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E-Book, Deutsch, 444 Seiten

Hensel Sonnentau

Ein Fall für Brecht und Velasco
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-627-02212-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Fall für Brecht und Velasco

E-Book, Deutsch, 444 Seiten

ISBN: 978-3-627-02212-9
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Haiti, einige Jahre nach dem Erdbeben von 2010. Armut, Gewalt, Cholera. Hunderte Millionen Dollar Spendengelder. Ein mysteriöser Autounfall in den Bergen. Und eine junge Frau auf der Suche nach der Wahrheit.
Jooly wollte ausbrechen aus ihrer satten Existenz in Deutschland. Sie wollte ein Leben mit Sinn, Teil werden einer besseren Welt. Gestorben ist sie in den Trümmern eines Geländewagens, in den schroffen Bergen Haitis. Alles sieht nach einem Unfall aus. Doch warum scheint niemand in Haiti sie gekannt zu haben? Warum gibt es keine Informationen über die letzten Wochen ihres Lebens? Und wer hat ihre Leiche verschwinden lassen?
Maria Brecht, nach abgebrochenem Studium nun Barkeeperin in Berlin, fliegt in die Hauptstadt Port-au-Prince, auf der Suche nach der Wahrheit über ihre Freundin. Sie dringt ein ins Milieu der Entwicklungshilfe, in eine Welt von Elend und schönem Schein, Gewalt und Prasserei, Zärtlichkeit und Zynismus. Sie begegnet Rafael, einem jungen Fotografen aus Bremen. Gemeinsam brechen sie auf in die Berge. Und geraten auf die Spur eines Arztes, dessen Hilfsprojekt tödlich schief gelaufen ist.

Sonnentau ist ein fesselnder, genau recherchierter Thriller über die Wahrheit hinter den Bildern von Armut und Krieg. Über Wohltäter und ihre Opfer, über Mitleid, Gier und die Sehnsucht nach einer besseren Welt.

