E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Henke 31 Jahre hinter Gittern
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95894-262-2
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-95894-262-2
Verlag: Omnino Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Knast hat noch niemandem geholfen, oder doch? Was kann und soll der deutsche Strafvollzug leisten? In seinem Buch teilt der erfahrene Sozialpädagoge und Jurist Norbert Henke seine einzigartigen Einblicke in den Alltag deutscher Gefängnisse. Nach über drei Jahrzehnten im Justizvollzug und als „Gefängnisdirektor“ wollte Henke mit dem Ruhestand sein Wissen und seine Erfahrungen nicht einfach „abschließen“.
Das Buch bietet mehr als bloße Sachinformationen. Es enthält fesselnde Erzählungen, berührende Anekdoten und historische Hintergründe über die Justiz und den Strafvollzugsalltag. Henke eröffnet uns eine Welt, die bisher kaum bekannt war. Dabei zeigt er nicht nur die Chancen auf, Menschen zu verändern, sondern beleuchtet auch die Unzulänglichkeiten und Herausforderungen des Systems „Gefängnis“.
Mit überzeugender Stimme appelliert Henke an uns alle, den Strafvollzug nicht länger als reine Abstellkammer für Gescheiterte zu betrachten. Er ruft dazu auf, die Gefangenen als Menschen ernst zu nehmen und das Ziel der Resozialisierung in den Mittelpunkt zu stellen. Denn eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist nicht nur im Interesse der Gefangenen, sondern auch der beste Schutz für potenzielle Opfer.
Norbert Henke ist damit ein eindringliches Buch gelungen, das nicht nur den Gefängnisalltag eines ehemaligen Anstaltsleiters beleuchtet, sondern zugleich ein Spiegelbild unserer heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1: Der letzte Diezer Ausbruch und die Sicherheit der Anstalt
Zur Einstimmung soll mit einem Ereignis begonnen werden, das in den Justizvollzugsanstalten selten geworden ist: ein Ausbruch aus dem geschlossenen Vollzug. Der einzige, den ich erlebt habe, und der letzte aus der JVA Diez. Verbesserte Sicherheitstechnik, Gitter aus Manganstahl vor den Zellenfenstern und mit dreifachem Sicherheitsdraht gekrönte Gefängnismauern sollen verhindern, dass Gefangene mit einer altertümlichen Feile mühevoll Gitterstäbe durchsägen, sich mit zusammengeknüpften Bettlaken auf den Gefängnishof herunterlassen und womöglich noch frech winkend über die Mauern klettern. In Spielfilmen über die vergitterte unbekannte Welt ist dies ein Spannungsmoment, das gerne genutzt wird, um den Zuschauer gut zu unterhalten. 1993 an einem schönen Frühsommertag gegen 16.20 Uhr. Die Alarmsirene der JVA Diez schrillte über das Anstaltsgelände. Ein Gefangener fehlte. „Ein bisschen Schwund ist immer“, bemerkte einer der zur zentralen Sammelstelle der Anstalt geeilten Beamten. Da ich als Mitglied der Anstaltsleitung schon vor Ort war, sagte niemand etwas zu dieser Bemerkung. Doch besaß sie einen wahren Kern. Einen Tag später sagte ein sehr erfahrener Bediensteter, der die Sicherheit der Anstalt durchaus im Auge hatte: „Vielleicht ist es für das Personal ja ganz gut, wenn einem Gefangenen einmal die Flucht gelingt. So gibt es keine Geiselnahme. Das wäre viel schlimmer.