit jedoch läuft es nicht mehr ganz so rund. Nach der erfolgreichen Friedlichen Revolution von 1989, die sehr viel mehr als eine »Wende« war, konnten wir unser Glück kaum fassen: Die Gesinnungsdiktatoren des DDR-Regimes konnten wir unblutig von der Macht entfernen, die Wiedervereinigung war unser Traum. Und sie schien gelungen, auch wenn das erste Jahrzehnt sehr schwer war. Inzwischen jedoch hat sich die Stimmung deutlich eingetrübt. Die Menschen sorgen sich um die Zukunft. Diese Sorge hat vor allem mit der Migrations-, Wirtschafts-, Sozial- und Euro-Politik zu tun. Seit der Finanzmarktkrise 2009 ist das Vertrauen in den »Westen« erschüttert. Die Massenmigration 2015 hat die Erschütterung weiter vertieft. Aber die Globalisten geben sich unbeeindruckt, ja, sie werfen den anderen vor, Hysterie und Panik zu verbreiten. Sie haben gut reden, sitzen sie doch im gemeinsamen Boot erhöht, so dass ihre Füße noch nicht nass werden vom hereinschwappenden Wasser des globalen Ozeans. Sie merken es noch nicht und verstehen deshalb die Klagen aus der Mitte des Bootes nicht, wo man mehr und mehr fürchtet, das Boot könnte über kurz oder lang kentern. So geraten rechts und links massiv durcheinander, weil der alte Klassenkampf des letzten Jahrhunderts keine Rolle mehr auf dem globalen Ozean des 21. Jahrhunderts spielt. Was allerdings inzwischen eine ganz wichtige Rolle spielt, ist eine Art kultureller Klassenkampf zwischen den einen, die die Probleme der Welt universalistisch »von oben« lösen wollen, und den anderen, die auf partikulare Lösungsstrategien »von unten« setzen. Die einen gehen davon aus, dass ihre Lebensform die Zukunft der Welt ist, was viele bloß noch nicht verstanden hätten, die anderen glauben, dass unterschiedliche Lebens- und Arbeitskulturen, unterschiedliche Staatsformen und Einkommensstrukturen und widerstrebende Interessenlagen bestehen bleiben werden. Die einen wollen globale Zusammenarbeit von oben verordnen, die anderen gehen davon aus, dass überregionale und internationale Zusammenarbeit von unten aufgebaut werden muss. In gewisser Weise stehen hier Utopisten gegen Realisten. Vor allem aber beschwert uns Sachsen das unabweisbare Gefühl, über die Probleme, die wir sehen, nicht offen reden zu dürfen. Das kennen wir. Was wir glaubten, hinter uns gelassen zu haben, geschieht nun von Neuem. Wieder ist eine Situation entstanden, in der fast jeder hinter vorgehaltener Hand irgendwann flüstert: »Das sage ich aber nur unter uns.« Erneut gibt es eine private und eine öffentliche Meinung, plakativ zur Schau gestellte Überzeugungen und beredtes Schweigen. Ist es dem Bürgerengagement zuträglich, wenn wieder taktisches Sprechen allenthalben dem offenen Wort entgegensteht? Ist da nicht etwas faul im Staate? Ist es wirklich verwunderlich, dass sich der Unmut über diese Situation wenig differenziert auf der Straße äußert? Wir müssen uns seit Jahren fragen lassen, warum wir so »hasserfüllt« seien. Wir hätten doch jetzt so schöne Städte und Straßen. Uns gehe es besser als je zuvor. Unsere eigene Kanzlerin hat da den Takt mit vorgegeben. Dabei versuchen wir die ganze Zeit ein ernstes Gespräch darüber zu beginnen, was uns irritiert und was wir als Bedrohung oder Herausforderung für alle sehen. Das Ausmaß an Nichtverstehen und Nichtverstehenwollen, das dem Osten und speziell den Sachsen vom linksliberalen Teil der Medien und der Politik entgegenschlägt, ist erschreckend. Erst kürzlich rief eine aus »dem Westen« stammende kirchliche Würdenträgerin dazu auf, den Ostdeutschen mehr Zeit für das Einüben von Demokratie zu geben, schließlich wären in der frühen – also demokratisch noch ungeübten – Bundesrepublik die Rechtsextremen auch stark gewesen. So reißt man »wohlmeinend« neu auseinander, was schon fast zusammengewachsen war. Wer beispielsweise die Flüchtlings- und Migrationspolitik der Berliner Regierung seit 2015 ablehnt, ist in aller Regel kein Rechtsextremer. Meist sogar versteht er sich als guter Demokrat und hält ganz im Gegenteil das diesbezügliche Regierungshandeln für ausgesprochen undemokratisch. Das Netteste ist noch, dass wir als ein wenig zurückgeblieben betrachtet werden – als Menschen, die die neue Zeit noch nicht verstanden hätten und sich in ihrer Heimatverbundenheit einigelten. Von »der neuen Zeit« und »dem neuen Menschen« wollen wir in der Tat nichts mehr wissen. Das kennen wir schon. Schließlich zog »die neue Zeit« schon im Sozialismus mit uns. Solchen fruchtlosen Zukunftsutopien, die vor allem dazu dienen, das bestehende System und die ideologische Deutungshoheit