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»Möchtest du beten?« Mads schüttelte den Kopf. »Möchtest du schreien? Gott verfluchen?« Mads wollte nicht beten. Er wollte nicht schreien. Er wollte nur, dass er nicht hier saß. Dass er nichts fühlte. Dass das alles nie passiert war. »Es gibt Tage«, sagte der Pastor, »da können wir nicht beten. Wir möchten schreien: Wo war Gott? Warum hat er das Schreckliche nicht verhindert? Warum hat er die Unschuldigen nicht geschützt? Du hast gekämpft, mein Junge. Bis zum Schluss. Warum hat Gott dir nicht beigestanden?« Faulige Luft wehte durch die zersplitterten Kirchenfenster. Draußen hustete ein Kind. »Du kannst Gott nicht anklagen«, sagte der Pastor. »Also klagst du dich an. Du hast zu schnell gehandelt. Oder zu langsam. Du wolltest zu viel. Oder zu wenig. Wer kann das jetzt noch wissen? Weil Gott über dich nicht den Stab bricht, brichst du ihn selbst. Du verdammst dich. Du wünschst dich in die tiefsten Tiefen der Hölle.« Das stimmte. Mads war bereit für die Hölle. Er war bereit, für seine Schuld zu zahlen. Wenn es einen Gott gab: Dann sollte er ihn jetzt von dieser Erde verstoßen! Er war nicht sicher, woher der Gestank von Kot und Erbrochenem kam. Ob er von draußen hereinwehte oder von den Kirchenbänken aufstieg. Vielleicht hing der Gestank auch in seinem Hemd, das er seit vier Tagen nicht gewechselt hatte. In den Poren seiner Haut, den Haaren seiner Nase. Der Mond schien durch einen Riss in der Mauer, genau hinter dem Kreuz. Das Taufbecken warf einen langen Schatten. Wieder hörte er das Kind husten. »Du warst guten Willens, mein Junge.« »Das reicht nicht.« »Guter Wille muss reichen! Immer! Der Mensch besitzt keinen größeren Schatz als den Willen zum Guten! Die Sehnsucht nach dem Guten! Der Wille zum Guten ist die Sehnsucht nach Gott! Er heiligt unser Tun!« Mads fühlte die große, warme Hand des Pastors, die sich auf seine Schulter legte. Draußen hörte er das Kind schluchzen, unterbrochen von Husten. »Warum weint das Kind?«, fragte Mads. »Es hat seine Eltern verloren. Soll ich es herbringen?« »Der Husten klingt nicht gut.« »Möchtest du es untersuchen?« »Lieber nicht.« »Das Kind hat sonst niemanden.« Mads hörte die schweren Schritte des Pastors auf dem Zementboden. Hörte das Aufschieben einer Tür, die schief in den Angeln hing. Die Schritte kamen zurück, begleitet vom Tapsen kleiner, nackter Füße. Mads hob den Kopf. Ein Mädchen stand vor ihm, in einem eingerissenen, ärmellosen Kleid unbestimmter Farbe, das kaum die mageren Schenkel bedeckte. Vier oder fünf Jahre, hätte Mads noch vor wenigen Wochen vermutet. Inzwischen wusste er, was chronische Mangelernährung in einem Kinderkörper anrichtet. Das Mädchen war mindestens sieben. »Wie heißt du?«, fragte Mads. »Marie-Lourdes«, flüsterte das Mädchen. Er fühlte ihm die Stirn: Fieber. Er tastete die Lymphknoten am Hals und in den Achselhöhlen ab: geschwollen. Er fühlte den Puls: über einhundertvierzig und schwach. Die Atmung war schnell, flach, er hörte leises Rasseln. »Ich tippe auf Lungenentzündung«, sagte Mads. »Aber es kann auch Tuberkulose sein.« Das Mädchen hustete. »Sie muss an den Tropf«, sagte Mads. »Sie braucht Antibiotika und Paracetamol.« »Wir müssen sehen, was möglich ist«, sagte der Pastor. »Vor allem muss sie trinken. Sie braucht viel sauberes Wasser.« »Ich möchte dir etwas zeigen.« »Ihr Bauch ist gebläht. Sie muss –« »Komm, mein Junge.« Er fühlte die großen Hände, die ihn hochzogen. Ihm schwindelte, der Pastor stützte ihn. Führte ihn den Gang hinunter, weg von dem Mädchen. »Aber –« »Das Mädchen wird Hilfe bekommen.« Der Pastor stieg eine steile, aus Brettern genagelte Stiege hoch. Mads folgte ihm, sah den ausgefransten Saum der schwarzen Hose, die Schuhe, die staubig waren und neue Sohlen brauchten. Oben stieß der Pastor die Luke auf. Mads sah Sterne und schwarzen Himmel. Am Himmel kreiste ein Hubschrauber. »Du hast es gleich geschafft, mein Junge.« Sie kletterten aufs Dach. Die Luft war schwül, stank nach Rauch und Verwesung. Aber sie war nicht so stickig wie in der Kirche. Sie standen zwischen Kabeln, zerbrochenen Plastikstühlen, dem Motor eines Generators. Der Pastor zündete eine Zigarette an und hielt Mads die Packung hin. Mads schüttelte den Kopf. Der Pastor stieß den Rauch durch Mund und Nase. Sie blickten über Wellblechhütten und ausgetrocknete Abwasserkanäle. Hier und da brannte eine Kerosinlampe. Drüben in Port-au-Prince loderten mehrere Feuer. Autos standen im langen Stau auf der Route Soleil. »Sie reden von achtzigtausend Toten«, sagte der Pastor. »Ich dachte fünfzigtausend?« »Es werden von Stunde zu Stunde mehr. Morgen früh werden es einhunderttausend sein. Übermorgen einhundertfünfzigtausend. Wer kann das wissen?