“ Er dachte offenbar an Vorfälle in anderen Justizvollzugsanstalten, bei denen Bedienstete zum Teil schwer verletzt worden waren.3 Nahezu zeitgleich mit der Auslösung des Alarmes meldete sich ein Kollege in der Anstalt, der bereits in den verdienten Feierabend gestartet war. Von seinem Wohnhaus aus hatte er die Flucht beobachtet, jedenfalls den letzten Teil. Die für die zahlreichen Beamten errichteten Dienstwohnungshäuschen wurden 1912, zeitgleich mit dem Preußischen Zentralgefängnis Freiendiez, der heutigen Justizvollzugsanstalt Diez, errichtet. Die Gebäude sind mit dekorativem Schiefer verkleidet. Jedem Grundstück ist ein kleines Gartengelände zugeordnet. Fast eine Idylle, wäre da nicht der ständige Blick auf die Gefängnismauern. Vielleicht ist es auch so zu erklären, dass selten ein JVA-Beamter straffällig wird. Die Häuser stehen unter Denkmalschutz, anders als der nach einem Ausbruch gefährdete Anstaltsleiter, dessen Stuhl in solchen Fällen bedenklich ins Wackeln gerät. Der Mitarbeiter beobachtete, wie der Gefangene sich mit einem Seil geradezu klassisch von der Anstaltsmauer herunterließ und einen lang gezogenen Sprint startete. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen aus Ex-Jugoslawien stammenden Inhaftierten, Ende 20 und recht sportlich. Dem Gefangenen war es gelungen, nach Arbeitsende in den Werkhallen zu verbleiben. Wie immer erhielten die Gefangenen an der Außentür des Betriebes ihren zum Arbeitsbeginn eingesammelten Arbeitsausweis zurück. Sind sie ausgegeben, weiß der Betriebsbeamte, dass alle den Arbeitsbereich verlassen haben. Zumindest geht er dann davon aus. Der Ausbrecher hatte zwar seinen Arbeitsausweis erhalten, schlüpfte jedoch an dem offensichtlich abgelenkten Mitarbeiter vorbei zurück in die Halle. Der Gefangene hatte damals eine knappe Stunde bis zur nächsten Vollzähligkeitszählung zur Verfügung. Die Zeit nutzte der gut vorbereitete Ausbrecher. Er verschaffte sich Zugang zu einem Trennschneider und einer Zange. Außerdem hatte er bereits ein Seil mit Leinen von einer der vielen Wäschespinnen geflochten, die damals in den Arbeitshallen hergestellt wurden und viele private Hausgärten mehr oder weniger zierten. Am Ende des Seils hatte der handwerklich nicht ungeschickte Gefangene eine ankerartige Vorrichtung befestigt. So ausgestattet gelangte er über einen Lagerraum der Halle an die Außenwand des Gebäudes, das an das große Sportgelände der Anstalt grenzte. Mit dem Trennschneider sägte er das Gitter eines Fensters durch und sprang vom Fenster auf das Sportgelände, das zu diesem Zeitpunkt nicht überwacht war, da zur maßgeblichen Zeit hier kein Sport getrieben wurde. Dort, wo die Außenmauer der Werkhalle mit der Außenmauer des Anstaltsgeländes einen spitzen Winkel bildete, warf er den Wurfanker mit dem Kletterseil über die mehr als fünf Meter hohe Mauer, wo es sich in der Mauerkrone hinter dem Stacheldraht verhakte. Der Ausbrecher konnte den Mauerwinkel wie einen Kamin nutzen, indem er sich mit den Beinen an den beiden Mauerseiten abstemmte und gleichzeitig am Seil hochziehend an die Mauerkrone kletterte. Dort schnitt er mit der Zange den Stacheldraht durch, kletterte auf die Mauerkrone und ließ sich mit dem Seil an der anderen Mauerseite herunter. Ein Beamter des Gefängnisses, der in einem der unmittelbar an die Außenmauer grenzenden Häuser wohnte und bereits seine dienstfreie Zeit genoss, bemerkte den Ausbrecher und fasste den Vorsatz, dem Fluchtversuch ein Ende zu setzen. So eilte der Mitarbeiter, der noch seine Pantoffeln trug, Anfang 40 und mit einem leicht überdurchschnittlichen Body-Mass-Index ausgestattet war, dem Gefangenen nach. Ein bisschen hatte es etwas von einer Pflichtübung, da dem Mitarbeiter durchaus bewusst war, dass er bei dem Lauf nur den zweiten Platz belegen würde. Er beendete seine sportliche Aktivität und informierte die Anstalt, nicht ohne rechtfertigend sein ungeeignetes Schuhwerk zu erwähnen, das er für seine Niederlage im Rennen verantwortlich machte. Der Strafvollzug wird in den Augen der Bevölkerung und damit auch der Politiker, die ja auf die Stimmen der