E-Book, Deutsch, 162 Seiten
ISBN: 978-3-7568-2489-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Uwe Hermann, Jahrgang 61, lebt in Wagenfeld, einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Er veröffentlicht seit mehr als dreißig Jahren Kurzgeschichten und Romane. Zahlreiche seiner Arbeiten wurden für Literaturpreise nominiert. Homepage: https://kurzegeschichten.com Instagram: @uwehermann_autor Twitter: @UHermann
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Donnerstag, 04.08.2022, Bonn, Deutschland.
Ottmar Siebert wusste, dass sie ihn jagten. Er hatte gegen die Regeln der Familie verstoßen und musste nun dafür bezahlen. Niemand widersetzte sich Wilhelmine Großenberg. Sie leitete Deutschlands größtes Transportunternehmen in der dritten Generation und war es gewohnt, dass sie alles bekam, was sie wollte. Sie war eine Spinne, die jeden Faden ihres Netzes kontrollierte. Wer einmal in ihre Fänge geriet, entkam ihnen nie wieder. Als Ottmar begriff, in was er hineingeraten war, hatte er sich abgesetzt. Und nun waren sie ihm auf den Fersen, um ein Exempel an ihn zu statuieren. Jeder sollte sehen, dass man die Familie Großenberg nicht ungestraft hinterging. Zwei Männer kamen die Treppe der Unterführung herauf und betraten den Bahnsteig. Beide trugen dunkle Anzüge, schwarze Schuhe und hielten Aktenkoffer in den Händen. Das Jackett des Größeren spannte sich über seiner Brust und Ottmar dachte sofort, dass er darunter sicher eine Waffe trug. Die Männer blieben stehen, warfen einen Blick auf die Anzeigetafel der Züge und näherten sich dann der Bank, auf der er saß. Ottmar spürte wieder die lähmende Angst, die ihn seit dem Moment, in dem er aus dem Toilettenfenster geklettert war, nie ganz verlassen hatte. Er wusste nicht, wer alles für die Familie arbeitete. Vielleicht gehörten die beiden auch dazu. Waren sie seinetwegen hier? Die Großenbergs waren reich und ihr Einfluss erstreckte sich bis in die Reihen der Politik. Vielleicht suchte sogar die Polizei nach ihm. Ottmar wusste es nicht. Er ballte die Fäuste, dass sie schmerzten. Wie hatte er nur an diese Familie geraten können? Die Männer kamen näher und schauten in seine Richtung. Ottmar wollte aufstehen und davonlaufen, aber die Angst lähmte ihn. Außerdem wäre er sowieso keine zehn Meter weit gekommen. Sportliche Betätigung war etwas, dem er allenfalls an der Spielkonsole nachging. Hinzu kam, dass er zu viel rauchte und gar nicht die Ausdauer für einen Sprint hatte, aber Himmel, er hatte doch nicht damit gerechnet, dass er einmal würde fliehen müssen. Der größere der beiden Männer schaute ihm direkt in die Augen. Ottmar hatte das Gefühl, als würde die Luft gefrieren. Gänsehaut kroch seine nackten Arme und Beine hinauf. Doch sie gingen vorüber, ohne sich auf ihn zu stürzen. Er hörte, wie der Kleinere eine spöttische Bemerkung über Ottmars Kleidung machte. Ottmar wusste, dass er in seinem orangefarbenen T-Shirt, den weißen, abgelaufenen Turnschuhen und den kurzen, roten Hosen, die so gar nicht zu dem Wetter passen wollten, lächerlich aussah, aber er hatte nicht die Zeit gehabt, um sich andere Kleidung zu besorgen. Inzwischen bereute er, dass er seinen teuren, maßangefertigten Anzug zurückgelassen hatte, doch er hatte nichts mitnehmen wollen, das ihn an diese Familie erinnerte. Was für ein Outfit für eine Flucht, dachte er in einem Anflug von Selbstironie. Die Anspannung verließ Ottmar auch dann nicht, als auf dem angrenzenden Bahnsteig eine Regionalbahn einfuhr und die Männer mit ihr verschwanden. Eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel rollte vom Wind getrieben an ihm vorbei. Ottmar griff automatisch zu seiner Gesäßtasche, nur um sich daran zu erinnern, dass er seine Zigaretten in dem Anzug gelassen hatte. Endlich sprang der Text auf der Anzeigetafel um und kündigte den Zug an, auf den er wartete. Kurz darauf meldete eine Durchsage seine Einfahrt. Längst hatte sich der Bahnsteig mit Menschen gefüllt. Ottmar trat bis an die Sicherheitsmarkierung auf dem Boden des Bahnsteiges vor und lehnte sich nach vorne, um besser sehen zu können. Von rechts näherte sich in noch weiter Ferne eine Diesellok. Als er nach links schaute, hatte er das Gefühl, als stieße ihn jemand auf die Gleise. Da stand eine Frau mit aufwändig hochgesteckten, braunen Haaren in einem Brautkleid und zwei Männer in dunklen Anzügen, die sich suchend umsahen. Er zuckte zurück. Konstanze hatte ihn gefunden! Wie war das möglich? Dann wurde ihm klar, dass sie alle Bus- und Bahnhöfe nach ihn absuchen würden. Wie hätte er ohne Auto und mit nur ein paar Euros in der Tasche auch sonst fliehen sollen? Nur per