« »Wenn erst die Seuchen ausbrechen …« »Überall liegen Leichen unter den Trümmern. Keiner kann sie bergen. Die Straßen sind verschüttet, zu den Überlebenden kommt keine Hilfe. Alle haben Angst vor neuen Beben. Vielleicht steht uns das Schlimmste noch bevor.« In der Cité Soleil hatte das Erdbeben nur wenig zerstören können. Die Menschen hatten ihre Bretter- und Wellblechhütten in wenigen Stunden wieder aufgebaut. Mads wusste nur von einigen Dutzend Toten und Verletzten, vor allem wegen Glassplittern und den scharfen Kanten der Bleche. Aber es gab nur wenige Nahrungsmittel. Vor allem fehlte Trinkwasser. »Gott wollte uns strafen«, sagte der Pastor und sog an seiner Zigarette. »Für unsere Gewalt. Unsere Korruption. Unsere Verderbtheit.« »Vater –« »Ich weiß, du glaubst nicht an Gott. Und Gott zwingt dich nicht zum Glauben. Du bist nach Haiti gekommen, um Gutes zu tun. Um den Ärmsten zu helfen, die sich nicht helfen können. Gott, das Schicksal, nenne es, wie du willst – es hat dich hart geprüft. Wozu? Damit du aufgibst? Deine Koffer packst und nach Hause fliegst? Nach Europa, wo die Menschen es weich und bequem haben?« Ja, das wollte Mads. Er wollte zurückfliegen. Er hatte kein Recht, noch länger hier zu sein. Nicht nach dem Schrecklichen, das unter diesem Kirchendach passiert war. »Du hast in die Kameras gesprochen«, rief der Pastor. »Du hast die Menschen wachgerüttelt. Jede Minute, hast du gerufen, stirbt in Haiti ein Kind! Deine Stimme hat gebebt vor Zorn. Die Kameraleute, die Reporter, die Menschen in Europa vor den Fernsehern – sie haben dir geglaubt.« Mads sah wieder die Kameras, die ihn umringten. Die Reporter in ihren schusssicheren Westen, als sei die Cité Soleil ein Kriegsgebiet. Seit zwei Tagen hatte er die Kranken und Verletzten ohne Strom behandelt, Tag und Nacht, im Schein von Kerzen und Kerosinlampen. Unter den Presseleuten hatte sich die Nachricht von dem jungen Dänen verbreitet, der Menschen in der Cité Soleil behandelte, wo sich sonst kein Helfer hintraute. Sie waren eingefallen wie hungrige Ratten. Plötzlich hatte es Strom gegeben, für Kameras, Scheinwerfer, Mikrofone. Überall waren eisgekühlte Cola- und Wasserflaschen aufgetaucht. Es hatte Mads Mühe gekostet, sich zu beherrschen. Den Reportern zu erklären, dass sie hier nicht auf einem Abenteuerspielplatz waren, sondern in der Cité Soleil. Dem am dichtesten besiedelten Slum der westlichen Welt. Dass die Patienten in der Kirche keine Statisten waren, sondern echte Slumbewohner. Für die es keinen Strom gab, kein Wasser, nur Müll, Exkremente und Moskitos. Dass diese Menschen deshalb, im Falle eines Ausbruchs von Seuchen, zu den ersten Opfern gehören würden. Und dass er, Mads Lerby, angehender Tropenmediziner aus Esbjerg, sich durch die verwüstete Stadt hierhergekämpft hatte, mit einem Wagen voller Impfstoffe. Um so viele Menschen zu impfen, wie er konnte. Ja, die Cité Soleil war für ihre Gewalt berüchtigt. Ja, aus einem zerstörten Gefängnis waren Bandenchefs ausgebrochen. Ja, es gab Gewalt und Plünderungen. Aber diese Kirche schützte ihn, Vater Boisseau schützte ihn, er tat, was er für diese Menschen tun musste. Und jetzt sollten sie ihn verdammt noch mal arbeiten lassen! »In dir, mein Junge«, sagte der Pastor, »glüht die Kraft des Guten.« Sie hatten seinen Wutausbruch gesendet. In Dänemark und noch ein paar anderen Ländern. Vielleicht sendeten sie ihn immer noch. Wahrscheinlich zeigten sie längst neue Szenen des Grauens, Material gab es genug. Niemand hatte Mads Lerbys Kampf der letzten vierundzwanzig Stunden gefilmt. Gegen Nebenwirkungen, die er sich in dieser Heftigkeit nicht erklären konnte: Krämpfe, Atemnot, Erbrechen. Er hatte gesagt, sie würden bald abklingen. Sie seien nichts gegen die Qualen, die ihnen drohten, wenn Seuchen ausbrachen; Cholera, Typhus, Diphterie, alles war möglich und eine Frage von Tagen. Sie hatten ihm geglaubt. Er hatte weitergeimpft. Hatte gegen das Misstrauen gekämpft, die eigene Erschöpfung, gegen Angst und Entsetzen. Was hätte er tun sollen, als die ersten Menschen starben? Aufgeben? Er hatte keine Kinder mehr geimpft, keine Alten, nur Starke und Gesunde. Aber auch sie waren kollabiert. Die sich erholt hatten, lagen immer noch schwach in ihren Hütten. Das letzte Opfer, eine Mutter von vier Kindern, war vor drei Stunden auf der Kirchenbank gestorben. Allergischer Schock? Überlastung des Immunsystems? Mads wusste es nicht. Er wusste nur, er durfte hier nicht bleiben. »Morgen fliege ich zurück«, sagte...


Kai Hensel lebt als mehrfach ausgezeichneter Autor von Drehbüchern, Theaterstücken und Reise-reportagen in Berlin. 2012 erschien sein Romandebüt "Das Perseus-Protokoll" in der Frankfurter Verlagsanstalt. Für "Sonnentau", seinen zweiten Roman um die Barkeeperin und Ermittlerin Maria Brecht, recherchierte er vier Monate in Mittelamerika und Haiti.



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