Bevölkerung angewiesen sind, mit Wohlwollen betrachtet, sofern dort nichts Schlimmes geschieht. Als eher unschön wird ein Ausbruch bewertet. Dort, wo dies geschehen ist, scheint die Welt hinter Gittern nicht mehr in Ordnung. Der Strafvollzug hat dann kläglich versagt. So die Meinung der Öffentlichkeit. Ein Ausbruch wird als Justizskandal begriffen. Hat doch ein nicht geringer Teil der Bevölkerung wenig Verständnis dafür, dass tatsächlich ein Gefangener die hohen, mit Stacheldraht versehenen Anstaltsmauern überwinden kann. Wenn die Welt vor den Mauern schon nicht in Ordnung ist, muss sie doch wenigstens dahinter funktionieren, ist die Erwartung. Manche gehen in einem irrealen Optimismus von einer geradezu klösterlichen Ordnung aus, in der die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und vor allem Gehorsam vermeintlich strikt befolgt werden. Da man sich gut informiert glaubt, weiß man, dass es keine heile Welt hinter Mauern gibt. Dass man dennoch überzogene und irreale Erwartungen an die Gefängnisse äußert, entspricht wohl dem menschlichen Bedürfnis, einen scheinbar greifbaren Ansatzpunkt für Kritik an den Schwächen und Mängeln des Staates zu besitzen. Die jeweilige Opposition im Landtag bewaffnet sich nach einem solchen Vorfall und verlangt regelmäßig nach Konsequenzen. Getreu dem Motto, dass der Fisch vom Kopf aus stinkt, soll ein Verantwortlicher in die Wüste geschickt werden. Dies betrifft selten den Justizminister, sondern vielmehr den Anstaltsleiter, obwohl dieser zumeist noch unsportlicher ist als die meisten seiner Mitarbeiter und bei einer Nacheile zweifelsohne auch das Nachsehen gehabt hätte. Der Minister, der in Mainz seinen Platz hat, hätte zwar auch nicht die Möglichkeit gehabt, den Flüchtenden nachzurennen. Er trägt aber Mitschuld an dem Skandal, weil er einen Anstaltsleiter eingesetzt hat, der weder schnell rennen kann noch seine Anstalt so organisiert hat, dass ein Ausbruch ausgeschlossen ist. Gelingt ein Ausbruch aus dem geschlossenen Bereich, werden oftmals von der Ferne verallgemeinernde Schlüsse gezogen und man kommt zum Ergebnis, dass die Anstalt nicht sicher genug ist. 1993 hat eine Expertenkommission formuliert, was unter Sicherheit im Strafvollzug zu verstehen ist.4 Danach soll die Sicherheit gewährleisten, dass die Allgemeinheit, die Bediensteten und die Gefangenen keinen Schaden nehmen. Man unterscheidet zwischen der inneren und der äußeren Sicherheit. Die äußere Sicherheit umfasst die Verhinderung von Gefährdungen der Allgemeinheit, Fluchtversuchen von innen und Fluchthilfe von außen, das Einschleusen unerlaubter Gegenstände und Stoffe, wie unter anderem Betäubungsmittel, Waffen, Briefe, Werkzeuge, verbotene Kontaktaufnahme mit der Außenwelt und Abwehr terroristischer oder sonstiger Angriffe und Sabotageakte.5 Bei der inneren Sicherheit geht es insbesondere um den sicheren Verschluss der Gefangenen in den Hafträumen, die Überwachung der Gefangenen, die Verhinderung von kriminellen subkulturellen Strukturen, Erpressung und Unterdrückung von Gefangenen, die Vermeidung von Gefährdungen der Bediensteten und die Aufrechterhaltung geordneter organisatorischer Abläufe.6 Auf der Basis des von der Expertenkommission entwickelten Sicherheitsverständnisses gibt es vier Bausteine, die das Fundament dieser äußeren und inneren Sicherheit bilden.7 Hierzu gehören die instrumentelle Sicherheit, die bauliche und technische Vorkehrungen wie Mauern, Wachtürme, Zäune, Videoanlagen umfasst. Das Personal, das die Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen und zu kontrollieren hat, ist wesentlicher Aspekt bei diesem Teilbereich der Sicherheit. Ein zweiter...