Bahn oder Bus konnte er eine möglichst große Entfernung zwischen sich und der Hochzeitsgesellschaft bringen. Langsam beugte er sich erneut vor. Konstanze und ihre Brüder waren in der Menge verschwunden. Hatten sie ihn gesehen? Er wusste es nicht. Die Zeit, bis der Zug endlich anhielt und sich die Türen öffneten, dehnte sich wie Kaugummi. Dann drängte sich Ottmar an den aussteigenden Passagieren vorbei ins Innere und lief durch die Wagons Richtung Zugende. Wenn Konstanze ihn bemerkt hatte, würden sie im vorderen Teil des Zuges einsteigen. Vor ihm öffnete sich die Tür zu einer Toilette und ein übergewichtiger Mann zwängte sich heraus. Er murmelte eine kaum hörbare Entschuldigung, als er Ottmar mit seiner Körperfülle in einen der Sitze drückte und auf den Ausgang zu eilte. Ottmar fasste eine Entscheidung und betrat die winzige WC-Kabine. Er schloss die Tür und setzte sich zitternd auf den Toilettensitz. Einen Augenblick später spürte er, wie der Zug anfuhr. Er dachte an Konstanze und die schöne Zeit, die sie anfangs gehabt hatten. Damals hatte er noch geglaubt, sie sei eine gewöhnliche Studentin, mit Geldsorgen, so wie er. Sie hatten gemeinsam an der Humboldt-Universität in Berlin einige Vorlesungen besucht und waren sich dort nähergekommen. Konstanze war jetzt nicht die bewundernswerteste Blume im Garten gewesen, aber sie hatte liebe Augen und so hatten sie sich regelmäßig getroffen. Damals ahnte er noch nichts von ihrer herrschsüchtigen Familie. Die lernte er erst nach ihrer Verlobung kennen. Von diesem Augenblick an wurde alles anders. Er schien in einem Topf mit Honig gefallen zu sein. Süß und verführerisch und doch so klebrig, dass man ihm nicht mehr entkommen konnte. Als er begriff, dass er irgendwann darin untergehen würde, war es bereits zu spät. Konstanzes Großmutter Wilhelmine bestimmte längst sein Leben. Er hatte sich so zu benehmen, wie man es von einem Großenberg erwartete und diese neuen Regeln unterschieden sich radikal von seinen vorhergehenden. Jede seiner Entscheidungen wurde infrage gestellt und korrigiert. Für alles gab es einen minutiös geplanten Ablauf. Selbst seinen Junggesellenabschied organisierten sie für ihn. Einflussreiche Geschäftsleute, Politiker und Freunde der Familie wurden eingeladen, nur seine Freunde nicht. Jeder aus der Familie trug ein lilafarbenes T-Shirt mit einer Nummer auf dem Rücken und der Aufschrift Familie Großenberg. Und Konstanze stand hinter allem, was ihre Großmutter befahl. Ottmar erkannte sie nicht wieder. Es schien, als hätte er mit der Verlobung einen Schalter bei ihr umgelegt. Die liebe, nette Studentin mit den gütigen Augen war zu einem Klon ihrer Großmutter mutiert. Bevor Ottmar den Rest seines Lebens eingesperrt in einem goldenen Käfig verbringen musste, war er am Tag der Hochzeit aus dem Toilettenfenster des Standesamtes geflohen. Und nun jagte ihn die komplette Hochzeitsgesellschaft. Ein energisches Klopfen unterbrach Ottmars Erinnerungen. »Besetzt!«, rief er. Worauf eine mürrische Stimme mit: »Mir egal, Fahrkartenkontrolle!«, antwortete. Ottmar öffnete die Tür einen Spaltbreit, um sich zu vergewissern, dass niemand anderes als der Schaffner davor stand. Dann schob er seinen Fahrschein durch den Spalt. »Das hier ist eine Toilette und kein regulärer Sitzplatz«, antwortete der Schaffner, während er mit seinem Lesegerät den QR-Code auf dem Ticket scannte. »Ich habe Magen- und Darmgrippe«, log Ottmar. »Dann gehören Sie ins Bett und nicht in die Bahn.« »Ich fahre nur bis Königswinter. Sind wir pünktlich dort?« »Pünktlich? Eher nicht. Zurzeit haben wir fünfundzwanzig Minuten Verspätung.« Ottmar öffnete die Tür, bis er das Gesicht des Schaffners sehen konnte. »Aber dann verpasse ich meine Fahrgelegenheit.« Der Mann zuckte teilnahmslos die Schultern. »Wenn Sie es eilig haben, hätten Sie das Auto nehmen müssen.« Er gab Ottmar das Ticket zurück und ging weiter zum nächsten Wagen. Ottmar schloss die Tür und ließ sich wieder auf dem Toilettensitz nieder. Den Rest der Fahrt würde er sich nicht von der Stelle rühren, egal ob seine Verlobte, der Schaffner oder sonst jemand an die Tür klopfte. Und dann würde er Deutschland verlassen, bevor man ihn schnappte und zum Ja-Wort zwang. Ein Studienfreund hatte versprochen, ihn außer Landes zu bringen. Er hatte sie beide für ein Doktoranden- und Studentenprogramm an der Uni Köln angemeldet. Es ging nach Auvergne, in Frankreich, in ein Camp ohne Handyempfang, Strom oder sonstigen Komfort. Hier würde Konstanze ihn niemals finden. Obwohl der Zug mit Verspätung in den Bahnhof von Königswinter einfuhr, schaffte Ottmar es rechtzeitig zum Treffpunkt an die...