Ein österreichisches Sittenbild
E-Book, Deutsch, 332 Seiten
ISBN: 978-3-7562-9758-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sonja Henisch, Schriftstellerin und bild. Künstlerin, lebt und arbeitet in Wien- Mitglied des österreichischen PEN-Club, Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift Pappelblatt. Veröffentlichte Romane: Die Wogen der Drina, Theodora. Veröffentliche Lyrikband: Magie der Spirale
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Die Sirene plärrt ihren schwirrenden, auf und nieder schmetternden Ton durch das Tal. Dichter, weißer Rauch verhüllt jeden Anhaltspunkt, jede Ecke und Kante, jeden Durchgang, jedes Fensterbrett und auch den Handlauf der Stiege der kleinen Schule. Er beißt zwar nicht in den Augen und brennt nicht in den Lungen, wie der Rauch eines richtigen Brandes. Unangenehm ist er trotzdem. Diese Simulation gehört zu der Feuerprobe, die mein Vater, der Feuerwehrhauptmann des Ortes gemeinsam mit dem Direktor, den Lehrern der Schule und den Schülern abhält. Dass die Klassentüre der ersten Klasse geöffnet wird, kann ich an den Stimmen erkennen. Frau Moser, die Klassenlehrerin hat in den letzten Tagen mit den Erstklässlern immer wieder dafür geübt. Die Kleinen stellen sich in der Zweierreihe an und müssen sich dann so die Hände reichen, dass eine lange Kette mit allen Kindern zustande kommt. Jetzt sollen sie das im weißen, undurchsichtigen Rauch machen und die Stiegen nach unten gehen. Die gegenüberliegende Klasse ist auch schon abmarschbereit. Ich kann die Stimme von Frau Auer genau erkennen. Dahinter erklingen die sonoren Worte des Schulleiters: „Na, was ist? Doris, dann Susi! Los geht’s! Und Kinder: Leise und vorsichtig! Schritt für Schritt!“ Ich, stehe noch immer bei der Türe vor dem Lehrerzimmer, bin unsichtbar in der Unsichtbarkeit, habe den Nebel mit Hilfe meines Vaters erzeugt und beobachte hier den weiteren Ablauf der Dinge. Ich kann mehr fühlen als erkennen, schemenhaft erfasse ich, wie sich die Kinder langsam, Schritt für Schritt zur Treppe heran tasten, ihren Klassenlehrerinnen nach folgen und merke, wie sich ihre zerfließenden Silhouetten bald im Weiß auflösen. Gelegentlich dringt ein kurzer Schrei oder ein „Pass auf!“, an mein Ohr. Als die Klasse des Schulleiters los zieht, mischt sich der Nebel mit dem Geräusch eines anhaltenden Tumults, von gegenseitigem Anrempeln und Stoßen, vielleicht auch gelegentlichem Zwicken und sonstigen üblen Ausdrucksformen des unleidlichen Miteinanders. Ebenerdig gibt es hier noch eine Klasse, das sind die Großen, die im letzten Jahr die Schulküche benützen. Deshalb liegt der Klassenraum auch direkt neben der Küche. Diese Kinder hatten, nach Anweisung, das Schulgebäude zuerst verlassen. Die Stimmen und Geräusche sind leise geworden, klingen jetzt von sehr fern. Vermutlich haben alle das Gebäude verlassen, ohne, dass jemand gestürzt ist. Jetzt ist es an mir, einen Klassenraum wieder zu betreten, um ein Fenster zu öffnen. So hat es mein Vater angeordnet. Mit der Drehleiter soll ich, zum Gaudium der Zuseher, aus dem Gebäude gerettet werden. Es ist sozusagen die Belohnungsshow für die Kinder, die zwar gerettet, aber ohne Mantel im Freien vor der Schule stehen und der Dinge harren, die noch oder nicht kommen. Ich fühle, dass es noch nicht an der Zeit ist und öffne die Türe des Lehrerzimmers. Eigentlich ist es nur ein schmaler Raum mit Kästen an der einen und Tischen an der anderen Seite. Auf den Tischen stehen ein Kopier- und ein Schneidegerät. Dahinter an der Wand hinter den Tischen gibt es eine Türe, unbeachtet zwar, fast unsichtbar, aber vorhanden. Es ist eine Metalltür, mit Wandfarbe in einem beigen Farbton. Über dem Tisch steckt der Schlüssel. Ich drehe nach rechts, die Tür springt auf. Mit Bedacht ziehe ich den Schlüssel ab und stecke ihn in meine Hosentasche. Dann steige ich durch die kleine Tür in den nächsten Raum, ziehe die Metalltür an den Rahmen heran und schiebe von innen den Riegel ins Schloss. Ein staubiger Dachboden nimmt mich in Empfang. Draußen, vor dem Schulgebäude warten die Kinder auf dem kleinen Platz. Vor jeder Gruppe steht die Klassenlehrerin wie eine Glucke. Nur bei den Viertklässlern ist niemand. Der Schulleiter Hannes Wildhas, ein passionierter Jäger, steht drüben beim Feuerwehrhauptmann. Seine Schüler sind sich mehr oder weniger selbst überlassen. Weil ihnen fad ist, versuchen sie sich gegenseitig auf die Zehen zu treten, was sehr bald in ein tumultartiges Geschrei ausartet, welches die drei Lehrerinnen mit mehr oder weniger pädagogischen Geschick zu dämpfen versuchen. Das Feuerwehrauto mit dem Hebekran steht neben der Figur