Kluge Texte über die wichtigsten Fragen unserer Zeit
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-451-83151-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
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Antisemitismus
Ruth Weiss Mein Glückwunsch zum Verlagsjubiläum einer Zeit des Aufbruchs, der die Welt bis heute revolutioniert und Juden Hoffnung gab. Ich hoffe, dass der Verlag in seinen nächsten 225 Jahren die weiteren notwendigen Aufbrüche publizistisch erfolgreich begleitet – zu einer friedlichen Weltordnung, zur Überwindung der Dominanz in Afrika, zur Bewahrung der gefährdeten Schöpfung und zur Toleranz zwischen den Religionen. Die Parole der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und der Anspruch auf umfassende, unteilbare und universale Menschenrechte wurden Grundsteine der Demokratie. Aber autokratische Herrscher und Menschenrechtsverstöße blieben. Dazu kam der nationalistische Chauvinismus. Der jahrhundertelange religiös motivierte Antijudaismus mutierte zum Antisemitismus. Erfolgreiche Judenemanzipation führte zu Konkurrenzangst und Neid. Der Vorwurf blieb: angeblich jüdische »Eigenschaften« wie Machtsucht, Reichtum, Verantwortung für Bolschewismus und ungebremsten Kapitalismus. Dies traf selbst meine unwichtige Familie: 1492 Vertreibung aus Spanien. Die Aufklärung erlaubte den Zugang zu bislang verbotenen deutschen Städten, sodass ein Bruder meines Vaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der nahen Stadt deren größtes Warenhaus gründete und mein Vater eine Stadterziehung erhielt. Die 1871 im Kaiserreich gewährten Bürgerrechte wurden in den 1930er Jahren, während des »Dritten Reichs«, zurückgenommen, die Teilnahme der Juden nicht nur am wirtschaftlichen Leben eingeschränkt. Meine Kleinfamilie emigrierte deshalb nach Südafrika. Die Vernichtung eines Drittels des Weltjudentums führte zum UN-Beschluss der Teilung Palästinas und der Gründung Israels. Nach 1945 war der Antisemitismus erst versteckt, heute steht er wieder mitten in der politischen Arena. Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen nehmen zu. Absurde Vorwürfe grassieren gegen die Rothschilds und George Soros; Juden seien schuldig an der Migration in die USA, um Weiße zu einer Minderheit zu machen. Hass kennt keine Logik. Antisemitismus bleibt anscheinend ewig. Dem Jubiläumsbuch widme ich deswegen Auszüge aus Band 3 meiner fiktiven Löw-Familiensaga vom Mittelalter bis heute. Darin erlebt das Familienmitglied Orpa die Zeit der Französischen Revolution und Napoleons I. mit Hoffnungen, die bald vergingen. Neue Zeiten
Am 7. September 1791 befand sich Orpa Löw in Paris. In der Kühle des beginnenden Herbstes stand sie inmitten kreischender Frauen und aufgebrachter Männer vor der Nationalversammlung. Durch die offenen Türen konnte sie sehen, wie im Saal die Menschen zusammengedrängt standen, und erhaschte Fetzen der Debatte. Sie vernahm leidenschaftliche Plädoyers, die abwechselnd über gierige Judenwucherer schimpften, dann wieder wurden die jüdischen Werte gepriesen, die das Christentum geprägt und dadurch die Menschheit bereichert hätten. Immer mehr Menschen drängten auf den Platz. Der Druck verstärkte sich, sodass noch einige Zuschauer in den Saal gelassen wurden und Orpa sich unversehens in der hintersten Reihe des Zuschauerraums wiederfand. Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie dort gestanden hatte. Sie wusste nur, dass die Mehrheit für den Gesetzesvorschlag gestimmt hatte, hörte den plötzlichen Jubel, sah, wie Kopfbedeckungen und Papiere in die Luft geschleudert wurden und wie einem bärtigen alten Mann mit grauen Schläfenlocken die Tränen über das zerfurchte Gesicht rannen. 1797 reiste Orpa ins Rheinland. Am 11. September erreichte sie Bonn. Unwissentlich hatte sie einen guten Tag für ihre Ankunft ausgesucht. Als sich die Kutsche dem Tor des Ghettos näherte, musste diese anhalten, denn dort hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden. Junge Männer schwangen Äxte gegen das Tor, andere rissen mit den bloßen Händen Backsteine aus der Mauer. Orpa sprang aus der Kutsche, keiner beachtete sie. Gespannt bejubelten die Ghettobewohner ihre symbolische Befreiung. Schon vier Tage später musste Orpa feststellen, dass zwar die Ghettomauer durchbrochen war, die Vorurteile aber weiter bestanden. Sie wollte einen Spaziergang am Rheinufer unternehmen, aber sie kam nicht weiter als bis zum offenen Tor. Dort sah sie eine Gruppe mehrerer Frauen, die dabei waren, die Steine, die noch dort aufgeschichtet waren, beiseitezuräumen. Orpa blieb stehen, grüßte und rief: »Die Steine – sie sind Wegweiser zur Zukunft!« Die Antwort war Gelächter. Die jüngste der Frauen sagte spöttisch: »Nebbich!« Orpa kniff die Augen zusammen. Nebbich – unwichtig? »Warum nebbich?