Henry Wie ein Sommertag
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13198-2
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-641-13198-2
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claire und Luca haben sich einen Traum erfüllt: Gemeinsam führen sie ein charmantes Hafenhotel in Cornwall. Als ein langes sonniges Wochenende bevorsteht, ahnt Claire noch nicht, dass es ihr ganzes Leben verändern wird. Denn nicht nur die Urlauber bringen ihre Geheimnisse und Sehnsüchte mit. Auch für Claire nimmt dieser Sommer mit der Ankunft eines völlig unerwarteten Gastes eine schicksalhafte Wendung …
Die perfekte Strandlektüre – zum Eintauchen und Wohlfühlen!
Veronica Henry arbeitete für die BBC und als Drehbuchautorin für zahlreiche Fernsehproduktionen, bevor sie sich dem Schreiben von Romanen zuwandte. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Devon, England.
Weitere Infos & Material
Eins
Blöde Möwen. Und dieser Trottel Jeff. Wieso konnte er den Müll nicht ordentlich in die Tonne stopfen? Sie hatten ihm hundertmal gesagt, dass die Möwen die Tüte zerfledderten, wenn er sie oben auf die Tonne legte, aber er hörte einfach nicht zu. Natürlich war die Tüte aufgerissen und der Müll über die zwei Quadratmeter Rasen verteilt, die sich mehr schlecht als recht als Vorgarten bezeichnen ließen. Der Rasen wurde auch nie gemäht, sodass das Gras wuchs, bis die Halme ermattet herunterhingen. Angelica trommelte mit der Faust gegen das Badezimmerfenster, doch die fünf Möwen ließen sich nicht beeindrucken, sondern labten sich unbeirrt an den Resten aus einem Pappkarton von Kentucky Fried Chicken, den jemand gestern Abend mitgebracht haben musste, obwohl der Himmel wusste, von wo – Angelica war sich ziemlich sicher, dass es im Umkreis von achtzig Kilometern kein KFC gab. Das war der Preis, den man bezahlte, wenn man in Pennfleet wohnte. Schöne Aussichten, ja, aber nichts von dem, was normale Zwanzigjährige zum Überleben brauchten, wie Topshop, McDoof oder auch nur ein Kino.
Wenn man Pennfleet erwähnte, dachten die meisten an einen romantischen kleinen Hafen, in dem Segelboote auf den Wellen schaukelten, an malerische Sträßchen mit putzigen, bonbonfarbigen Häuschen. Der Ort war Gegenstand zahlloser klischeehafter Gemälde, die Wände von Kneipen und Cafés zierten, wo sie zu saftigen Preisen zum Verkauf angeboten wurden. Die örtlichen Läden offerierten zurückhaltend modische Freizeitkleidung – neckische Kleidchen, weite Sweatshirts in Puderfarben und gemusterte Gummistiefel –, Henkeltassen mit vermeintlich geistreichen Sprüchen und handgemachten Modeschmuck – alles zu völlig überzogenen Preisen. Ganze Familien trampelten im Pulk durch die Straßen und tobten sich auf ihrem für den Sommer auserkorenen Spielplatz aus, ohne einen einzigen Gedanken an die Einheimischen zu verschwenden, die ihnen ihr Frühstück und ihre Cocktails servierten und den Ort über die langen Wintermonate hinweg in Schuss hielten. Im Sommer konnte man sich vor lauter Männern in khakifarbenen Shorts und Freizeitschuhen und wohlriechenden jungen Müttern in Caprihosen und Chanel-Sonnenbrillen kaum noch bewegen.