des Heiligen Nepomuk. Die Männer gestikulieren. Schulleiter Wildhas möchte unbedingt, dass der im Haus verbliebene Schüler mit dem Hebekran für die Show des Tages gerettet wird. Weil aber das Fenster der vierten Klasse noch nicht geöffnet ist, versucht Viktor Althauser, mein Vater, die Zeit hinaus zu zögern. Er hat keine große Lust, die mit weißem Rauch gefüllten Räume zu betreten. Er wartet, blickt auf die Armbanduhr, zieht seine Jacke zu Recht und wird ungeduldig. , Wo der Rotzbengel so lange bleibt?’, fragt er sich. Es war ausgemacht, dass Daniel sofort, wenn die Kinder das Haus verlassen haben, ein Fenster der oberen Klasse öffnet. Die Fenster sind aber alle zu. , Vergessen wird er doch nicht haben?’, denkt Althauser weiter, nimmt den Stahlhelm vom Kopf und kratzt sich den Schädel hinter dem rechten Ohr. Seine Haare wirken wie immer schmierig und dünn. Schließlich ruft er dem Kollegen der Feuerwehr ein paar unverständliche Worte zu und stapft in das Schulgebäude. „Daniel! Daniel!“, ruft er, so laut er kann. Keine Antwort. Althauser nimmt immer zwei Schritte und rennt durch die Nebelwand die Stiegen bis zum ersten Stockwerk hinauf. Wieder ruft er und wieder kommt kein ersehntes Geräusch, kein „Papa, hier bin ich!“ Er öffnet die Klassentüre, tappt zum ersten Fenster, reißt beide Fensterflügel auf, dann das nächste Fenster, bis alle geöffnet sind und der Rauch durch die herein strömende Luft dünner und dünner wird. Althauser schreit auf den Platz hinunter, dass er Daniel noch nicht gefunden hat. Die unten können es nicht glauben. Althauser rennt zurück, öffnet die weiteren Klassen, ruft, öffnet Fenster, sucht den Buben in den Toiletten, kommt zurück, weiß nicht mehr wo er suchen soll. Steif steigt er die Stufen hinunter, sucht den Sohn im Kanzleiraum, in der Schulküche, im Umkleideraum und im Turnsaal. Zuletzt verlässt er das Gebäude durch die Veranda. Im Schulgarten, steht er knieweich im Gras und brüllt: „Daniel, wenn ich dich erwische, aber dann kannst du etwas erleben!“ °°° Ein Lichtstrahl fällt durch die Dachluke und lässt die Staubpartikel im Sonnenlicht tanzen. Zögernd schaue ich mich um. Dunkle Dachbalken und Stützbalken ordnen sich im Raum. Auf der Südseite atmet der Dachraum durch eine runde Öffnung den Duft des Waldes. In der Ecke wartet ein verstaubtes Kasperltheater mit seinen in einer Schachtel ruhenden Puppen auf den nächsten Auftritt. Ich krame und nehme eine Puppe nach der anderen in meine Hand. Der Kasperl ist im Spiel immer lustig, obwohl er keine Eltern hat, nur die Großmutter ist da, und der muss der Kasperl helfen. Noch nie hat jemand erzählt, was mit Kasperls Familie passiert ist, warum er keine Eltern oder Geschwister hat. Er ist eigentlich ein armer Kerl und dennoch lustig und fidel. Dann gibt es den Freund Seppl, ob der auch ein Waisenkind ist? Von der Gretel weiß man ebenfalls nichts Genaues. Eine seltsame Gesellschaft. Die Prinzessin hat im Spiel zumindest einen Vater, die Mutter gibt es nicht. Vielleicht hat die sich in den Jäger verliebt und den König verlassen? , Blödsinn‘, denke ich weiter. , Der Jäger hat sicher nicht soviel Gold wie der König. Hat er mehr Gefühl? Dass das Krokodil keine Familie hat, passt. Ein Krokodil genügt wahrlich und ein Räuber auch. Nur, warum der Räuber ein Räuber geworden ist, das habe ich auch noch nicht heraus gefunden’, sinniere ich. , Ob der Räuber schon als Räuber zur Welt gekommen ist? Als Sohn einer Räuberbraut und eines Räuberhauptmannes, das wäre vielleicht möglich’. Neben dem Kasperltheater liegt eine Matratze, ein paar alte Decken und sogar ein Polster. Ich wundere mich und mache es mir gemütlich. Da entdecke ich Kleidungsstücke von einem Balken hängen. Eine Uniform hängt da, komplett: Jacke, Hose, Ledergürtel mit Pistolentasche. Die Pistolentasche ist leer. Dafür hängt ein Stahlhelm auf dem nächsten Kleiderbügel. Einen Ledergürtel mit der Lederscheide und einem Messer gibt es auch. Es ist zu verlockend, diese Kleidungsstücke nicht anzuprobieren. Noch dazu, wo ich schon die passende Größe habe. Meinen geheimen Platz habe ich aufgegeben. Ich bin bei der hinteren Dachluke über eine Metallleiter in den Schulgarten geklettert und habe diesen beim Seitenausgang verlassen. Obwohl die Kinder aller Klassen mitsamt den Lehrerinnen, dem Schulleiter Hannes Wildhas und den Männern der freiwilligen Ortsfeuerwehr mit meinem Vater vor dem Schulgebäude auf die große Show warten, hat mich niemand bemerkt, als ich an ihnen vorbei schlich. Noch dazu in dieser Aufmachung! Das ist schon seltsam! Eine komplette Uniform aus dem letzten Weltkrieg habe ich an, die Jacke ist mit an den Schultern...