seiner Profiteure aufrechtzuerhalten, begegnen wir skeptisch. Das Volk zieht dabei immer den Kürzeren. Für unsere Region wollen wir beibehalten, was wir als gut und richtig ansehen, indem wir es an moderne Gegebenheiten anpassen und Arbeitsmigranten wie Flüchtlingen als lebenswertes Modell präsentieren. Hinterwäldler sind wir deshalb nicht. Wir waren immer begierig, von fremden Ländern und den neuesten Moden zu hören. Da sind Sachsen neugierig. Und was zu uns passt, wird »eingesachst«. Man lernt ja nie aus. Das ist wahre Weltoffenheit. Viele von uns kennen inzwischen die halbe oder gar die ganze Welt. Ich selbst war mit einem US-Amerikaner verheiratet, habe eine chinesische Schwägerin, betrachte die Nachkommen eines syrischen Kurden als meine Familie, und eine meiner besten Freundinnen stammt aus dem Jemen. Sie alle leben hier. Sie arbeiten hier. Sie zahlen hier ihre Steuern und gehören zu meiner Familie und meinem Freundeskreis. Das ist nicht die Frage. Wer etwas anderes behauptet, will ablenken von den Problemen, die es wirklich gibt. Die große Welt ist allerdings nur das Eine. Das Interesse an unseren näher gelegenen Nachbarn ist wieder gewachsen. Westeuropa ist offenbar nicht, wie wir lange glaubten, bruchlos unsere Zukunft. Es hat selbst erhebliche Probleme, weiß nicht so recht, was seine Gegenwart ist und seine Zukunft sein soll. So entdecken wir wieder, wie sich sächsische Ansichten stark mit denen anderer Mitteleuropäer überschneiden, die in Polen, in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn, im Baltikum oder in Österreich leben. Auch mit Bayern und selbst mit der Schweiz verbindet uns manches. Da kommt vielfach wieder zusammen, was über Jahrhunderte zusammengehörte und nur im letzten Jahrhundert getrennt war: Mitteleuropa. Man weiß, dass man Partner braucht, wenn man ein kleines Land ist und nicht am Meer liegt. Sachsen, zumindest Ostsachsen, ist den vier Visegrád-Ländern (Slowakei, Polen, Tschechien, Ungarn) näher, als viele in Deutschland – und auch schon im Raum Leipzig – erwarten. Dafür gibt es historische Gründe. Dieses alte Land hat eine über etwa 1000 Jahre hinweg eigenständige Geschichte. Es ist über Jahrhunderte gewachsen. Seine kulturhistorische Einbettung in das östliche Mitteleuropa ist stark. Auch das begründet Eigenarten. Viele Sachsen sind wie andere Mitteleuropäer unzufrieden mit wesentlichen Entscheidungen in Berlin und Brüssel. Sie sehen durch sie ihre Lebens-, Wert- und Denkvorstellungen gefährdet, wenn es um Sozial- und Rechtsstaat, Nation und Demokratie geht. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, als endlich die Tatsachen nüchtern anzusprechen und den offenen Diskurs zu wagen. Die Politik sollte das erst recht tun. Die Bürger sind mündig. Sie haben ein Recht darauf, ernst genommen zu werden. Man sollte ihnen Vertrauen schenken. Sachsen sind mehrheitlich nicht konservativ in einem altbundesrepublikanischen Sinn. Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau oder die Akzeptanz von Homosexuellen sind eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch als solcher zählt. Gerade darum aber haben sehr viele Sachsen wenig Verständnis für ideologische Gleichmacherei, Sprechverbote und Sprachvorschriften. Neue gesellschaftspolitische Großversuche im Rahmen der Globalisierung werden nach den Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus weithin abgelehnt. Menschen sind keine Labortiere oder Versuchsanordnungen. Was viele Sachsen verbindet und zusammenhält, hat nichts mit ethnischer Homogenität zu tun, sondern mit einer gemeinsamen Lebens- und Arbeitsweise, die stark prägt. Darum fangen viele an zu reden und beharren – gelegentlich etwas störrisch, manchmal sogar unhöflich – darauf, die Entwicklungen in unserem gemeinsamen Land zur Diskussion zu stellen. Sie werden sich den Mund nicht verbieten lassen. Sie wollen die strittigen Fragen ausdiskutieren, mit Mehrheit oder im Konsens entscheiden und diese Entscheidungen politisch auch stringent umsetzen. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass die »in Deutschland gelebte Demokratie« im Osten auf weniger Akzeptanz stößt als im Westen. Das bedeutet nicht, dass der skeptische Teil der Bevölkerung lieber ein autokratisches Regime hätte. Es zeigt erst einmal nur, dass diese Leute sich und ihre Interessen zu wenig vertreten sehen. Viele blicken neidisch auf die Schweiz. Und natürlich haben viele Ältere noch die SED-Doktrin im Kopf, der zufolge westliche Demokratien nur »Scheindemokratien« seien, die den internationalen Großkonzernen zur...