Die meisten Leute, die in Pennfleet Urlaub machten, wussten nicht, dass man, wenn man hinter dem Museum links abbog und der Straße an der kleinen Feuerwehr vorbei und über den Hügel in die Acland Avenue folgte, in eine heruntergekommene Reihenhaussiedlung gelangte, die ganz und gar nicht in das Bild des maritimen Idylls passte, das zu ihren Füßen lag. Das war die Schattenseite, hier wohnten diejenigen Einwohner von Pennfleet, die nicht mit einer Aussicht auf die grünen Flussufer und das Meer gesegnet waren und deren einzige Hoffnung auf ein finanzielles Auskommen darin bestand, während der Urlaubssaison Betten zu beziehen und Klos zu schrubben, wenn sie nicht zu den Glücklichen gehörten, die im Industriegebiet auf dem Weg nach St. Austell einen Job in der Pie-Fabrik hatten.
Und selbst die Chancen, Betten zu beziehen und Klos zu schrubben, standen immer schlechter. Um die Kosten zu minimieren, verrichteten viele Hotel- und Restaurantbetreiber mittlerweile die Drecksarbeit selbst, und viele Pensionsbesitzer vermieteten jetzt anstelle von Zimmern mit Frühstück komplett eingerichtete Ferienwohnungen für Selbstversorger. Die Zeiten waren hart. Und obwohl es überall hieß, die Leute würden wegen der Wirtschaftskrise in diesem Jahr ihren Urlaub im Land verbringen, gab es noch nicht viele Anmeldungen. Außer in den Luxushotels, die bereits für den ganzen Sommer ausgebucht waren. Und dafür war Angelica dankbar. Sie hatte vor fünf Jahren im Townhouse by the Sea angefangen, an Wochenenden und in den Ferien als Zimmermädchen zu jobben. Nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte, hatte man ihr eine volle Stelle als Empfangsdame angeboten, und sie hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Und vor drei Wochen war sie zur Leiterin des Zimmerservice befördert worden.
Sie hob ihr Kostüm vom Boden auf, wo sie es am Abend zuvor fallen gelassen hatte. Der schwarze Leinenrock war ziemlich zerknittert, die Jacke etwas weniger. Sie versuchte, den Stoff glatt zu streichen, aber die Falten waren hartnäckig. Sie musste die Sachen bügeln. Claire würde ausflippen, wenn sie nicht wie aus dem Ei gepellt zur Arbeit erschien. Im Townhouse by the Sea ging Stil vor Zweckmäßigkeit. Alles war pflegeintensiv, von den ägyptischen Baumwolllaken bis zu all dem Glas und Chrom in den Bädern, das mit weichen Tüchern poliert werden musste. Da wurde keine Schlamperei geduldet.
In ihrer neuen Stellung brauchte sie zum Glück nicht mehr die Knochenarbeit zu machen, zumindest solange nicht zu viele Mitarbeiter fehlten. Anfangs war Angelica beglückt gewesen über die Beförderung – bis sie festgestellt hatte, dass keine nennenswerte Gehaltserhöhung damit einherging.
»Wir haben im Moment einfach keinen Spielraum«, hatte Claire ihr mit großen Augen erklärt. »Aber wenn die Saison gut läuft, bekommst du einen Bonus.«
Und wenn nicht? Angelica, die in Pennfleet geboren und aufgewachsen war, wusste nur zu gut, dass ein verregneter Sommer jedem Gastronomiebetrieb an der Küste den Todesstoß versetzen konnte. Und bei den Preisen, die sie im Townhouse verlangten, würde das Hotel sich nicht mehr lange halten, davon war Angelica überzeugt. Luxus gut und schön, aber über zweihundert Pfund pro Nacht? Wenn das Wetter nicht mitspielte, konnten sie von Glück reden, wenn sie bis zum Ende des Sommers nicht pleite waren.
Was eine Katastrophe wäre. Nicht zuletzt für sie. Denn Angelica war endlich dort, wo sie schon immer hingewollt hatte. Sie genoss jede Minute, die sie im Hotel verbrachte, und sie war begierig, so viel wie möglich zu lernen. Jeder Job, den sie bis dahin gehabt hatte, war nichts weiter gewesen als ein Mittel zum Zweck, eine Möglichkeit, irgendwie Geld zu verdienen, aber die Arbeit im Hotel war etwas anderes. Wenn sie schon bis ans Ende ihres Lebens in diesem Kaff hängen bleiben würde – und im Moment sah es ganz danach aus –, dann am liebsten im Townhouse.