« »Weil sich nichts geändert hat. Keiner in der Stadt hat eine freie Wohnung. Nicht für uns! Nicht mal mein Tate hat es geschafft, er wollte für Jonas und mich ein Haus kaufen. Aber – es blieb bei dem Wunsch.« Orpa war enttäuscht. Die Zukunft musste also noch etwas warten. Die Zeit, in der Juden sich wirklich frei bewegen konnten, die war noch nicht gekommen. Orpa hatte sich auch öfter mit dem Rabbiner unterhalten. Sie lernte den frommen Mann mit dem krummen Rücken und dem scharfen Verstand schätzen, auch wenn sie nicht immer seine Meinung teilte. Vor allem nicht seine Meinung über Voltaire. »Er und die anderen Aufklärer haben eine neue Art der Ablehnung unseres Volkes erfunden«, sagte er zu Orpa. »Jetzt sind wir nicht mehr Jesusmörder, sondern ein ›subversives Element in der Gesellschaft‹.« Der Rabbiner meinte, Voltaire habe viel Einfluss, andere redeten nach, was er gesagt oder geschrieben hatte, auch in deutschen Ländern. Die Worte klangen Orpa lange in den Ohren: »Voltaires sogenannte Vorbehalte gegen Juden kommen nun zu den alten wirtschaftlichen Vorwürfen hinzu. Juden sind Betrüger, Diebe und Wucherer. Das ist einfach nicht auszulöschen.« Sie diskutierten lange, bis sie sich einigten, sich nicht einigen zu können. Orpa glaubte, der Rabbi sei nicht gewohnt, mit einer Frau zu debattieren. Als sich Napoleon mit seiner Armee auf der Expedition in Ägypten befand und die Festung Akkon belagerte, erschien eine erstaunliche Meldung in einer Pariser Zeitung: Napoleon habe eine Proklamation erlassen, in der er die Juden in Asien und Afrika aufrief, unter seinem Banner Jerusalem zurückzuerobern! Eine schwindelerregende Vorstellung, wie Orpa fand. Aber irgendwie passend für den kleinen General. Es schien, als ob er Juden ein gesegnetes neues Jahrhundert versprach. Der Wiener Kongress
Der 65-jährige Bankier Abel Löw lud Orpa im Jahr 1814 ein, in seine Heimatstadt Wien zu kommen, wo die europäischen Mächte nach der Verbannung Napoleons auf Elba einen Kongress planten. Orpa sollte während des Kongresses in seinem Hause die Gastgeberin sein. Er brauchte eine Frau mit Flair und Verstand für die politischen Ereignisse. Orpa blühte unter der Verantwortung auf. Im September 1814 hatten die Verhandlungen der starken Vier begonnen, also der Engländer, Österreicher, Preußen und Russen. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen diesen Mächten wurden andere europäische Staaten nach Wien eingeladen, um die Landkarte Europas und die Zukunft des Kontinents neu zu gestalten. Ab Mai 1814, dem Monat, in dem Napoleon nach Elba verbannt wurde, spielte Wien den großzügigen Gastgeber für die Herrscher Europas und deren Gefolge. Es war, als ob die dreiundzwanzig Jahre Krieg nun in wenigen Monaten vergessen gemacht werden sollten durch Prunk, Spaß und laute Lebenslust. Das Bankhaus hatte Informanten auf Elba, die Abel meldeten, Napoleon plane, die Insel zu verlassen, um die Franzosen zum Widerstand gegen die Alliierten aufzurufen. Die Nachricht hatte Abel, wie die meisten vertraulichen Mitteilungen, durch Brieftaubenpost erreicht. Die wichtigste Zentralstelle des Informationsdienstes der Bank befand sich auf dem Dach des Palais Löw unter Aufsicht eines ehemaligen Soldaten, der sich auf Zucht und Abrichtung von Tauben verstand. Abel Löw berief sofort eine Sitzung der in Wien anwesenden Familienangehörigen ein, alle Mitglieder des Aufsichtsrats ihrer Bank. Abel wusste, dass er als guter Österreicher Fürst Klemens von Metternich, der den Kaiser auf dem Kongress vertrat, über die Mitteilung aus Elba benachrichtigen musste. Der Fürst würde sich bei einem prunkvollen Maskenball einer englischen Herzogin einfinden. Als Abel das erwähnte, räusperte sich Maurice Lowe von der Londoner Filiale, auch Orpa hatte sofort gespannt auf den jungen Engländer geblickt. Abel zog fragend seine Augenbrauen hoch. »Maurice wird heute Abend auf diesem Empfang sein!«, sagte Orpa. Wenige Stunden später machte sich Maurice auf den Weg zum Haus der Herzogin. Maurice war aufgeregt, weil er sich wie ein eleganter Adliger verkleiden durfte. Er mischte sich unter die bunt gekleideten Gäste, um einen Kunden der Bank, Sir Guy Montford, zu suchen, der im Dienst des Herzogs von Wellington stand. Er hatte ihm eine Einladung zum Ball der Herzogin zukommen lassen. Auf einem Maskenball war jeder gleich, hatte er leichthin gesagt, und beide wussten, was er meinte: Juden sind mit Maske nicht zu erkennen. Maurice erspähte das Kostüm eines arabischen Scheichs unter den Tänzern und folgte ihm. Sir Guy hatte ihm verraten, dass er sich als Araber verkleiden würde. Als er Maurice bemerkte, fragte er ärgerlich, was er wolle. »Entschuldigen Sie – Sir – mein Herr –, aber es ist wichtig. Eine Mitteilung für den Herzog! Sie darf auch dem Fürsten Metternich nicht vorenthalten bleiben. Napoleon, gnädigster Herr. Er wird in zwei Tagen Elba verlassen. Er hat eine Verschwörung zustande gebracht.« »Unmöglich!« Entgeistert blickte Sir...