Auf jeden Fall stand das Hotel in krassem Gegensatz zu ihrer Wohnung. Lustlos sah sie sich im Bad um. Die rosafarbenen Kacheln waren uralt und von Rissen durchzogen, in denen sich der Schmutz sammelte. Jeff hatte eine Art Schlauch am Wasserhahn befestigt, damit sie duschen konnten, aber das Ding war nicht lang genug und taugte nichts. Angelica benutzte das Bad bei sich zu Hause kaum noch, sondern duschte in ihrer Pause heimlich im Hotel, nachdem sie im Plan nachgesehen hatte, welche Zimmer gerade gesäubert werden mussten. Sie genoss den kräftigen, heißen Wasserstrahl, den Kräuterduft des bereitliegenden Duschgels, die flauschigen, weißen Badetücher …
Wie schön es wäre, immer so leben zu können. Denn dass es Leute gab, die das taten, wusste sie inzwischen. Nicht alle saßen in einer Sackgasse fest. Zumindest hatte sie es sich nicht selbst zuzuschreiben, dass sie festsaß. Sie musste an ihre dummen, naiven Freundinnen denken, die sich selbst in ihre Zwangslage gebracht hatten, indem sie alles auf die Babykarte gesetzt hatten. Bei dem Gedanken daran konnte sie nur verächtlich schnauben. Was hatte man davon, sich ein Kind aufzuhalsen? Sie hatte die schäbigen Wohnungen gesehen, die man ihnen zugewiesen hatte, wusste, mit wie wenig Geld sie über die Runden kommen mussten. Das war doch keine Zukunft.
Natürlich stand es ihr frei, jederzeit wegzugehen. Aber wie konnte sie das tun? So egoistisch war sie nicht. Diesen Wesenszug hatte ihre Mutter ihr zum Glück nicht vererbt.
Sie betrachtete sich im Spiegel des Medizinschränkchens, das über dem Waschbecken hing. Milchweiße Haut, Augen, die vielleicht nicht besonders groß, aber dafür leuchtend blau waren, seidiges schwarzes Haar, schulterlang mit einem stumpfen Pony, breiter Mund und volle Lippen. Ungeschminkt war sie eher unscheinbar, was ihr bei der Arbeit im Hotel gelegen kam, weil sie einfach nicht auffiel. Aber abends konnte sie mithilfe von schwarzem Eyeliner, falschen Wimpern und knallrotem Lippenstift ein Gesicht zaubern, das niemand so schnell vergaß. Es war eine Schande, dass es niemanden gab, den sie damit beeindrucken konnte.
Na ja, bis auf einen, aber der war absolut tabu. Über ihn dachte sie möglichst nicht allzu lange nach.
Ihre Sachen unter den Arm geklemmt, eilte sie nach unten in die Küche. Sie zog das Bügelbrett aus der Lücke zwischen Kühlschrank und Wand und klappte es geräuschvoll auf, ohne sich darum zu scheren, dass Jeff gerade versuchte, die Verkehrsnachrichten im Radio zu hören. Als Kurier musste er wissen, ob sich bereits ferienbedingte Staus gebildet hatten.
»Schenkst du mir eine Tasse Tee ein, Jeff?«, flötete sie, während sie das Bügeleisen einstöpselte und auf Höchststufe einstellte. Das mit dem Müll würde sie lieber nicht erwähnen. Wenn sie zugab, dass sie die Sauerei bemerkt hatte, würde sie sich verpflichtet fühlen, sie zu beseitigen, und dann würde sie zu spät zur Arbeit kommen. Wenn ihre Mutter irgendwann aufzustehen geruhte, würde sie schon selbst sehen, was draußen los war. Den Stress mit Jeff überließ Angelica ihr gern. Schließlich hatte Trudy nicht viel anderes zu tun.
Jeff langte, ohne mit der Wimper zu zucken, nach...